Das Interview mit Benjamin Winkler, Reichsbürger-Experte der Amadeu Antonio Stiftung, führte Simone Rafael.
Ein Jahr nach den Razzien zum Netzwerk um „Prinz“ Reuss: Wie geht es den Reichsbürger*innen heute? Gibt es sie noch?
Im Monitoring konnten wir nach den Razzien sehen, dass einige der großen, reichweitenstarken Telegram-Kanäle nicht mehr bespielt wurden – entweder, weil die Betreiber in Untersuchungshaft saßen, oder weil Menschen Angst hatten, selbst ins Visier der Behörden zu geraten.
Der Effekt hielt aber leider nicht allzu lange an. Wir haben Reichsbürger*innen auch 2023 auf der Straße gesehen, sie haben Behörden mit Vielschreiberei belästigt, Gewalttaten und Trickbetrügereien begangen. Sie haben bundesweite Netzwerktreffen organisiert. Kurz: Der Abschreckungseffekt der Razzien ist schnell verpufft. Die Szene ist immer noch aggressiv, sie greift weiter den Staat und die Demokratie an.
Was heißt, Reichsbürger*innen waren auf der Straße zu sehen?
Seit der Coronavirus-Pandemie hatten ja Reichsbürger*innen in den „Querdenken“-Demonstrationen ein Betätigungsfeld gefunden. Sie waren da nicht nur beteiligt, sie bilden praktisch die Kernsubstanz, vor allem im ländlichen Raum, und laufen entsprechend weiter auf diesen immer noch existierenden demokratiefeindlichen Demonstrationen mit.
Aber sie machen auch ganz offen eigene Demonstrationen, wie etwa das „Treffen der Bundesstaaten“ in Magdeburg im September 2023, da waren 700 Reichsbürger*innen dabei, darunter Straf- und Gewalttäter. Auf dieser Demonstration war auch gut zu hören: Die Inhaftierten um „Prinz“ Reuss sind für sie „Dissidenten“, da ist keine Distanz zu spüren.
Dazu kommen halbklandestine Versammlungen wie in Wemding in Bayern, wo auf einem Vernetzungstreffen 250 Personen zusammengekommen sein sollen.
Und welche Trickbetrügereien begehen Reichsbürger*innen?
Die perfideste und schmerzlichste Variante sind Reichsbürger-Gruppen, die sich als Jüdinnen*Juden ausgeben und alte jüdische Gemeinden wieder gründen. Das hat praktische Gründe – es ist ein Raumnehmen, und eine Gemeinde lässt sich nicht so leicht angreifen wie eine Reichsbürger-Gruppe. Es ist aber auch Ausdruck einer abwertenden Einstellung, mit dem Ziel, Juden*Jüdinnen zu delegitimieren. Dann geben sich die Reichsbürger als „wahre Juden“ aus – und sprechen allen anderen jüdischen Menschen in Deutschland ab, Jüdinnen*Juden zu sein. Das ist sehr schmerzhaft für Jüdinnen*Juden. Viele Behörden kennen auch Pseudo-Fristen, die ihnen Reichsbürger*innen setzen – unter Androhung hoher Gefängnis- oder Geldstrafen bei Nichtbeachtung.
Und natürlich gehören dazu auch die Pseudo-Banken und die Pseudo-Gesundheitskassen, wie sie Peter Fitzek im Fantasiestaat „Königreich Deutschland“ betreibt. Aber hier gab es ja zuletzt auch Razzien. Die waren längst fällig!
Welche Gewalttaten begeht die Szene?
Vor allem ist es Gewalt gegen Menschen, die aus Dienstgründen mit den Reichsbürger*innen zu tun bekommen – Gerichtsvollzieher*innen etwa. Da kommt es immer wieder zu Freiheitsberaubungen. Die Gerichtsvollzieher*innen werden in die Wohnung gebeten und dann darin festgehalten, bis sie sich „ordentlich ausweisen“ – womit Reichsbürger*innen natürlich keine Dienstausweise der Bundesrepublik meinen, sondern Ausweise ihrer Fantasiestaaten, die die Gerichtsvollzieher*innen nicht besitzen. Wenn Reichsbürger*innen entwaffnet werden sollen, weil sie keine Waffen – mehr – besitzen dürfen, kommt es regelmäßig zu gewalttätigem Widerstand, auch mit Schusswaffengewalt. Ein Prozess um einen Reichsbürger in Boxberg-Bobstadt, der auf Polizist*innen schoss, ist in diesem Jahr mit einer hohen Strafe zu Ende gegangen. Die Mischszene aus Reichsbürger*innen, Preppern und Rechtsextremen hat einen großen Hang zu Waffen und Gewalt.
Die Reichsbürger*innen-Szene ist nach wie vor sehr waffen-affin?
Ja, die Szene liebt Waffen und ist gewaltbereit und sucht den Konflikt mit dem Staat. Sie haben legale Waffen, weil sie sie für den Dienst führen dürfen, Jäger*innen oder Sicherheitsleute sind. Sie haben illegale Waffen aus Beständen der NVA, der Bundeswehr oder noch ältere Waffen. Das sind Nostalgiker, die Kriegswaffen sammeln, die aber noch funktionsfähig sind. Aber es gibt auch Reichsbürger*innen, die Waffen im Darknet kaufen oder sie mit 3-D-Druckern bauen. Deshalb würde ich jede Zahl gefundener Waffen mit Vorsicht behandeln. Es gibt mit Sicherheit mehr Waffen als die bekannten Zahlen des Verfassungsschutzes. Nicht ohne Grund ist jeder Einsatz bei Reichsbürger*innen für die Polizei ein Hochsicherheitseinsatz.
Gibt es Hochburgen der Szene in Deutschland?
Besonders stechen zahlenmäßig Bayern, Sachsen und Thüringen hervor. In anderen Bundesländern sind es bestimmte Regionen, wie Ostwestfalen in NRW. Die meisten Reichsbürger*innen gibt es auf dem Land – aber auch in Dresden haben wir eine lebhafte Szene. Die meisten Reichsbürger*innen gibt es in Süddeutschland und in Ostdeutschland. Andererseits: Reichsbürger*innen haben Überschneidungen mit völkischen Siedler*innen. Die gibt es viele im Norden, in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern.
Was ist der Unterschied zwischen Reichsbürger*innen und völkischen Siedler*innen?
Viele der völkischen Siedler*innen vertreten Reichsideologie, beispielsweise indem sie davon ausgehen, dass die Bundesrepublik ein Besatzungskonstrukt der Alliierten des Zweiten Weltkriegs sei, inhaltlich sind sich beide Gruppen sehr nah. Aber die Praxis, die Behörden mit Vielschreiberei – dem Papierterrorismus – lahmzulegen, die eigene Pässe wegzuwerfen und selbst Dokumente zu erstellen: Diese Praxis gibt es nur bei Reichsbürger*innen. Das ist den anderen Rechtsextremen, auch den völkischen Siedler*innen, zu dumm, zu umständlich, zu wenig wirkungsvoll. Aber es gibt ein gemeinsames Ziel: Den Kampf gegen den demokratischen Staat, den Wunsch nach „Systemausstieg“ oder einer rechtsextremen Revolution in Deutschland.
Staatliche Statistiken trennen ja zwischen Reichsbürger*innen und rechtsextremen Reichsbürger*innen. Was sagst Du dazu?
Das ist wenig plausibel. In der Reichsbürger-Ideologie finden wir alle Facetten des Rechtsextremismus: Antisemitismus, Staatsdelegitimierung, völkischer Nationalismus, Rassismus, Sexismus und Frauenhass, Homo- und Transfeindlichkeit. Es gibt nur wenige Reichsbürger*innen, die nicht alles hiervon unterstützen. Aber natürlich behaupten alle, sie hätten nichts mit Rechtsextremismus zu tun. Ich habe mich schon länger gefragt, warum der Staat das mitmacht und so die falsche Erzählung legitimiert, es gäbe auch „unpolitische“ Reichsbürger*innen. Und völlig unverständlich wird es bei den Straftaten-Statistiken: Ohne erkennbare Begründung werden manche Reichsbürger-Straftaten als rechtsextrem gezählt, andere als „nicht zuzuordnen“. So lassen sich keine guten Erkenntnisse ableiten, hier sollte nachgebessert werden. Wer aus politischen, rechtsextremen Gründen Straftaten begeht, dessen Taten sollten auch als rechtsextrem eingeordnet werden.
Was kann denn Zivilgesellschaft tun, um den Reichsbürger*innen etwas entgegenzusetzen?
Wo sich Reichsbürger*innen ansiedeln, bilden sich aktuell oft Bürgerbündnisse, um sich dagegen zu positionieren, wie etwa im sächsischen Halsbrücke. Das ist großartig und sollte beraten und unterstützt werden. Das sind oft keine schon zuvor politisch aktiven Menschen, sondern Anwohner*innen, die politisiert werden. Das ist sehr wertvoll für die Demokratie vor Ort. Diese Menschen sollten unterstützt und auch beschützt werden. Wir müssen uns aber auch über sinnvolle Präventionsangebote Gedanken machen, die greifen, bevor Menschen Reichsbürger*innen werden. Da haben wir es in der Regel nicht mit Jugendlichen zu tun, sondern mit älteren Erwachsenen. Für diese Zielgruppe fehlen Konzepte. Das können Selbstbildungs-Tools im Internet sein, aber auch Formate der betrieblichen Bildung oder Angebote in Volkshochschulen. Und nicht zuletzt gibt es nicht wenige Reichsbürger*innen im Staatsdienst. Hierfür brauchen wir Schulungen, damit dies Kolleg*innen erkannt werden – und Strukturen, damit umzugehen. Insbesondere bei den notwendigen Schulungsmaßnahmen sollte auf eine Kooperation zwischen Staat und Zivilgesellschaft gesetzt werden. Somit ließe sich beispielsweise Prävention vor Reichsideologie in den Behörden mit Elementen der politischen Bildung kombinieren.
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