Worum geht’s?
Der Artikel erschien am 3.9.2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Paywall). Geschrieben haben ihn zwei Professor*innen: Bernd Ahrbeck ist Professor für psychoanalytische Pädagogik an der “International Psychoanalytic University” in Berlin, Marion Felder ist Professorin an der Hochschule Koblenz im Fachbereich Sozialwissenschaften.
Trotzdem ist auffällig:Die Argumentation des Artikels entspricht Diskursen, die in Bewegungen gegen ein dekonstruktivistisches Verständnis von Geschlecht und Gleichstellungspolitiken üblich sind. Also die Kreise, die jede Art von sexueller Vielfalt als Angriff auf die “traditionelle Familie” begreifen. Dementsprechend veröffentlichte u.a. die „Demo für alle“ eine Lobrede zu dem Artikel auf ihrer Homepage. Die „Demo für alle“ gehört zu dem – auch als antifeministisch oder „antigenderistisch“ bezeichneten – politischen Spektrum, das enge Verbindungen und Überschneidungen mit der AfD hat.
Das zentrale Argument von Ahrbeck und Felder ist, dass es ein „neues Machtsystem“ gebe, in dem „Heterosexualität und die klassische Familie (…) fast schon als etwas Exotisches“ gelten. Um dies zu begründen, reißen die Autor*innen Beispiele aus ganz unterschiedlichen Kontexten an, die nichts verbindet, außer dass sie „irgendwas mit Gender“ zu tun haben. Es geht um einen gleichstellungspolitischen Gesetzentwurf aus den USA, um ein US-amerikanisches und mehrere deutschsprachige Kinderbücher, um Beispiele für frühkindliche Pädagogik in Deutschland, um Sexualpädagogik im Jugendlichenalter, um (vermeintliche) Hormonbehandlungen und operative Eingriffe bei Trans*Jugendlichen. Die Autor*innen nehmen für sich in Anspruch, das Wohl von Kindern im Sinne zu haben – ein üblicher Trick in dem politischen Spektrum (vgl. GWI-Boell.de).
Die politische Ausrichtung ist schnell zu erkennen, zum Beispiel durch den prominent gesetzten Kampfbegriff „Transgenderpropaganda“. Verwendete Motive wie die Verkehrung der tatsächlichen Machtverhältnisse, die Stilisierung der eigenen Position als Minderheit und die Unterstellung, dass „[p]olitisch Verantwortlichen“ der „Mut zum Widerspruch“ fehle – wie es im Teaser heißt – zeigen die politische Agenda der Autor*innen. Auch die fehlende Stringenz und Begründung wie auch die Widersprüchlichkeit der Argumentation legen nahe, dass es den Autor*innen um keine sachliche Auseinandersetzung, sondern um die politisch geleitete Mobilisierung von Gefühlen ihrer Leser*innen geht. Der Artikel ist bereits als trans*- und homofeindlichkritisiert worden(vgl. Spiegel, Queer.de, Regenbogenfamilien-nrw.de, Gender-Blog) und dem Presserat lag kurz nach seinem Erscheinen eine Beschwerde wegen diskriminierender Berichterstattung vor. Wenig in der Kritik stand bisher, dass einige Behauptungen der Autor*innen schlicht falsch sind. Sehen wir uns drei Beispiele genauer an:
1. Richtigstellung: Der „Equality Act“
Zu Beginn des Artikels beziehen sich die Autor*innen auf den „Equality Act“, einen US-amerikanischen Gesetzentwurf. Sie schreiben:
„Bereits in einem sehr jungen Lebensalter sollen Kinder frei über ihre Gender-Identität entscheiden. Also auch darüber, ob sie abweichend zum biologischen Geschlecht angesprochen werden wollen, Hormone nehmen und sich operativ umwandeln lassen möchten. Das sei ihr elementares Recht, das ihnen niemand nehmen dürfe, auch die Eltern nicht – so lautet der Kern des Gesetzes. Einige medizinische und psychologische Fachverbände haben darauf hingewiesen, wie fragwürdig solche Entscheidungen sind, und vor den unumkehrbaren Folgen gewarnt.“
Bei dem „Equality Act“ handelt es sich um einen Gesetzentwurf – und nicht um ein Gesetz, wie die Autor*innen an dieser Stelle schreiben. Auch der „Kern des Gesetzes“ ist falsch wiedergegeben. Der „Equality Act“ richtet sich gegen Diskriminierung aufgrund der Geschlechtsidentität und der sexuellen Orientierung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, etwa am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche, im Bildungssystem, im öffentlichen Leben (in Geschäften, im Nah- und Fernverkehr usw.) (vgl. congress.gov). Die von den Autor*innen skizzierten Bereiche – Anrede, Hormonbehandlungen und geschlechtsangleichende Operationen – regelt der Act nicht, weder für Kinder noch für Erwachsene. Auch ist das von den Autor*innen genannte Verhältnis von Eltern- zu Kinderrechten nicht Gegenstand des Gesetzentwurfs. Dementsprechend bleiben Ahrbeck und Felder den Beleg schuldig, welche „Fachverbände“ den „Equality Act“ auf Grundlage dieser falschen Zusammenfassung kritisierten. Für den „Equality Act“ sprechen sich u.a. die „American Medical Association“ und die „American Psychological Association“ aus, die größten Fachverbände auf ihrem jeweiligen Gebiet in den USA.
2. Richtigstellung: Geschlechtsangleichende Operationen
Die Autor*innen fahren fort:
„Ihr Widerspruch [der Fachverbände, C.K.] blieb jedoch weitgehend folgenlos, schon längst wird wie geplant verfahren. So lassen sich bereits zwölfjährige Mädchen die Brüste abnehmen.“
Erstens legt die Formulierung nahe, dass in den USA seit einem längeren Zeitraum („schon längst“) und andauernd („wird“ im Präsens) bei der Behandlung von Trans*Kindern gegen geltendes Recht verstoßen werde. Für diese – durchaus gewagte – These führen die Autor*innen keinen Beleg an. Gleichzeitig verengen die Autor*innen Fragen der Transition auf medizinische Eingriffe, während es doch grundsätzlich um Möglichkeiten und Spielräume geht, sich und die eigene Identität auf vielfältige Weisen auszudrücken – von denen operative Eingriffe nur einen Bruchteil darstellen. Dass es sich um „Mädchen“ handele, ist im Übrigen eine trans*feindliche Formulierung, denn Personen, die Mastektomien durchführen lassen – deren Ergebnis eine flache Brust ist – sind in der Regel eben keine „Mädchen“, sondern Trans*Jungen oder nichtbinäre Personen. Zweitens stellen die Autor*innen es als gängige Praxis dar, dass bei 12-Jährigen geschlechtsangleichende Operationen der Brust (Mastektomien) durchgeführt würden. Dass es sich um einen Regelfall handele, dass 12-jährige Trans*Kinder geschlechtsangleichend operiert werden („schon längst wird wie geplant verfahren“), ist nicht richtig – weder in den USA noch in Deutschland.
Der medizinischen Behandlung von Trans*Personen liegen verschiedene Leitlinien zugrunde. Eine international maßgebliche Leitlinie sind die „Standards of Care“ der „World Professional Association for Transgender Health“ (vgl. Wpath.org) . In diesen Empfehlungen stehen geschlechtsangleichende Operationen in der Reihenfolge möglicher medizinischer Behandlungen an letzter Stelle. Bei Trans*Kindern entsteht ein medizinischer Behandlungsbedarf ohnehin erst mit der Pubertät, da erst dann die jeweiligen geschlechtsspezifischen Hormone von Bedeutung werden. Für junge Trans*Personen gibt es die Möglichkeit, zunächst (nach dem ersten Beginn der Pubertät) Hormonblocker einzunehmen. Diese verschieben die Pubertät und räumen den Kindern dadurch mehr Zeit ein. Hormonblocker haben zwar Nebenwirkungen, ihre Auswirkungen auf die Geschlechtlichkeit des Körpers sind jedoch „reversibel“ (d.h. rückgängig zu machen) (vgl. Stefan Riedl/Springer).Im Übrigen ist in den „Standards of Care“ auch festgehalten, dass die Pubertät keine „neutrale Option“ für Jugendliche sei (vgl. Wpath.org). Sowohl das Einnehmen von Hormonblockern als auch das Einsetzenlassen der Pubertät stellen relevant abzuwägende Entscheidungen dar. Nach der Einnahme von Hormonblockern wäre der nächste Behandlungsschritt eine Hormontherapie, erst der letzte Schritt können operative Eingriffe sein. Die für Jugendliche wichtigen Leitlinien in Deutschlandorientieren sich explizit an denen der „World Professional Association for Transgender Health“ (vgl. awmf.org). Im Gegensatz zu diesen sind in den deutschen Leitlinien jedoch Altersgrenzen formuliert: 16 für Hormonbehandlungen, 18 für Operationen. Diese Empfehlungen sind rechtlich nicht bindend und können bei entsprechender medizinischer Indikation unterschritten werden. Es handelt sich jedoch um Einzelfälle; sie als Regel darzustellen ist wahrheitswidrig (vgl. Nomos).In der derzeitigen Regelung gibt es außerdem einen Begutachtungsprozess, der engmaschig von medizinischen bzw. psychologischen Fachleuten durchgeführt wird (vgl. LSVD).
Für nicht erwähnenswert erachten die Autor*innen hingegen den Leidensdruck von Trans*Kindern und -Jugendlichen, die mit hohen bürokratischen Hürden konfrontiert und von Eltern bzw. Betreuerinnen, Sachbearbeitern sowie Gutachterinnen, Psychotherapeuten und Ärztinnen abhängig sind (vgl. Bundesverband Trans).Was die Autor*innen auch nicht benennen, ist, dass es tatsächlich Operationen an Kindern in nicht-einwilligungsfähigem Alter gibt. So werden in Deutschland noch immer an Intersex-Kindern in den ersten Lebensmonaten bzw. -jahren irreversible „kosmetische“ (d.h. medizinisch nicht notwendige) Operationen am Genital durchgeführt, die zur Vereindeutigung der körperlichen Geschlechtlichkeit führen sollen. Die Zahl der Eingriffe ist in Deutschland auch seit einer entsprechenden Änderung der Behandlungsleitlinien 2005 nicht wesentlich gesunken (vgl. HU Berlin).Das zeigt deutlich, dass die Autor*innen nicht das Wohl von Kindern im Blick haben, sondern ihre eigene politische Agenda.
3. Richtigstellung: Es gibt kein „neues Machtsystem“
Zu ihrem zentralen Argument kommen die Autor*innen nun über ein anderes Beispiel, das Kinderbuch „I am Jazz“. Sie schreiben:
„Es steht zu befürchten, dass diese Schrift, eine Transformationsapologie, zukünftig noch stärker in die schulische Praxis und in Lehrpläne eingeht. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie sich eine ursprüngliche Befreiungsabsicht (…) in ein neues Machtsystem verkehrt hat. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich verschoben.“
Bei „I am Jazz“ handelt es sich um eine autobiografische Erzählung für Kinder von der jungen Trans*Frau Jazz Jennings (vgl. YouTube-Lesung). Das Buch ist 2014 auf Englisch erschienen und bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden. In dem Bilderbuch beschreibt die Autorin ihre Kindheit als Trans*Mädchen, ihr frühes Wissen darum, ein Mädchen zu sein, das unterstützende Elternhaus, aber zum Beispiel über Probleme in der Schule. Das Buch endet mit einem Bild von Jazz, die glücklich ist, in ihrem Identitätsgeschlecht zu leben. Ahrbeck und Felder formulieren ihre Kritik an dem Buch nicht aus, sie fassen sie lediglich in dem Begriff „Transformationsapologie“ zusammen. So lässt sich nur spekulieren, was genau den Autor*innen an dem Buch und seiner Verwendung im schulischen Kontext aufstößt. Möglich ist, dass es eine ähnliche Kritik ist, die die Organisation „Liberty Counsel“ dazu bewogen hat mit einer Klage zu drohen, als es 2015 eine Lesung des Buches an einer Schule im US-Bundesstaat Wisconsin geben sollte. Der Bezirk hatte sich für die Lesung entschieden, um ein sechsjähriges Trans*Mädchen, das Schülerin an der Schule war, zu unterstützen (vgl. cbldf.org). Das „Southern Poverty Law Center“ klassifiziert die Organisation „Liberty Counsel“ als „Hate Group“. Die religiöse Gruppe arbeitet mit rechtlichen Mitteln v.a. gegen die Gleichstellung von LGBTQ. Der Schulbezirk sagte die Lesung ab und in Reaktion darauf organisierten eine Mutter und Schüler*innen der lokalen High School Lesungen des Buchs (vgl. cbldf.org).
Die Argumentation wird gedreht, wie es politisch passt
Die Aussage, dass ein autobiografisches Kinderbuch einer Trans*Frau ein Beispiel für ein „neues Machtsystem“ sei, ist irrational und weist mehr paranoide Züge auf als Realitätsbindung. Dass es ein solches „neues Machtsystem“ gebe, in dem sich die „Kräfteverhältnisse“ zu Gunsten der LGBTIQ-Bewegung verschoben hätten, ist jedoch das Hauptargument des Artikels. So heißt es bereits im Titel:
- „Die klassische Familie wird zum Ausnahmefall“
Der Teaser lautet:
- „Politisch Verantwortlichen fehlt der Mut zum Widerspruch gegen die Transgenderpropaganda in Kindertagesstätten und Kindergärten.“
Im Artikel heißt es:
- „Ihre Lobbygruppen [der „Transgenderbewegung“, C.K.] sind inzwischen äußerst einflussreich.“
- „Heterosexualität und die klassische Familie werden inzwischen in eine Randposition gedrängt. Sie gelten fast schon als etwas Exotisches.“
- „Damit gerät jene Lebensform in Verruf, die von der großen Bevölkerungsmehrheit als stimmig und für sich passend erlebt und gelebt wird.“
- „Nicht dass die Interessen von LGBTQ-Gruppen beachtet werden, ist das Problem, sondern die Dominanz, die sie in Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien erringen konnten. Ein Grund dafür liegt in der in weiten Teilen der Gesellschaft verbreiteten Sorge, als unaufgeklärt, rückständig und minderheitenfeindlich dazustehen. Mehr noch: so gebrandmarkt zu werden. Der große Einfluss, den die Transgender-Bewegung in den Vereinigten Staaten errungen hat, ist ein weiteres Symptom für eine Entwicklung, in der die Identitätspolitik über immer mehr Macht verfügt.“
Die Argumentation ist nicht stringent: Entweder argumentieren die Autor*innen, die Mehrheitsverhältnisse gerieten ins Wanken – wie zum Beispiel die Überschrift und die Aussage nahelegen, dass „Heterosexualität und die klassische Familie (…) fast schon als etwas Exotisches“ gelten. Oder die Autor*innen sehen die heterosexuelle Mehrheit als durch eine queere_trans* Minderheit unterdrückt – sonst wäre zum Beispiel die von den Autor*innen bemühte „Sorge, als (…) minderheitenfeindlich dazustehen“ nicht plausibel.
Durch diese Widersprüchlichkeit wird klar, dass die Argumentation in erster Linie politisch motiviert ist. Argumentiert wird, wie es politisch am besten passt: Entweder die Eigengruppe ist die Minderheit oder droht zu dieser zu werden und sollte deshalb aufbegehren – oder die Eigengruppe ist in der Mehrheit und sollte deshalb das Sagen haben.
Die Unhaltbarkeit der zitierten Aussagen scheint schließlich auch der Redaktion aufgefallen zu sein, denn den Artikel findet sich online inzwischen mit verändertem Titel und Teaser hinter einer Paywall (vgl. FAZ) Es scheint fast müßig, darauf hinzuweisen, dass weder LGBTIQ-Personen bzw. die LGBTIQ-Bewegung in der Mehrheit noch in einer machtvollen Position sind. Der Vollständigkeit halber seien hierzu einige Schlagworte genannt: In Deutschland ist das Lebenspartnerschaftsgesetz 2001 verabschiedet worden (eingetragene Lebenspartnerschaften waren der heterosexuellen Ehe nicht gleichgestellt), die „Ehe für alle“ gibt es seit drei Jahren, lesbische Paare sind heterosexuellen Paaren beim Abstammungsrecht immer noch nicht gleichgestellt (vgl. Spiegel) und Ende 2018 war nur jede 14. Ehe gleichgeschlechtlich (vgl. ZEIT). Auch die These von „äußerst einflussreich[en]“ Lobbygruppen, die u.a. „Dominanz (…) in Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien erringen konnten“ ist nicht haltbar. Dies lässt sich auch mit dem kritisierten Artikel argumentieren, denn: Wenn sich die Machtverhältnisse tatsächlich verkehrt hätten, müssten Ahrbeck und Felder auf Beispiele aus den USA zurückgreifen? Und müssten sie einzelne (außerschulische) Beispiele bemühen, um eine „Dominanz (…) in Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien“ zu argumentieren?
Doch was wäre überhaupt das Problem, wenn die Cis- und die Hetero-Norm tatsächlich in Frage gestellt wären? Auch wenn bestimmte Personen besonders von Homo- und Trans*feindlichkeit betroffen sind, geht es nicht „nur“ um deren Besserstellung – um „Identitätspolitik“ – sondern um eine Pluralisierung von Möglichkeiten, um ein erfüllteres Leben für alle.
Von der Richtigstellung zur Wertediskussion: Wie wollen wir leben?
Darüber, woher die Autor*innen ihre „Informationen“ beziehen, lässt sich nur spekulieren. Eine Möglichkeit ist, dass sie auf die rechte Homepage „The Federalist“ zurückgegriffen haben, auf der es zu mehreren der Themen Artikel gibt, die sich in ihrer Argumentation auffällig der von Ahrbeck und Felder ähneln („Equality Act“, frühe Mastektomien, „I am Jazz“). „The Federalist“ ist sowohl für seine LGBTIQ-feindliche Berichterstattung als auch für das Veröffentlichen von Fehlinformationen bekannt (z.B. im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, vgl. cjr.org). Auch darüber, warum die FAZ sich nicht an den diskriminierenden Inhalten störte und auch die – leicht zu recherchierenden – Informationen nicht überprüfte, lässt sich keine gesicherte Antwort geben.
Auf inhaltliche Widersprüche und die Faktenwidrigkeit solcher Argumentationen hinzuweisen ermöglicht, den Blick zu erweitern und der Frage nachzugehen, wie das Entstehen solcher irrationalen Argumentationen zu erklären ist. Eine gängige These ist, dass Bewegungen gegen ein dekonstruktivistisches Verständnis von Geschlecht und Gleichstellungspolitiken ein affektives Angebot schaffen, das (vermeintliche) Stabilität in unsicheren Zeiten bieten soll. Wenn also ökonomische und soziale Unsicherheit drohen, Menschen Angst vor Abstieg haben, scheinen starre Normen in Bezug auf Geschlechtsidentität und Sexualität Sicherheit zu gebenDas hilft aber auch, die existierenden Gründe für die ökonomische und soziale Verunsicherung nicht zu bearbeiten, sie nicht einmal zu erwähnen: Ein Nebenschauplatz wird aufgemacht (vgl. den Sammelband „Anti-Genderismus“).
Eine andere mögliche Erklärung ist, dass solchen Argumentationen eine Projektion von eigenen Aggressionen zugrunde liegt: Die eigenen aggressive Anteile werden abgespalten und ins Außen verlagert – hier: in die LGBTIQ-Bewegung – und dort mit Vehemenz bekämpft. Auffällig sind in dem Artikel auch paranoide Elemente. Denn die LGBTIQ-Bewegung wird als besonders machtvoll dargestellt und auch die Verweise auf die USA erinnern an antisemitische Verschwörungserzählungen (vgl. Researchgate).
Solche Erklärungsansätze können helfen, das Phänomen besser zu verstehen, um es angemessener kritisieren zu können. Im Grunde geht es jedoch immer um eine Wertediskussion und um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und wie sich ein gesellschaftliches Klima, in dem ein solcher Artikel (ent-) steht, hin zu mehr sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und Offenheit verändern lässt.