Durchschnittlich fünf antisemitische Vorfälle werden pro Tag vom Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) verzeichnet. Das stellte der Bundesverband am 28.Juni 2021 im Jahresbericht für 2020 fest. Die Dunkelziffer schätzt RIAS jedoch sehr viel höher ein, denn Betroffene wenden sich selten an die Polizei und in einem Großteil der Bundesländer gibt es keine eigene Meldestelle. Die Zahlen machen aber trotzdem verschiedene Trends sichtbar: Shoah-bezogene Vorfälle sind weiterhin die häufigste Form des Antisemitismus, verschwörungsideologische Formen treten vermehrt auf und besonders die Pandemie spielt eine große Rolle.
Insgesamt wurden 2020 fast zweitausend antisemitische Vorfälle gemeldet. Davon mehr als die Hälfte in Berlin. Hier existiert die Dokumentationsstelle bereits seit 2015 und ist damit am längsten aktiv. Im Oktober 2020 kam es in Hamburg-Eimsbüttel zu einem Fall extremer Gewalt, bei dem eine Person einen 26-jährigen Mann auf dem Weg zur Synagoge mit einem Spaten attackierte. Insgesamt ging die Zahl gemeldeter Angriffe und Bedrohungen zurück. Alle anderen Formen antisemitischer Vorfälle stiegen an. In Bayern stieg die Gesamtzahl um nahezu 30 Prozent.
Bundesweit waren in einem Viertel der Fälle rechtsextreme und rechtspopulistische Hintergründe erfassbar. In Brandenburg sogar in 32 Prozent der Fälle. Bayern verzeichnete hingegen am meisten verschwörungsideologische Taten und folgt damit einem bundesweiten Trend: „Die Covid 19-Pandemie stellte von Beginn an eine Gelegenheitsstruktur dar, einen Anlass zur Artikulation schon zuvor vorhandener antisemitischer Haltungen“, erklärt Benjamin Steinitz, geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS. Die Sagbarkeitsgrenzen würden damit auch in der Mitte der Gesellschaft ausgedehnt: „Diese Grenzverschiebungen kehren nie wieder auf den Zustand vor Beginn einer solchen Dynamik zurück“, warnt Steinitz.
Mehr als ein Viertel der dokumentierten Vorfälle hatten einen Coronabezug. Dr. Annette Seidel-Arpacı, Vorstandsmitglied des Bundesverbands RIAS leitet daraus ab, dass „auch im Alltag Antisemitismus der wesentlich Kit im Kontext der Pandemie und der Ablehnung der Maßnahmen war“. Allerdings dürften auch andere Formen nicht vergessen werden, da diese antisemitischen Erfahrungen ebenfalls prägend für Betroffene seien und ein großes Dunkelfeld existiere.
Kim Robin Stoller, Vorstandsvorsitzende des Berliner Internationalen Instituts für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung e. V. (IIBSA) sieht mit Blick auf jüngste Entwicklungen 2021 im Bereich des israelbezogenen und islamistischen Antisemitismus Handlungsbedarf: „In diesem Jahr zeigen die zahlreichen antisemitischen Vorfälle im Kontext des Krieges durch die Terrororganisation Hamas die antisemitische Mobilisierungsfähigkeit, arabisch-, türkisch-, und palästinensisch-nationalistischer und -islamistischer Kräfte. Dies ging oft einher mit Gewaltaufrufen gegenüber Juden und Jüdinnen, und oder gegen Israel und Israelis“. Deshalb sei es wichtig, auch gegen islamistische Strukturen vorzugehen. Unter anderem benennt sie die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, die „grauen Wölfe“ und die „Muslimbruderschaft“.
Antisemitismus ist also nach wie vor ein gesamtgesellschaftliches und facettenreiches Problem, das den Alltag Betroffener nachhaltig prägt. Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorstandsvorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sieht in der Erfassung der Vorfälle einen zentralen Punkt in der Bekämpfung von Antisemitismus und wünscht sich einen besseren Ausbau entsprechender Netzwerke: „Wenn ich höre, dass bis ins Jahr 2021 hinein immer noch nicht alle Bundesländer beteiligt haben, dann kann ich nur die entsprechenden Landesregierungen aufrufen: Bitte tragen sie dafür Sorge, schaffen die die Umgebung, stellen Sie gegebenenfalls die finanziellen Mittel zur Verfügung, damit alle Bundesländer sich an diesem Netzwerk beteiligen können, […] um dann den Antisemitismus zu bekämpfen und wieder zurückzudrängen“.
Antisemitische Vorfälle können unter https://www.report-antisemitism.de/ gemeldet werden.