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NRW 2024 „Autoritäre Dynamiken“ und zivilgesellschaftliche Proteste

Die Ausstellung „Stopp. Zuhören. Begegnen – Eine künstlerische Intervention zu Geschichte und Gegenwart von Erinnern und Handeln zu rechter Gewalt in Nordrhein-Westfalen“ in Dortmund wird 2025 auch an anderen Orten zu sehen sein. (Quelle: Eva Grütgen)

Die Einladung, mit der Helmut Birke, Sprecher des AfD-Kreisverbands Münster und Florian Elixmann, Vorsitzender AfD-Bezirksverbands Münster zum Neujahrsempfang ihrer Partei am 16. Februar 2024 ins Historische Rathaus der Stadt zu mobilisieren versuchten, war an Pathos und trotziger Selbstinszenierung kaum zu überbieten. Es sei nun „Zeit für Standhaftigkeit, Mut und Zusammenhalt.“ Als „Gemeinschaft von Gleichgesinnten“ werde man sich „nicht unterkriegen lassen.“ Die AfD sei „die einzige Partei, die sich gegen die links grüne Politik“ stemme und solle daher, so Birke und Elixmann, „zum Schweigen“ gebracht werden. Unter dem Motto „Jetzt erst recht!“ versprachen die beiden ihren Parteifreund*innen einen „großartigen gemeinsamen Abend.“

Davon konnte dann freilich aus der Perspektive der AfD und ihrer Anhänger*innen nicht die Rede sein. Ralf Pöhling, Mandatsträger der AfD in der Bezirksvertretung Münster-Südost, sprach im Zusammenhang mit dem Geschehen rund um den Neujahrsempfang von „Chaos“ angesichts Tausender Gegendemonstrant*innen, die sich dicht gedrängt rund um das Historische Rathaus, in den angrenzenden Straßen und auf dem nahegelegenen Domplatz versammelt hatten, um lautstark gegen die Veranstaltung zu protestieren. Doch nicht nur das: Pöhling lamentierte in einem auf der Website des Kreisverbands Münster veröffentlichten Bericht, dass einige AfD-Anhänger*innen „für längere Zeit spurlos im Gedränge vor der Tür“ verschwunden seien und „zunächst nicht mehr auffindbar“ waren. Zahlreiche angemeldete Gäste hätten das Rathaus überhaupt nicht mehr erreicht, nicht zuletzt der als Redner vorgesehene AfD-Landesvorsitzender Martin Vincentz.

Nach den Correctiv-Recherchen: Breite Protestwelle gegen die AfD

Tatsächlich dürften es rund 30.000 Menschen gewesen sein, die am Abend des 16. Februar 2024 dem Aufruf des Bündnisses Keinen Meter den Nazis gefolgt waren, um ihrem Unmut über die völkisch-autoritären, rassistischen, queerfeindlichen und antifeministischen Positionen der AfD Luft zu machen. Dabei stieß die Partei mit den von ihr organisierten Neujahrsempfängen im Historischen Rathaus immer schon auf massive Gegenproteste, an denen sich Tausende beteiligten. Doch in diesem Jahr hatte der Widerspruch eine bislang unerreichte Intensität, so dass alleine die schiere Menge an Demonstrant*innen phasenweise zu einer Blockade der Veranstaltung führte, ohne dass dazu explizit aufgerufen worden wäre.

Ein entscheidender Mobilisierungsfaktor, der dazu führte, dass nicht nur antifaschistische und zivilgesellschaftliche Initiativen zu den Protesten aufriefen, sondern auch rund 30 Bürgermeister*innen aus dem Münsterland ankündigten, an der Kundgebung des Keinen Meter den Nazis-Bündnisses teilzunehmen, waren zweifellos die Mitte Januar 2024 veröffentlichten Correctiv-Recherchen, die über die rassistischen Abschiebe- und Deportationsphantasien einiger Unternehmer*innen, Vertreter*innen der WerteUnion, und führender AfD-Funktionär*innen berichteten, die im November 2023 u.a. auf Einladung des extrem rechten Düsseldorfer Zahnarztes Gernot Mörig in Potsdam zusammengekommen waren. Wie überall in der Bundesrepublik fanden auch in NRW vor allem zwischen Januar und April, Dutzende von Demonstrationen und Kundgebungen statt, die sich im weitesten Sinne gegen „Rechtsextremismus“ richteten und wie in Düsseldorf am 27. Januar 2024 bis zu 100.000 Menschen auf die Straße brachten. Bemerkenswert war jedoch die große Zahl an kleineren Städten und im ländlichen Raum gelegenen Gemeinden, in denen ebenfalls teilweise mehrere Tausend Menschen zusammenkamen.

Wie in Münster richteten sich die Demonstrationen an mehreren Orten dezidiert gegen Veranstaltungen der AfD, so etwa gegen deren Bundesparteitag in Essen, Ende Juni 2024, an denen sich bis zu 70.000 Menschen beteiligten. Einige Wochen zuvor hatten rund 4.500 Personen gegen den Kreisparteitag der Kölner AfD protestiert. Aber auch im ländlichen Raum riefen die Aktivitäten der Partei Widerspruch hervor. In Nottuln-Appelhülsen, einer 20 Kilometer westlich von Münster gelegenen Gemeinde kam es vor einer Kneipe, die von der AfD anlässlich der Europawahl im Juni und der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen  im September für Wahlpartys genutzt wurde, wiederholt zu Gegenkundgebungen. Im März 2024 sagte die Partei eine Veranstaltung in deren Rahmen der Vorstand des AfD-Kreisverbandes Coesfeld hätte gewählt werden sollen, aus „Sicherheitsgründen“ ab, als 250 Menschen vor der Kneipe protestierten.

Diese Schlaglichter, wie auch die Beobachtung, dass überall in NRW in Folge der Correctiv-Veröffentlichungen zahlreiche Bündnisse, Runde Tische und Initiativen „gegen Rechts“ neu entstanden oder reaktiviert wurden, sind zweifellos positive und ermutigende Aspekte in der Rückschau auf das Jahr 2024. Gleichwohl bleibt mit Blick auf die vergangenen Monate festzuhalten, dass die unterschiedlichen Strömungen der extremen Rechten nicht zuletzt vor dem Hintergrund „autoritärer Dynamiken“ in der gesamten Gesellschaft, wie sie etwa die Leipziger Autoritarismusstudie 2024 konstatiert, keineswegs geschwächt oder in die Defensive geraten sind.

Die AfD zwischen Querelen und Konsolidierung

Die AfD zeigte sich auch in NRW nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen allenfalls für einen kurzen Moment verunsichert, um dann den rassistischen Topos von der „Remigration“ weitgehend offen und unverhohlen zu postulieren. Insofern wirkten auch die Versuche des Landesvorstands der Partei um ihren Vorsitzenden Martin Vincentz, den Einfluss des dezidiert völkischen Flügels um den Bundestagsabgeordneten und Dortmunder Ratsherren Matthias Helferich und die Nachwuchsorganisation Junge Alternative zu begrenzen und den Eindruck eines „seriös“ konservativ auftretenden Landesverbandes zu vermitteln, wenig glaubwürdig. So bemühte sich Vincentz zwar, Helferich die Mitgliederrechte zu entziehen – mit bislang offenem Ausgang – musste jedoch hinnehmen, dass der gut vernetzte und mit der Jungen Alternative eng verbundene Rechtsanwalt auf dem Landesparteitag in Marl im Februar 2024 als Beisitzer in den Landesvorstand gewählt wurde. Im November 2024 nominierte ihn der Dortmunder Kreisverband schließlich zum Direktkandidaten für die Bundestagswahl im Februar 2025. Diese parteiinternen Querelen sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vincentz Haltung in Personalfragen an anderer Stelle keineswegs durch einen grundsätzlichen Abgrenzungskurs gegenüber den Protagonist*innen des Rechtsaußen-Flügels seiner Partei geprägt ist, worauf auch der Fachjournalist Rainer Roeser in einem Beitrag für die antifaschistische Zeitung Lotta hinweist.

Extrem rechtes Agendasetting

Erst recht unglaubwürdig erscheint der vermeintlich „gemäßigte“ Kurs, im Hinblick auf die tatsächlich vertretenen inhaltlichen und programmatischen Positionen. Dies zeigten nicht zuletzt die zahlreichen Aktivitäten der Partei im Kontext der Europawahlen im Juni 2024, aber auch darüber hinaus. Die AfD griff nahezu sämtliche extrem rechte Themen- und Kampagnenfelder auf und versuchte gesellschaftliche Konfliktfelder in autoritär-populistischer, meist ethnisierender Rhetorik innerhalb wie außerhalb parlamentarischer Gremien zu zuspitzen. Dabei zeigte die AfD wie schon in den vergangenen Jahren wenig Berührungsängste mit anderen, bisweilen weit im extrem rechten Spektrum und in verschwörungsideologischen Szenen verankerten Akteur*innen.

Dies bedeutete indessen nicht, dass die Partei mit ihrem Agendasetting und ihren Vereinnahmungsversuchen immer erfolgreich war. Beispielsweise blieben die Versuche, Anfang Januar 2024 die Proteste von Landwirt*innen gegen die von der Bundesregierung angekündigten Subventionskürzungen aufzugreifen und die AfD als vermeintlich einzig authentische „Bauernpartei“ zu präsentieren, zumindest in Nordrhein-Westfalen weitgehend ohne Resonanz.

Zum ideologischen Repertoire gehörte weiterhin die Leugnung des menschengemachten Klimawandels sowie die Polemik gegen die Förderung und den Ausbau erneuerbarer Energien. Im August 2024 rief etwa die AfD im ostwestfälischen Detmold zu einer Demonstration gegen den Bau von mehreren Windkraftanlagen in Sichtweite des von der Partei als „Symbol deutscher Geschichte und Identität“ verklärten Hermannsdenkmal auf, das, so der AfD-Bezirksverband Ostwestfalen-Lippe durch die geplanten Windräder „optisch verzwergt“ würde. Reaktionäre umwelt- und klimapolitische Vorstellungen verknüpften sich hier mit nationalistischen Geschichtsbildern.

Antifeministische Mobilisierungen

Antifeminismus und Queerfeindlichkeit bildeten ebenfalls ein zentrales Agitationsfeld der Partei und ihres Umfelds. Als eine der tonangebenden Figuren firmierte hier Irmhild Boßdorf, die als stellvertretende Sprecherin des Kreisverbandes Rhein-Sieg amtiert und im Juni 2024 ins Europäische Parlament gewählt wurde. In ihrer Bewerbungsrede für ihre Nominierung hatte sie auf dem Bundesparteitag der AfD in Magdeburg im Sommer 2023 „millionenfache Remigration“ zu ihrer zentralen Forderung erhoben. Im Juni und Juli 2024 trat sie in Dortmund und Siegburg bei Veranstaltungen, die sich mit antifeministischen und queerfeindlichen Positionierungen gegen das Selbstbestimmungsgesetz richteten, als zentrale Rednerin auf.

An beiden Veranstaltungen nahm auch ihre Tochter Reinhild Boßdorf teil, führende Aktivistin der extrem rechten und antifeministischen Frauengruppe Lukreta, die 2019 aus der Identitären Bewegung hervorgegangen ist. Die enge Verzahnung von AfD, Junger Alternative und dem Spektrum der Identitären zeigte sich nicht nur bei diesen Anlässen. Im März 2024 organisierte Lukreta in Euskirchen nunmehr zum dritten  Mal einen „europäischen Frauenkongress“, an dem neben Irmhild Boßdorf auch die AfD-Bundestagsabgeordnete Christina Baum und Maximilian Krah, damals noch Spitzenkandidat der AfD für die Wahlen zum Europäischen Parlament neben extrem rechten Sprecher*innen aus Frankreich, Rumänien, Tschechien und der Schweiz teilnahmen. Ein weiterer von Lukreta organisierter Frauenkongress, bei dem erneut Irmhild Boßdorf auftrat, fand Anfang November in Overath statt.

Wechselseitige Bezugnahmen und gegenseitige Unterstützung gab es auch im Rahmen seit 2023 geführten „Stolzmonat“-Kampagne, die vor allem über Social-Media-Kanäle den Pride Month attackierte, massenhaft queerfeindliche Propaganda verbreitet und den Hass gegen LGBTQIA+ schürt.  Im Juli 2024 führte nach Angaben der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Köln die aus der Identitären Bewegung hervorgegangene Gruppierung Revolte Rheinland in Siegburg einen queerfeindlichen Infostand durch.

Anfang August traten am Rande der Pride in Essen Aktivist*innen aus dem Umfeld von Lukreta mit queerfeindlichen und antifeministischen Plakaten in Erscheinung. Im Vorfeld des Kölner CSD tauchten „Stolzmonat“-Sticker der Jungen Alternative im Kölner Agnes-Viertel auf. Dieser propagandistisch gesetzte Referenzrahmen trug dazu bei, dass im Jahr 2024 die Zahl der manifesten Drohungen gegen und Übergriffe auf Pride-Demonstrationen deutlich zunahm. In Köln attackierten im Juli rund 12 schwarz gekleidete Personen den CSD, rissen Regenbogenfahnen ab und skandierten queerfeindliche Parolen. Gleichzeitig gab es eine massive Drohung gegen den die Pride aus dem islamistischen Spektrum. Gegen den CSD in Dortmund demonstrierten rund 50 Neonazis, nachdem der extrem rechte bundesweite Zusammenschluss Störtrupp Deutschland (DST) wie schon zuvor in anderen Städten zu Protesten aufgerufen hatte. In Haltern kam es am Rande des CSD zu queerfeindlichen Stickeraktionen.

Ein weiterer Kristallisationspunkt antifeministischer Agitation, der unterschiedliche Spektren der extremen Rechten zusammenbrachte, bildete der im September vom Bundesverband Lebensrecht organisierte „Marsch für das Leben“ in Köln, an dem neben verschiedenen lokalen und regionalen Funktionsträgern der AfD, auch Mitglieder extrem rechter Studentenverbindungen und mindestens ein Aktivist von Revolte Rheinland teilnahmen. Die Fachstelle „Spotlight – Antifeminismus erkennen und begegnen” urteilt in einer Einschätzung: „Insgesamt wird einmal mehr deutlich, dass Antifeminismus eine gesellschaftliche Scharnierfunktion zwischen christlichen FundamentalistInnen, Konservatismus und der extremen Rechten einnimmt. […] Neben dem Thema Schwangerschaftsabbruch ist auch eine queerfeindliche Haltung thematische Brücke zwischen den Teilnehmenden bis hin zu extrem rechten AkteurInnen – die Abgrenzung fehlt!“

„Normalisierung“ des Rassismus

Rassistische Agitation bildete einen weiteren Kern spektrenübergreifende Mobilisierungen, in denen sich nicht zuletzt die AfD als zentrale Akteurin zu profilieren versuchte. Dies geschah freilich vor dem Hintergrund zunehmend repressiver und ressentimentgeladener gesamtgesellschaftlicher Diskurse um Flucht, Migration und Integration, die sich nach dem offenkundig islamistisch motivierten Messerangriff auf Anhänger*innen der islamfeindlichen und rechtspopulistischen „Bürgerbewegung Pax Europa” in Mannheim im Mai 2024, bei der ein Polizist getötet wurde und in Folge des ebenfalls mutmaßlich islamistischen Anschlags auf ein Stadtfest in Solingen im August, bei dem drei Menschen ums Leben kamen weiter zuspitzten. In diesem Zusammenhang setzte unter politisch Verantwortlichen, Vertreter*innen demokratischer Parteien und in großen Teilen der Medien ein regelrechter Überbietungswettbewerb im Hinblick auf Vorschläge zur Umsetzung repressiver migrationspolitischer Vorschläge ein, der rhetorisch und inhaltlich dazu beitrug, einer Normalisierung der rassistischen Grundpositionen der AfD, in denen die Themen „Migration“ und „Kriminalität“ in demagogischer Weise notorisch miteinander verknüpft sind, weiter Vorschub zu leisten.

Die Begleitmusik dazu lieferte schon seit Beginn des Jahres die rassistische Adaption des Party-Hits L’amour toujours von Gigi D’Agostino, der bei zahlreichen Karnevalsumzügen in NRW etwa im ostwestfälischen Drolshagen oder im  münsterländischen Saerbeck aber auch bei anderen Gelegenheiten im Laufe des Jahres, wie beispielsweise einem Schützenfest in Mönchengladbach gegrölt wurde.

In diesem gesellschaftlichen und politischen Klima war die AfD bemüht, „Remigration“ als scheinbar legitimes politisches Konzept in den öffentlichen Diskursen zu etablieren, nicht zuletzt im Rahmen von sogenannten ‚Bürgerdialogen‘, die im Laufe des Jahres an zahlreichen Orten in NRW, beispielsweise in Essen Bottrop, Gelsenkirchen, Aachen, Witten und Gladbeck stattfanden –  oftmals begleitet von massiven Gegenprotesten. Auf perfide Weise versuchten AfD und Junge Alternative auch den tödlichen Angriff auf den 20jährigen Philippos Tsanis im Kurpark von Bad Oeynhausen im Juni 2024 zu nutzen, indem sie eine Mahnwache durchführten, bei der Aktivist*innen der JA mit einem Transparent „Remigration! Abschieben rettet Leben.“ posierten.

In Solingen versuchte sich die Junge Alternative nach dem Anschlag auf das Stadtfest in ähnlicher Manier in Szene zu setzen. Zu einer von ihr angemeldeten Kundgebung kamen indessen nur rund 40 Teilnehmer*innen, die sich mit lautstarkem Widerspruch konfrontiert sahen. An zahlreichen Orten versuchte die Partei sich an die Spitze von Protesten gegen Geflüchtetenunterkünfte zu setzen oder dieser weiter zuzuspitzen, so etwa in Düsseldorf im März 2024. In Geilenkirchen mobilisierte die AfD im Mai mit sogenannten ‚Bürgerbriefen‘ gegen eine Unterkunft für Geflüchtete.

Selbstinszenierung als „Gegenelite“

Vor dem Hintergrund einer rassistischen Agenda inszeniert sich die Partei gern als Sprachrohr und Anwältin der vermeintlich „kleinen Leute“ und gibt sich als eine Art „Bürgerrechtsbewegung“ aus. Die Protagonist*innen treten stelen sich als„Gegenelite“ zum verhassten „Establishment“ und zu den „Altparteien“ dar, aber auch in Opposition zu Kultureinrichtungen, wie Theatern, Museen und Kulturzentren.

Damit blieb die AfD auch für große Teile des verschwörungsideologischen Spektrums sowie die verbliebenen Milieus der organisierten Pandemieleugner*innen und Impfgegner*innen eine bedeutsame Verbündete, die wiederum in diesen Szenen Resonanzräume suchte und fand – mit schrillen Urteilen im Hinblick auf die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Pandemie ebenso wie mit vordergründigen Friedenspolitischen Forderungen im Kontext des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, hinter denen jedoch immer wieder eine unverkennbaren Nähe zum autoritären Putin-Regime aufschien.

Feste Wähler*innenbasis

Mit dieser Agenda verknüpft mit einem massiven – freilich nicht nur von der AfD betriebenen – Ampelbashing konnte die Partei bei der Europawahl durchaus punkten. In NRW holte sie 12,6 Prozent der Stimmen. Damit lag sie zwar unter dem bundesweiten Gesamtergebnis von 15,9 Prozent, erreichte aber 4,1 Prozent mehr als bei der Europawahl 2019. Ihr Landtagswahlergebnis von 2022 konnte sich sogar um 7,4 Prozent übertreffen. Insgesamt votierten in NRW rund 1,05 Millionen Stimmberechtigte für die AfD. Ihre besten Ergebnisse erzielte die Partei, wie schon bei den vergangenen Wahlen im Ruhrgebiet, 21 Prozent in Gelsenkirchen, 18 Prozent im angrenzenden Herne, 17,6 Prozent in Hagen oder 16,7 Prozent in Duisburg. Aber auch im Märkischen Kreis (17 Prozent), im Kreis Lippe (16,6 Prozent), im Kreis Herford (16,3 Prozent) und im Oberbergischen Kreis (16,2 Prozent), wo die Partei in einzelnen Stimmbezirken sogar über 30 Prozent erreichte, war die AfD erfolgreich.

Die Wahlen bestätigten erneut die Feststellung, dass die AfD auch im bevölkerungsreichsten Bundesland, in dem über Jahrzehnte hinweg extrem rechte Parteien lediglich auf kommunaler Ebene punktuelle Erfolge erzielen konnten, mittlerweile über eine gefestigte Stammwähler*innenschaft verfügt, die die Partei nicht aus einer diffusen Proteststimmung heraus wählt, sondern auf Basis politischer und weltanschaulicher Überzeugungen, die wiederum durch autoritäre Dynamiken in der „Mitte der Gesellschaft“, der damit einhergehenden Verschiebung von Sagbarkeiten und einer zunehmend enthemmten politischen Rhetorik eine stetige Normalisierung erfahren. Zudem setzte sich im Jahr 2024 trotz aller parteiinternen Querelen, bei denen es kaum um inhaltliche Debatten, sondern vielmehr um Machtfragen geht und ungeachtet der vom OVG Münster im Juli 2024 bestätigte Einstufung der Partei als „rechtsextremer Verdachtsfall“ durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, die Konsolidierung der AfD fort. Sie firmiert gleichsam als Magnet, um den sich unterschiedliche Spektren der extremen Rechten – Aktivist*innen der (ehemaligen) Identitären Bewegung ebenso wie Angehörige reaktionärer Studentenverbindungen, Querdenker*innen und Verschwörungsgläubige, gruppieren.

Kampfsport, Wandern, Pyrotechnik – Neue Entwicklungen im Neonazismus

Dennoch erschöpft sich der Blick auf die extreme Rechte in NRW keineswegs auf die AfD und ihr Umfeld. Im Gegenteil: die hier festverankerten neonazistischen Strukturen befinden sich zwar seit einigen Jahren im Umbruch, in einzelnen Regionen entwickelten und konstituierten sich jedoch neue Netzwerke und Gruppierungen.

Zu nennen ist hier beispielsweise die Rheinlandbande, die sich Beobachtungen der Antifaschistischen Recherche Oberberg zufolge, innerhalb weniger Monate von einem eher losen Zusammenhang junger Männer, mit Neonaziattitüde zu einer organisierten Gruppe im Umfeld der Jungen Nationalisten, der Jugendorganisation der extrem rechten Partei Die Heimat (vormals NPD) entwickelt haben, die vorwiegend im Rhein-Sieg-Kreis aktiv ist. An diesem Radikalisierungsprozess war offenkundig die langjährige Neonaziaktivistin Melanie Dittmer maßgeblich beteiligt. Sie gehört aktuell dem „Freundeskreis Westerwald” an, der mit der „Rheinlandbande” im Laufe des Jahres mehrere Aktionen, vor allem Wanderungen, Banner- und Pyrotechnikaktionen und Kampfsporttrainings sowie Zeltlager mit paramilitärischen Übungen durchgeführt hat. Rheinlandbande und Freundeskreis Westerwald sind augenscheinlich zur vergleichsweise neuen Szene der zunächst in den USA entstandenen Active Clubs zu rechnen – regional verankerte Gruppierungen, die durch Kampfsportangebote vor allem (männliche) Jugendliche und Erwachsene ansprechen wollen, um Vorbereitungen für den halluzinierten und immer wieder beschworenen angeblich bevorstehenden „Rassenkrieg“ zu treffen.

In Ostwestfalen wiederum trat im Laufe des zurückliegenden Jahres mehrfach die Gruppierung Freischar Westfalen mit Pyrotechnik- und rassistischen Banneraktionen in Erscheinung, die in Form von kurzen Clips über Social Media Kanäle (X, Instagram und TikTok) sowie über Telegram verbreitet wurden. Stil und Habitus der Freischar erinnern dabei stark an das Auftreten der Identitären Bewegung. Mit ihrer Selbstbezeichnung nehmen sie, worauf das „Recherche Kollektiv Ostwestfalen hinweist, Bezug auf die paramilitärischen, antidemokratischen, nicht selten antisemitisch orientierten Freikorps in der Frühzeit der Weimarer Republik, die mit massiver Gewalt u.a. gegen linke und revolutionäre Arbeiter*innen vorgingen. Die insgesamt sieben Banneraktionen die das Recherchekollektiv bis Ende September 2024 registrierte, richteten sich, nicht zuletzt im Kontext der „Stolzmonat“-Kampagne gegen queere Lebensentwürfe, nahmen positiven Bezug auf die rassistischen Ausschreitungen in Großbritannien im August und versuchten den mutmaßlich islamistischen Anschlag auf das Stadtfest in Solingen für „Remigrations“-Parolen zu instrumentalisieren.

Im September 2024 führte die Freischar eine gemeinsame Aktion mit der Neonazigruppe „Aktion Hermannsland” vor der Kulisse des Hermannsdenkmals in Detmold durch, wo sie ein Banner präsentierten, dass auf das Scheitern der osmanischen Belagerung Wiens in der Schlacht am Kahlenberg im Jahr 1683 Bezug nimmt. Die Aktion Hermannsland entstand 2021 und fiel nach Angaben des Recherchekollektivs in jüngster Zeit vor allem durch Störaktionen bei Kundgebungen gegen rechts in Detmold und Horn auf. Eine dritte Gruppe in diesem in der Region aktiven, zwischen Neonazismus und Identitärer Bewegung angesiedelten Spektrum bezeichnet sich als „Westfalens Erben”, die aus der Bielefelder Ortsgruppe der Identitären Bewegung hervorgegangen ist.

Im November 2024 kam es indessen zu Hausdurchsuchungen bei mutmaßlichen Mitgliedern der drei Gruppen, bei denen Messer, Reizgas, ein Luftdruckgewehr, Pyrotechnik und Propagandamaterial sichergestellt wurde. Kurz darauf gab die Aktion Hermannsland ihre Auflösung bekannt. Das „Recherche Kollektiv Ostwestfalen” bewertet die Selbstauflösung jedoch als vor allem taktisch motiviertes Manöver, um weiterer staatlicher Repression zu entgehen.

„Nationale Freiräume“ in der Provinz? Der III. Weg im Siegerland

Im Siegerland ist die neonazistische Kleinstpartei Der III. Weg auch weiterhin aktiv und verfügt seit 2022 im Zentrum der Kleinstadt Hilchenbach (Kreis Siegen-Wittgenstein) über einen Stützpunkt, der wie schon in den Jahren zuvor als Ausgangspunkt für verschiedene – meist nicht besonders gut besuchte – Veranstaltungen, wie Vorträge, Liederabende und Versammlungen firmiert. So fand etwa im August 2024 in Hilchenbach eine vom III. Weg organisierte Kundgebung gegen „Linksextremismus“ statt, an der sich rund 45 Neonazis beteiligten. Bereits am 20. April – das Datum war wohl kaum zufällig gewählt – hatte die Partei ebenfalls in Hilchenbach eine Kundgebung für „nationale Freiräume“ durchgeführt. Hintergrund dafür bilden die Versuche der Stadt, dem III. Weg juristisch die Räumlichkeiten zu entziehen. Darüberhinaus veranstaltete die Partei mittlerweile zum sechsten Mal einen so genannten ‚Tag der Heimattreue‘. Außerhalb von Hilchenbach traten deren Anhänger*innen zusammen mit anderen Neonazis von Die Heimat bei einer extrem rechten Demonstration nach dem Anschlag in Solingen im August in Erscheinung. Obgleich es dem III. Weg in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, im Sauer- und im Siegerland die eigene Basis in nennenswerter Weise zu vergrößern, ist das Droh- und Gewaltpotenzial, das von dieser Partei ausgeht und die gezielt den Bürgermeister von Hilchenbach und engagierte Akteur*innen der Zivilgesellschaft in den Fokus nimmt, nicht zu unterschätzen.

Tatsächlich „zerschlagen“? Die Dortmunder Neonaziszene

Die vergangenen Jahre waren für die Dortmunder Neonaziszene von Stagnation, bedingt durch Wegzüge führender Kader, staatliche Repression und anhaltenden antifaschistischen wie zivilgesellschaftlichen Widerstand geprägt. Größere Aufmärsche und Kundgebungen fanden im zurückliegenden Jahr nicht statt. Allerdings sorgten Neonazis mit einer transfeindlichen Banneraktion im Juni 2024 während der Fußballeuropameisterschaft der Männer für Aufsehen. Im September wurde aus dem gleichen Umfeld dazu aufgerufen, den CSD zu stören. Außerdem scheint sich ein neuer aktiver Kern vorwiegend junger Aktivist*innen zu formieren, worauf nicht zuletzt die Gründung einer Ortsgruppe der Jungen Nationalisten hindeutete. Die internationalen Vernetzungen der Dortmunder Neonaziszene scheinen auch weiterhin zu bestehen. Im Februar 2024 reiste eine rund zehn Personen umfassende Delegation zum geschichtsrevisionistischen „Lukov“-Marsch in die bulgarische Hauptstadt Sofia. Kurz zuvor hatten Dortmunder Neonazis bereits an den extrem rechten Gedenkveranstaltungen am „Tag der Ehre“ in Budapest teilgenommen.

Die in einer Pressemitteilung der Dortmunder Polizei im November 2024 aufgestellte Behauptung, die Neonaziszene in der drittgrößten Stadt Nordrhein-Westfalens sei weitgehend zerschlagen, erscheint indessen angesichts der auch in diesem Jahr dokumentierten Aktivitäten ziemlich fragwürdig. Zudem verbreiten die verbliebenen wie auch die sich neu formierenden Aktivist*innen in ihrem Habitus und Auftreten eine Aura der Gewalt, die nicht zuletzt für jene, die im Fokus extrem rechter Feindbildprojektionen stehen, ein massives Bedrohungspotential bedeutet.

Gewaltaffine rechte Mischszenen

Diese Beobachtung gilt ebenso für die Steeler Jungs, einer seit 2017 schwerpunktmäßig im Essener Stadtteil Steele bestehenden Gruppierung, die sich aus rechtsoffenen Rockern, Hooligans und Neonazis zusammensetzt und bemüht ist, sich als „Bürgerwehr“ zu inszenieren. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Übergriffen und Drohungen von Angehörigen, die sich gegen zivilgesellschaftliche Akteur*innen richteten. Im Juni 2024 versuchte einige von ihnen bei einem Demokratiefest auf den Ruhrwiesen in Essen, das sich gegen soziale Ausgrenzung, Rassismus und Rechtsextremismus richtete, durch demonstrative Präsenz zu provozieren.

Zu einem Treffpunkt einer extrem rechten, gewaltaffinen Mischszene entwickelte sich im Lauf des Jahres auch die Kneipe „Linie 5“ in Bochum, die rechte Hooligans des VfL Bochum ebenso anzieht wie Aktivisten des bereits erwähnten Deutschen Störtrupp (DST), der am Rande von CSD-Veranstaltungen wiederholt mit queerfeindlichen Aktionen in Erscheinung trat. Auch in dieser Szene bestehen Verbindungen zu den Steeler Jungs. Im Juni 2024 fand in der „Linie 5“ ein Konzert der RechtsRock-Band Kategorie C statt, das im Laufe des Abends von der Polizei aufgelöst wurde. Manfred Pöppe von der Antifaschistischen Linken Bochum bewertet die Kneipe als „Schauplatz extrem rechter Machtdemonstrationen“. Die Anwesenheit von Neonazis und anderen extrem rechten Akteur*innen sei kein Zufall, „sondern Teil einer gezielten Strategie, rechte Strukturen in Bochum zu festigen.“

Worte und Taten – alltägliche Rechte Gewalt

Doch blieb es auch im Jahr 2024 nicht nur bei extrem rechten Machtdemonstrationen oder den Versuchen extrem rechter Akteur*innen, sich durch Präsenz, martialisches Auftreten und gewaltaffinen Habitus öffentliche Räume anzueignen. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem entgrenzte Rhetoriken und Ideologien der Ungleichwertigkeit augenscheinlich eine zunehmende Normalisierung erfuhren, folgten auf Worte allzu oft Taten.

Im Juli 2024 wurde beispielsweise in Neunkirchen-Seelscheid (Rhein-Sieg-Kreis) ein rassistisch motivierter Brandanschlag auf ein Restaurant verübt. Die zwei Betreiber des Lokals konnten sich nur mit Glück aus dem brennenden ersten Stockwerk des Gebäudes retten, erlitten dabei aber schwere Verletzungen. An der Fassade des Hauses waren rassistische Parolen geschmiert worden. Nach Angaben der Antifaschistischen Recherche Oberberg konnten bisher keine Täter*innen ermittelt werden. Im selben Ort war es ebenfalls im Juli zu einem rassistischen Übergriff gekommen, bei dem auch ein Schuss aus einer Druckluftpistole abgegeben wurde.

In verschiedenen Städten und Gemeinden kam es zu Übergriffen im Umfeld von Geflüchtetenunterkünften. Im Februar warfen beispielsweise zwei Männer Steine auf eine kommunale Unterbringungseinrichtung in Herne und skandierten dabei rassistische Parolen. Im April brannte es in einer Unterkunft in Hamminkeln (Kreis Wesel). Im April brach in Grevenbroich ein Feuer in einer Turnhalle aus, die von Geflüchteten aus der Ukraine bezogen werden sollte.

Der schlimmste Brandanschlag ereignete sich jedoch im März auf ein Wohnhaus in Solingen, bei dem eine Familie aus Bulgarien, die 28 und 29 Jahre alten Eltern sowie deren drei Jahre und fünf Monate alten Kinder ums Leben kamen. Auch wenn die konkreten Motive des Täters nach wie vor unklar sind, war doch bemerkenswert, mit welcher Eile Ermittlungsbehörden und politische Vertreter*innen einen extrem rechten und rassistischen Hintergrund der Tat ausschlossen.

Die antifaschistischen Zeitschrift Lotta listete im zurückliegenden Jahr zudem ein ganze Reihe von Übergriffen auf, die sich in öffentlichen Verkehrsmitteln und scheinbar spontan ereigneten: So attackierten mehrere Männer in einem Bus in Preußisch-Oldendorf (Kreis Minden-Lübbecke) nachdem sie rassistische Parolen skandiert hatten, einen 19-Jährigen, der dabei schwer verletzt wurde. Im August griffen zwei Männer auf einem Volksfest in Paderborn drei Schausteller an  und beleidigten sie rassistisch.

Darüber hinaus macht Lotta darauf aufmerksam, dass in den vergangenen Monaten zahlreiche wohnungslose Menschen aus offenkundig sozialdarwinistischen Motiven mit teilweise großer Brutalität attackiert wurden. Im Mai zündete etwa in Dortmund ein Mann das Nachtlager eines 72-Jährigen an. Bereits im April war ein wohnungsloser Mann im Dortmunder Hafen von einer Gruppe Jugendlicher erstochen worden. In Bonn wurde ein im Bahnhof Schlafender mit Tritten gegen den Kopf angegriffen und beraubt.

Antisemitische Bedrohungen und Übergriffe

Im Jahr 2024 ereigneten sich aber auch zahlreiche antisemitische Vorfälle, Bedrohungen und Übergriffe. Antisemitische Verschwörungsideologien waren und sind weiterhin ein zentraler Bestandteil der Rhetorik und Propaganda in sämtlichen Spektren der extremen Rechten, was nicht zuletzt durch an zahllosen Orte verklebte Sticker deutlich wurde, die das antisemitisch-verschwörungsideologische Narrativ vom „Great Reset“ verbreiten.

Antisemitismus erfuhr aber auch im Kontext der Auseinandersetzungen in Folge der antisemitischen Terroranschläge der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 eine große Verbreitung, mit einschneidenden Auswirkungen. Allein im ersten Halbjahr 2024 registrierte das nordrhein-westfälisch Innenministerium 245 antisemitische Straftaten, im Vergleich zum ersten Halbjahr 2023 war dies in Anstieg um mehr als 85 Prozent. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) in NRW berichtet für das erste Halbjahr 2024 von 65 antisemitischen Vorfällen an Hochschulen, die von beleidigenden Aussagen, über Drohungen bis hin zu Angriffen reichten. Auch für das zweite Halbjahr 2024 sieht RIAS „keine Entschärfung“ der Situation.

Die bei der Jüdischen Gemeinde Dortmund angesiedelte Antidiskriminierungsberatungsstelle ADIRA, die schwerpunktmäßig zum Umgang mit Antisemitismus berät, schreibt, dass die Entwicklungen nach dem 7. Oktober 2023 zu einem „akuten Verlust des Sicherheitsgefühls der jüdischen Communitys in Nordrhein-Westfalen“ geführt haben. Gleichzeitig stellen ADIRA zufolge, „Markierungen wie antisemitische Sticker, Plakate und Graffiti, die in den sozialen Nahräumen von Betroffenen zu sehen sind […] eine zusätzliche Belastung“ dar.

„Bleibende Ankerkennungslücken“ für Todesopfer rechter Gewalt in NRW

Doch nach wie vor werden rechte, rassistische, antisemitische und auf anderen Ungleichwertigkeitsvorstellungen basierende Bedrohungen und Gewalt von Behörden, Politik und der Dominanzgesellschaft gar nicht oder nur unzureichend wahrgenommen und benannt.

Ein Beispiel hierfür lieferte der im September 2024 von NRW-Innenminister Herbert Reul und dem Landeskriminalamt vorgestellte Abschlussbericht des „Projekts zur Klassifikation von Todesopfern rechter Gewalt in NRW (ToreG NRW)“. In der Studie hatte das LKA insgesamt 30 Taten aus den vergangenen Jahrzehnten untersucht, bei denen es Hinweise auf rechte Motivationen der Täter*innen gibt, die jedoch offiziell nicht als „rechtsextremistisch motiviert“ bewertet wurden. In lediglich vier der in dem Projekt so bezeichneten „Grenzfälle“ entschloss sich das LKA zu einer Neubewertung. Der von einem Neonazi verübte Mord an dem Dortmunder Punk Thomas Schulz im März 2005 gilt nunmehr auch offiziell als rechts motivierte Tat. Auch Horst Pulter und Egon Effertz, die 1994 und 1999 aus sozialdarwinistischen Motiven ermordet wurden, werden durch die Studie als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Zudem klassifizierte das LK  den Mord an Anton Gera im Oktober 1997 in Bochum als homofeindliche und somit rechts motivierte Tat.

Bei 26 Taten verneinte das LKA hingegen einen rechten Hintergrund, so etwa bei dem am 26. August 1984 in Duisburg auf ein Wohnhaus verübten Brandanschlag bei dem Ferdane Satır, Çiğdem Satır, Ümit Satır, Songül Satır, Zeliha Turhan, Rasim Turhan, und Tarık Turhan aus dem Leben gerissen wurden. Auch im Hinblick auf die jeweils von Neonazis begangenen Morde an Dagmar Kohlmann im Juli 1995 in Altena und Abdelkader Rhiourhi im Oktober 1992 in Dortmund wollte die Polizei auch in der Rückschau keine rechte Motivation erkennen. Problematisch an der Studie war neben ihrer methodischen Unklarheit, und der fehlenden Einbindung unabhängiger Expert*innen, vor allem die Tatsache, dass sich diese ausschließlich auf Strafermittlungs- und Prozessakten stützte, die Perspektiven der Angehörigen offenkundig aber keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielten, wie die nordrhein-westfälischen Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, Back Up und Opferberatung Rheinland (OBR) in einer gemeinsamen Stellungnahme kritisierten. Insofern sei mit der Studie in NRW eine „wichtige Chance verpasst“ worden. Der Bundesverband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, VBRG, sprach in einer Stellungnahme von „bleibenden Anerkennungslücken für Todesopfer rechter Gewalt in NRW“.

„Recht auf Wahrheit und Aufklärung“

Viele Überlebende und Angehörige reagierten enttäuscht auf die Veröffentlichung der ToreG-Studie und die sich darin spiegelnde weiterhin bestehende staatliche Ignoranz gegenüber ihren Perspektiven und Erfahrungen. Umso wichtiger waren daher auch in diesem Jahr die von Betroffenen und unterstützenden Gruppen und Bündnissen selbst organisierten Aktivitäten, um an die Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zu erinnern, ihre Namen zu nennen und ihre Geschichten zu erzählen. Viele von ihnen haben sich mittlerweile sowohl in NRW als auch bundesweit in einem Netzwerk organisiert, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu stärken und um gemeinsam die Kämpfe um Aufklärung, Anerkennung Gerechtigkeit und Veränderung weiter zu führen. Gedenkveranstaltungen, Gesprächs- und Diskussionsrunden, Bildungsformate, aber auch eindringliche und unmissverständliche Forderungen waren nur einige der Aktivitäten, mit denen das staatliche und dominanzgesellschaftliche Schweigen, Verharmlosen und Ignorieren aufgebrochen werden sollten.

Dies geschah aber auch mit künstlerischen Interventionen. So etwa durch die von den Künstlerinnen Cana Bilir-Meier und Talya Feldman sowie der Kuratorin Chana Boekle gestaltete Ausstellung „Stopp. Zuhören. Begegnen – Eine künstlerische Intervention zu Geschichte und Gegenwart von Erinnern und Handeln zu rechter Gewalt in Nordrhein-Westfalen“ , die im  Juni 2024 erstmals auf dem Mehmet-Kubaşık-Platz in Dortmund gezeigt wurde. Die Ausstellung, die auch im Jahr 2025 an verschiedenen Orten in NRW zu sehen sein wird, ist in enger Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen, Überlebenden und Familien von Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt entstanden, die an der Gestaltung der temporären öffentlichen Skulptur und der damit verknüpften Sound-Installation „Hört mir zu: Dieses Lied ist ein Denkmal“ unmittelbar beteiligt waren. Im Zentrum des Werks stehen ihre Erfahrungen, Kämpfe, Forderungen und Wünsche.

Gamze Kubaşık, Tochter des am 4. April 2006 vom NSU ermordeten Mehmet-Kubaşık sagte anlässlich der Eröffnung des Kunstprojekts: „Wir alle tragen die Verantwortung, Erinnern als konstruktives Handeln zu verstehen. Es muss Orte und Räume geben, in dem das Recht auf Wahrheit und Aufklärung gegeben ist – etwas das mir und meiner Familie jahrelang verwehrt wurde. Gerechtigkeit kann nur geschaffen werden, wenn uns Raum zum Erinnern gegeben wird. Die Begegnung mit vielen solidarischen Menschen, die mit uns gemeinsam für Aufklärung kämpfen, gibt uns Kraft.“

Diese Räume zu schaffen und zu erhalten, sollte nicht nur das Anliegen der Überlebenden und Familien von Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sein. Die Geschichte rechter Gewalt und ihre Auswirkungen sind in ihren Dimensionen nach wie vor kaum in öffentlichen Diskursen kaum präsent. Rechte Gewalt ist aber nicht nur Geschichte, sondern auch Gegenwart, die die Rückschau auf das Jahr 2024 gezeigt hat. Zu befürchten ist, dass sich auch in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2025 die „autoritären Dynamiken“ weiter verschärfen werden. „Konstruktives Handeln“, wie es Gamze Kubaşık fordert, wird im kommenden Jahr notwendiger denn je sein.

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