Seit Jahren gibt es Streit um die Wittenberger „Judensau“; ein altes antisemitisches Relief an einer evangelischen Kirche. Nun hat Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, sogar gefordert, Wittenberg den Status als Weltkulturerbe abzuerkennen. Wie der MDR berichtet, habe die Stadt laut Klein bei der Bewerbung der Kirche um den Status die Schmähplastik verschwiegen und müsse deswegen den Titel entzogen bekommen.
Das ist nur der neueste Streitpunkt in der Auseinandersetzung um die „Judensau“ in Wittenberg, bei der es unter anderem um die Frage geht, ob die Darstellung beleidigend oder antisemitisch ist und ob sie abgenommen werden oder nur durch einen Erklärungstext kontextualisiert werden sollte.
Der Bundesgerichtshof entschied dazu 2022, dass das Relief nicht abgenommen werden müsse, da die Darstellung zwar antisemitisch sei, durch die darunter angebrachte Gedenkplatte und Infotafel jedoch eine Rechtsverletzung beseitigt worden sei. Trotz dieses Urteils, das von Seiten der Stadt und der Kirche begrüßt wurde, gibt es weiterhin Stimmen, die die Entfernung des Objektes oder einen Umzug ins Museum fordern. Darunter Felix Klein.
Doch worin genau besteht der beleidigende Inhalt der „Judensau“ eigentlich und welche Bedeutung kommt der Verbindung von Schwein und Jüdinnen*Juden in der Geschichte des Antisemitismus zu?
Die Darstellung
Das Sandsteinrelief an der Wittenberger Stadtkirche St. Marien zeigt eine Sau und vier menschliche Figuren, die an ihren Zitzen saugen und ihren Schwanz anheben, um ihren After zu betrachten. Die Menschen sind durch ihre spitzen Hüte als jüdisch markiert. Durch die Überschrift „Rabini Schem HaMphoras“, die Bezug auf einen jüdischen Gottesnamen nimmt, wird die Verbindung zwischen dem Schwein und dem Judentum noch zusätzlich verdeutlicht. Die Plastik entstand gegen Ende des 13. Jahrhunderts und befand sich zunächst im Altarraum der Kirche. Der Reformator Martin Luther, der selbst in der Stadtkirche predigte, hatte sie in seiner judenfeindlichen Schmähschrift „Vom Schem Hamphoras“ von 1543 bekannt gemacht, woraufhin sie an die Außenfassade der Kirche versetzt und mit der neuen Überschrift versehen wurde.
Die Wittenberger „Judensau“ ist allerdings nicht die einzige Figur dieser Art in Deutschland. Ab dem 13. Jahrhundert wurden solche Darstellungen an vielen Kirchenbauten im deutschsprachigen Raum als Verzierungen an Kreuzgängen, Fassaden oder Dächern angebracht. Oft befanden sie sich an Orten, die den jüdischen Vierteln oder Synagogen zugewandt waren, um für die jüdischen Passanten besonders sichtbar zu sein. In verschiedenen Varianten säugen die jüdischen Figuren an der Sau, küssen oder lecken sie, beschäftigen sich mit ihrem After oder sogar dem Kot und Urin. Die obszönen und abstoßenden Darstellungen sollten die jüdischen Gemeinden offensichtlich beleidigen und demütigen. Auch die Identifizierung der jüdischen Figuren und des jüdischen Gottes mit dem in der jüdischen Religion als unrein geltenden Schwein lässt sich in seiner verächtlichmachenden und blasphemischen Wirkung noch heute gut verstehen.
Aber um das Ausmaß des beleidigenden bis dämonisierenden Motivs der „Judensau“ zu verstehen, bedarf es eines tieferen Blicks in die Geschichte der Judenfeindschaft. Im hochmittelalterlichen 13. Jahrhundert herrschte in Europa eine grundsätzlich intolerante Gesellschaft. Das Leben wurde von der christlichen Kirche bestimmt, der Zugang zur Mehrheitsgesellschaft war auch von der Religion abhängig. Jüdinnen*Juden wurden zwar geduldet, gleichzeitig aber stets diskriminiert. Bereits in der Antike hatte die frühe christliche Kirche die Substitutionslehre entwickelt, um sich vom Judentum abzugrenzen. Laut dieser theologischen Theorie habe das Christentum den „Bund Gottes“ vom jüdischen Volk übernommen, da Gott die Jüdinnen*Juden nach ihrer Ablehnung des Messias Jesus verworfen hätte. Ihre weitere Existenz wurde nur mit einer zukünftigen Bekehrung gerechtfertigt, sodass die unter den Christen lebenden Jüdinnen*Juden zwar geduldet werden mussten, aber durch ihre andauernde Ablehnung des Messias aus kirchlicher Sicht Hass und Ausgrenzung verdient hatten. Auf der Grundlage der Substitutionstheologie wurde auf dem 4. Laterankonzil 1215 sogar eine besondere Kleiderordnung beschlossen, die Jüdinnen*Juden befolgen mussten. Fortan mussten sie einen gelben Ring oder Fleck tragen, der sie als jüdisch markierte, sowie den spitzen „Judenhut“, der in den Abbildungen der „Judensau“ etwa in Wittenberg auftaucht. Damit wurde die Ausgrenzung der Jüdinnen*Juden nicht nur normalisiert, sondern sozialpolitisch praktisch festgelegt. Dementsprechend war eine judenfeindliche Haltung der christlichen Bevölkerung normal und erwünscht, die herabwürdigenden Darstellungen an den Kirchen sollten dazu beitragen diese zu begründen und zu zementieren.
Das Schwein als Symbol für Unreinheit und Schmutz wurde auch im Christentum bereits zuvor genutzt, etwa zur bildlichen Darstellung der Todsünden der Völlerei und Wollust. Schweine verkörperten in kirchlichen Darstellungen oft die Unreinen und die Sünder. Als solche galten auch Jüdinnen*Juden. Daher wurden beide immer wieder in Beziehung gesetzt, in einigen Darstellungen sogar miteinander identifiziert und vermischt, wenn etwa eine Sau einen menschlichen jüdischen Kopf erhielt. Jüdinnen*Juden wurden aber nicht nur mit Schweinen, sondern auch mit anderen „unreinen“ und bösen Tieren verglichen, wie Eulen oder Skorpionen. Durch die Identifizierung mit den Schweinen wurde ihnen dabei auch ihre Menschlichkeit abgesprochen. Auch in anderen Ländern wurden Jüdinnen*Juden mit Schweinen verglichen. In Spanien wurden sogar konvertierte, jetzt christliche Jüdinnen*Juden als „Marranos“ (deutsch: Schweine) bezeichnet.
Eine Auswirkung dieser antijüdischen Erzählungen des Hochmittelalters waren in der Folge das vermehrte Auftreten von Ritualmord- und Hostienschändungslegenden, die immer wieder als Rechtfertigungen für Vertreibungen und Pogrome genutzt wurden.
Das änderte sich auch in der Zeit der Reformation kaum. Trotz der im Zuge der Konfessionskriege erreichten Toleranz innerhalb des Christentums blieben die Jüdinnen*Juden weiter außen vor. Martin Luthers Antijudaismus ist inzwischen gut bekannt, sie hat neben seinen Polemiken auch in der „Judensau“ an der Fassade der Mutterkirche der Reformation in Wittenberg überdauert. Aber nicht nur in einzelnen historischen Schriften und Plastiken, sondern auch als gesetztes Motiv der Judenfeindschaft hat die Verbindung von Jüdinnen*Juden und Schweinen weiterhin Einfluss ausgeübt – bis heute.
Die Beständigkeit der Bilder im modernen Antisemitismus
Antijudaismus bezeichnet allgemein die Judenfeindschaft vor dem 19. Jahrhundert, insbesondere den christlich geprägten Judenhass vor der Etablierung des „modernen“ Antisemitismus in den 1870er Jahren. Die Akteure der neuen antisemitischen Bewegung wollten ihre Judenfeindschaft von dem irrationalen, religiösen Hass abgrenzen und „wissenschaftlicher“ und moderner erscheinen lassen. Sie wählten daher den neuen Begriff, der sich seitdem als Bezeichnung für Judenfeindschaft etabliert hat. Dennoch baut der „moderne“ Judenhass auf den christlich-religiös geprägten Erzählungen und Motiven des Antijudaismus auf und lässt sich deshalb in vielen Fällen kaum von diesem abgrenzen.
So sind die im Mittelalter verbreiteten Legenden von angeblichen jüdischen Ritualmorden auch in der frühen Neuzeit verbreitet gewesen und können auch heute noch auftreten wie die Erzählungen der Verschwörungszene um QAnon zeigen. Oft wurden die antijudaistischen Motive in abgeänderten oder neu kontextualisierten Formen später wieder aufgegriffen, wie auch im Falle der Verbindung von Schwein und Jüdinnen*Juden. „Saujude“ oder „Judensau“ als Schimpfwort ist auch lange nach der Phase der obszönen plastischen Darstellungen eine verbreitete Beleidigung. In der Weimarer Republik war es im bekannten Spruch gegen den liberalen Außenminister Rathenau „Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ mit einer Morddrohung verknüpft, woraufhin er 1922 tatsächlich in Berlin erschossen wurde.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde neben vielen älteren Motiven des Judenhasses auch das der „Judensau“ in Verfolgung und Propaganda genutzt, um Jüdinnen*Juden auszugrenzen und zu entmenschlichen. In der antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer wurde gegen „jüdische Sauställe“ und „jüdische Schweinereien“ gehetzt, mit dem sexualisierten Stereotyp des Schweins wurde auch das Verbot des sexuellen Kontaktes zwischen Jüdinnen*Juden und Nichtjuden legitimiert. So erfuhr das aus dem christlich-religiösen Kontext stammende und in der Kultur des Antisemitismus überdauernde Motiv der „Judensau“ durch den Nationalsozialismus ein Wiederaufleben und eine neue Prägung, im Sinne einer „Unreinheit“ auch in der Sexualität.
Und auch in der heutigen Zeit haben nicht nur die steinernen Figuren der „Judensau“ an den Kirchen überdauert, auch die übertragene Figur vom „Juden“ als Schwein ist in Wort und Bild noch immer anzutreffen. Während eine direkte Beleidigung als „Saujude“ seltener zu hören ist, sind Darstellungen von Jüdinnen*Juden als Schweine 2022 auch auf der Documenta 15 zu sehen gewesen. Die Verknüpfung der als gierig und schmutzig geltenden Schweine mit Jüdinnen*Juden ist noch immer kulturell verankert und damit eines von vielen christlich-antijudaistischen Symbolen, das im modernen Antisemitismus weiter seine Funktion ausübt.
Die „Judensau“ an der Fassade der Stadtkirche ist also auch heute noch als Beleidigung von Jüdinnen*Juden und als Teil einer antisemitischen Kultur zu verstehen. Dennoch werden die steinernen Abbildungen in Wittenberg und an anderen deutschen Kirchen nicht abgenommen, sie erscheinen mitunter nur als Abbildung mittelalterlicher, überwundener Erzählungen, deren judenfeindliche Aussagekraft nicht mit dem Antisemitismus von heute in Zusammenhang stehen soll. Sieht man sich aber den weiteren Kontext des Motivs an, lässt sich durchaus ein Fortleben erkennen.
Dieser Widerspruch zwischen der offensichtlichen antisemitischen Bedeutung des Motivs, seiner Beständigkeit auch in anderen Medien und der gleichzeitigen Zurückweisung einer tatsächlichen Reproduktion in den steinernen Reliefs selbst hat auch mit einer zu scharfen Trennung von „christlichem“ Antijudaismus und „modernem“ Antisemitismus zu tun. Die übermäßige Historisierung der religiös geprägten Symboliken und Legenden verstellt den Blick auf ihre Kontinuität. Motive des christlichen Antijudaismus wurden und werden auch über die Aufklärung hinaus in einer modernen menschenfeindlichen Ideologie genutzt. Dieser Antisemitismus ist zwar nicht mehr an die christliche Religion gebunden, greift aber weiter auf deren Fundus judenfeindlicher Kultur zurück.
Die „Judensau“ und der Umgang mit ihr ist deshalb kein Zeichen einer vergangenen Epoche und Ideologie, sondern ein Hinweis auf die Langlebigkeit und Anpassungsfähigkeit des ältesten Vorurteils unserer Kultur.