Der organisierte Neonazismus konnte auch 2024 in Niedersachsen nicht viel Wirkungsmacht entfalten. Es fanden überregional fast keine relevanten Versammlungen statt. Der „Heimathof“ in Eschede war jedoch wieder ein Ort für Feiern, Veranstaltungen (bspw. Kampfsport) und internationaler Vernetzung der Neonaziszene. Neue Phänomene sind Gruppierungen vor allem junger Menschen, die mit rechten Symbolen, Parolen oder auch Bedrohungen/Angriffen auf sich aufmerksam machen und dabei von der Erscheinungsform teilweise an die 1990er Jahre erinnern. Die Strukturen wirken bisher noch fluider als die organisierte Neonaziszene, sind aber im öffentlichen Raum auffällig geworden.
Rechte Jugendliche
Dass rechte Jugendliche sich auch in die organisierte Szene begeben, zeigen Beispiele von „die Heimat” früher NPD. Seit ca. zwei Jahren versucht deren Jugendorganisation „Junge Nationalisten” (JN), eine Öffentlichkeitsstrategie, in der sich Ortsgruppen, sogenannte „Stützpunkte“, verstärkt in den sozialen Medien wie Instagram präsentieren. Hier geht es vor allem um Aktivismus und ein kämpferisches Auftreten, mit dem man anschlussfähig für Jugendliche und junge Erwachsene sein möchte. Hierbei wird sich nicht mit dem Namen „JN Stützpunkt XY“ präsentiert, sondern auf den ersten Blick versucht, die Zugehörigkeit zur JN zu verschleiern. Aus diesem Grund, und weil größere Anziehungskraft durch kämpferisch-popkulturelles Auftreten entsteht, werden die Social Media Accounts beispielsweise „HermannsHeide“, „Braunschweig verteidigen“, „Oskars_Osna“ und „Weserems Aktion“ genannt.
Zusätzlich dazu versucht die Bundesspitze der JN mit der Kampagne „Inferno Deutschland“ eine Vorfeldstruktur zur JN zu schaffen. In diesem Kontext lässt sich auch die in diesem Jahr entstandene und mittlerweile gesperrte Instagramseite „Aurich.verteidigen“ verstehen. Hierbei handelte es unserer Einschätzung nach nicht um eine straff organisierte und fest an den Landes- und Bundesverband angebundene JN-Ortsgruppe, aber eine Vorstufe davon. An den geteilten Inhalten wurde eine Nähe zur JN, aber eine politisch weniger „straffe“ inhaltliche Schulung erkennbar. Inwieweit die Personen hier ein gefestigtes Weltbild besaßen ist unklar, aber eine starke Radikalisierung schien bereits vorhanden. Die vielfältige digitale Raumnahme von Rechts nehmen auch viele Bündnisse in anderen Regionen wahr.
Angriffe auf Christopher Street Days (CSD)
Bei den landesweit stattgefundenen CSDs waren wiederum auch Jugendliche bei zahlreichen Störungen, Gegendemonstrationen und Angriffen beteiligt. Ihnen gelang es vor allem durch digitale Präsenz und die Beteiligung an Störaktionen gegen CSDs neue Anhänger*innen zu gewinnen. Queerfeindliche Angriffe und Aktionen haben insgesamt zugenommen und zeigten sich sowohl digital als auch bei körperlichen Angriffen.
Erfreulicherweise bekamen aber auch die CSD Veranstaltungen größeren Zulauf und so konnte bspw. in Burgdorf mit viel mehr Teilnehmer*innen gefeiert werden, als vorher von den Organisator*innen angekündigt. Jedoch gab es auch dort im Vorfeld Störungen und Angriffe.
Musik
Rechte Musikveranstaltungen haben für die Szene eine hohe Bedeutung, sei es für Finanzierung, das gemeinsame Erlebnis, den Zusammenhalt oder/und als Instrument für die Radikalisierung. Für das Jahr 2024 waren wieder Rechtsrockkonzerte in Niedersachsen geplant, die jedoch verhindert werden konnten. In Beesten (Landkreis Emsland) sollte bspw. ein Konzert der Band „Kategorie C“ auf einem Privatgrundstück stattfinden, das die Samtgemeinde durch eine Unterlassungsverfügung unterbinden konnte. Erfreulicherweise hat sich im Nachgang durch das geplante Konzert ein Bündnis gegründet, welches u.a. eine Kundgebung gegen Rechts im Ort organisiert hat. Im August wurde in Bad Bevensen (Kreis Uelzen) das Konzert eines neonazistischen Rapper-Duos durch Polizei wegen fehlender Genehmigung aufgelöst. Organisator war das Label „Neuer Deutscher Standard“. Vor Ort waren sowohl Personen der selbsternannten „Nazibande“ als auch von der Jugendorganisation der AfD.
Für größeres Aufsehen sorgt(e) der Rechtsrockprozess in Lüneburg. Dort stehen fünf Männer vor Gericht, die volksverhetzende Inhalte verkauft haben. Dieser Prozess stellt den bisher größten im Zusammenhang mit Rechtsrock dar.
Ein neues Phänomen im Bereich Musik sind die bundesweiten und somit entsprechend auch in Niedersachsen gemachten Beobachtungen zu den rassistischen Umtextungen des Songs „L’amour toujours“. Hier gab es zahlreiche Vorfälle in Vereinen, Schulen und auf Festen, die verbale rassistische Angriffe im öffentlichen Raum sehr sichtbar machen. Schwerwiegend hinzu kam die Einschätzung einer Jugendrichterin, welche keine Volksverhetzung in den Umtextungen sieht.
Rassismus
Die rassistischen Gesänge haben auch Auswirkung auf Jugendliche und ihr Handeln gezeigt. Beispielhaft dafür steht ein Fall in Krummhörn, bei dem zwei Jugendliche eine Mitschülerin rassistisch beleidigt haben und das umgetextete Lied anstimmten.
In Oldenburg kam es u.a. auf offener Straße zu Angriffen auf eine PoC mit ihrem Säugling, einen weiteren auf eine andere PoC. Dabei wird eine fortschreitende Enthemmung in Teilen der Gesellschaft sichtbar.
Antisemitismus
Auch in diesem Jahr ist schon abzusehen, dass antisemitische Vorfälle im Vergleich zum letzten Jahr nochmals zugenommen haben.
Antisemitismus wurde bei Versammlungen, auf Flugblättern und in sozialen Netzwerken sowohl von extrem rechten, verschwörungsideologischen als auch antiimperialistischen, propalästinensischen oder muslimischen Akteur*innen geäußert. Es zeigt sich erneut, dass der Antisemitismus in der Lage ist, sehr unterschiedliche Akteur*innen zu vereinen und neue Vernetzungen hervorzubringen.
In Niedersachsen gab es zahlreiche Vorfälle. Beispielhaft stehen hier die dokumentierten Vorfälle in Oldenburg. Dort gab es einen Brandanschlag auf die dortige Synagoge, Angriffe auf jüdische Menschen und unterschiedlichste Einschüchterungsversuche. Hier zeigte sich, dass gerade in größeren Universitätsstädten viele Kundgebungen, Versammlungen und Demonstrationen mit antisemitischen Inhalten abgehalten wurden.
Neue Qualität haben die Angriffe auf Orte jüdischen Gedenkens genommen. So wurden bspw. in Seelze (Region Hannover) Stolpersteine gewaltsam entfernt. Zusätzlich gab es wiederholte Schändigungen an der Gedenkstätte Ahlem in Hannover. Dort wurde die „Wand der Namen“ auf dem Außengelände der Gedenkstätte Ziel des Angriffs. An ihr sind die fast 3.000 Namen angebracht, welche zum Gedenken an die Menschen erinnern, die im Nationalsozialismus ermordet wurden. Die dort angebrachten Tafeln wurden beschädigt und mit Gewalt entfernt.
Landwirtschaftliche Proteste
Die sogenannten „Bauernproteste“ waren auch im gesamten Gebiet von Niedersachsen zu beobachten. Hier gab es vermehrt Versuche von undemokratischen Parteien, sich diesen anzuschließen. Eine geplante Beteiligung eines AfD-Politikers als Redner auf einer Landwirt*innen-Demo in Emden am 08. Januar 2024 stieß auf Kritik und führte nach einer Berichterstattung zur Ausladung dieser Person. Der Organisator wusste angeblich nichts von dessen Parteimitgliedschaft, fühlte sich aber von der Presse diffamiert.
Wanderungen
Auch in diesem Jahr haben wieder Wanderungen des extrem rechten Spektrums stattgefunden. Sie erfüllen den Zweck, sich ungestört und unter Ausschluss der Öffentlichkeit miteinander zu vernetzen. Zugleich werden häufig historische Orte ausgewählt, um Bezüge zwischen dem Nationalsozialismus und aktueller rechter Ideologie herzustellen und historische Ereignisse politisch umzudeuten.
Diesmal fand in Niedersachsen u.a. der sogenannte „Leistungsmarsch“ in der Region Hannover (Steinhude) statt. Mitglieder der Neonazi-Gruppierung „Junge Nationalisten“ (JN) und der AfD- Jugendorganisation „Junge Alternative“ (JA) führten den „Marsch“ durch.
Des Weiteren fanden organisierte Wanderungen aus dem Umfeld des „Königreichs Deutschland“ (KRD) bzw. seiner Vorfeldorganisation „Leucht-Turm“ in Osnabrück statt. Die Organisator*innen der dokumentierten Wanderungen waren bekannte Personen aus dem Milieu. Eine Person war bis vor einigen Jahren Inhaber einer Kampfsportschule in Düsseldorf, eine andere „KRD“-Vortragsrednerin. An der Wanderung nahmen auch Kinder teil.
Souveränistisches Millieu
Das souveränistische und reichsideologische Spektrum ist auch darüber hinaus in Niedersachsen aktiv gewesen, versucht vermehrt Personen zu rekrutieren und stellte Mitarbeitende aus Kommunen, Verwaltungen und die engagierte Zivilgesellschaft vor vielfältige Herausforderungen. Im Umfeld der Reichsbürgergruppe „Reuß“ gab es mehrere Festnahmen und Hausdurchsuchungen.
Rechte Raumnahme und Völkische Szene
n einigen Gebieten Niedersachsens kam es zu massiven Stickeraktionen, es wurden Autokorsos und Demos veranstaltet. Des Weiteren sind Bürger*innenrunden von undemokratischen Parteien in vielen Gemeinden abgehalten worden. In Braunschweig versuchten bekannte Neonazis ein Tattoostudio zu eröffnen. Dies wurde aber vor allem durch die aktive Zivilgesellschaft verhindert.
Die völkische Szene ist weiterhin vor allem im Nordosten Niedersachsens aktiv und versucht sich durch ehrenamtliche Tätigkeiten in bestehende Strukturen einzubringen und hierüber Einfluss auf den Sozialraum und die Zivilgesellschaft auszuüben. Schwerpunkt der Ansiedlungen sind die Orte Lüneburg, Uelzen, Celle, Winsen an der Aller oder Buchholz in der Nordheide. Aber auch im Weserbergland, im Raum Wolfenbüttel und vielen weiteren Gebieten warnen zivilgesellschaftliche Gruppen vor den Aktivitäten.
Europawahl
Die Europawahl hat auch in Niedersachsen den Rechtsruck weiter bestätigt.
Die AfD hat in keinem Wahlkreis Stimmverluste hinnehmen müssen, ist aber in Städten wie Braunschweig, Göttingen, Hannover, Lüneburg, Oldenburg oder Osnabrück eher schwach. In anderen Kreise liegen die Ergebnisse für die AfD aber deutlich über dem Bundesdurchschnitt, bspw. in der Stadt Salzgitter mit 22,04 Prozent oder in der Gemeinde Wieda im Harz mit 29,9 Prozent. Von den Ergebnissen lässt sich ablesen, dass die AfD dort in ländlichen Regionen eher schwach abgeschnitten hat, wo die CDU hohe Wahlergebnisse einfahren konnte(bspw. Grafschaft Bentheim, Vechta, Emsland). Rot-Grün erzielten hingegen eher in Städten bessere Ergebnisse. Tendenziell haben aber Grüne in den Kreisen besonders schwach abgeschnitten, wo die AfD hohe Ergebnisse erzielte. Insgesamt war die Wahlbeteiligung sowohl in Stadt als auch Land hoch und höher als bei der letzten Europawahl. In gesamten Land hatten viele Bündnisse und Initiativen zur demokratischen Wahl aufgerufen, um einen weiteren Rechtsruck einzudämmen.
Zivilgesellschaft
So sehr auch der Rechtsruck in der Gesellschaft und Politik voranschreitet, hat sich die Zivilgesellschaft auch in diesem Jahr engagiert und kämpferisch gezeigt. Es fanden an vielen Orten zahlreiche zivilgesellschaftliche Aktivitäten zur Stärkung demokratischer Kultur statt. Bündnisse gegen Rechts, Initiativen für Menschenrechte und zahlreiche „Omas gegen Rechts“ Gruppen sorgen mit ihrem Engagement für Sichtbarkeit menschenrechtsorientierter Positionen und wirken gegen die extreme Rechte.
Die Correctiv- Recherchen haben zudem auch in Niedersachsen ihre Wirkung gezeigt. Einerseits haben sie den Rassismus offengelegt, vor dem viele Engagierte seit Jahren warnen – anderseits haben sie auch Teilen der demokratischen Zivilgesellschaft neue Impulse und Auftrieb gegeben.