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Kein Ort der Stille Warum das Mahnmal für die Ermordeten von Hanau stören muss

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Nach der Terrortat vom 19. Februar 2020 trauerte die Stadt am Denkmal der Brüder Grimm auf dem Marktplatz in Hanau. (Quelle: picture alliance/dpa | Frank Rumpenhorst)

Am 19. Februar 2020 erschoss ein rechtsextremer Attentäter in Hanau neun Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Vili Viorel Păun. Weitere Menschen wurden verletzt, teils schwer.

Bereits wenige Monate nach dem rassistischen Anschlag versprach die Stadt Hanau, ein offizielles Mahnmal im Gedenken an die neun Ermordeten zu errichten und schrieb einen künstlerischen Wettbewerb aus. Am 12. Mai wurde aus über hundert Einreichungen der Gewinnerentwurf gekürt, in der Jury waren auch die Angehörigen der Anschlagsopfer vertreten. Darüber hinaus beschäftigt die Jury sich mit der Frage, an welchem Ort in Hanau das Mahnmal stehen soll. Die Angehörigen sind sich in diesem Punkt einig: „Wir wollen, dass das auf dem Marktplatz ist oder wir wollen es nicht“, betont Emiş Gürbüz, die Mutter des beim Anschlag ermordeten Sedat Gürbüz, im Gespräch mit Belltower.News.

Eigentlich könnte dieser Text hier zu Ende und die Diskussion abgeschlossen sein. Wenn die Wünsche und Perspektiven der Betroffenen im Mittelpunkt des Gedenkens an die Opfer rassistischer Gewalt stehen sollen, was gibt es dann noch zu verhandeln? Doch während in der Wettbewerbsausschreibung der Standort des Mahnmals offen gehalten wurde, sprachen sich der Oberbürgermeister der Stadt Hanau, Claus Kaminsky, und andere politische Vertreter:innen im Oktober 2021 in einer Pressemitteilung gegen den Marktplatz aus: „Der Marktplatz in seiner historischen Verbindung zu den Brüdern Grimm und in seiner Mischnutzung ist nicht der optimale Standort für dieses Denkmal. Ein solches Mahnmal soll auch immer ein Ort der Stille und des Gedenkens sein, dies kann ich mir auf dem Marktplatz schwer vorstellen.” Auf erneute Nachfrage von Belltower.News bekräftigt die Stadt Hanau diese Position und spricht sich für alternative Standorte aus.

Im Herzen der Stadt

Der Marktplatz in Hanau ist der zentrale Platz der Stadt. Hier steht das Rathaus, hier findet der Wochenmarkt statt und hier befindet sich auch das Brüder-Grimm-Denkmal, das Hanauer:innen nach dem Anschlag mit Blumen, Kerzen und Bildern bereits zu einem inoffiziellen Gedenkort für die Ermordeten machten. Um den Platz sammeln sich Cafés, vor denen Hanauer:innen die Frühlingssonne genießen. Gerade diese zentrale, belebte Lage ist Emiş Gürbüz für den Standort des Mahnmals wichtig: „Dort sind immer Menschen. Wenn Eine das nicht lesen wird, die Andere wird es lesen. Wenn die Eine das nicht sieht, die Andere wird es sehen. Und von Ohr zu Ohr wird es dann weiter gesagt.“ Ihr Sohn Sedat selbst ging oft auf dem Marktplatz Kaffee trinken, seine Shisha-Bar Midnight befand sich nur wenige Gehminuten entfernt.

Im Gespräch mit Gürbüz wird deutlich, was das Mahnmal für die Angehörigen bedeutet: Es verankert die Erinnerung an ihre ermordeten Söhne, Töchter, Geschwister und Eltern im kollektiven Gedächtnis der Stadt. Die Angehörigen selbst brauchen kein Mahnmal, um der Ermordeten zu gedenken, für sie sind die Erinnerung und die Trauer seit dem 19. Februar 2020 alltägliche Begleiter. Doch Hanauer:innen, die keinen persönlichen Bezug zu der Tat haben, sollen durch das Mahnmal an den Anschlag erinnert und zum Nachdenken angeregt werden: Wie konnte diese rassistische Gewalttat passieren? Und wie können wir als Gesellschaft Bedingungen schaffen, dass so etwas nie wieder geschieht?

Denn Erinnerung muss und soll nicht nur still und zurückgezogen stattfinden: Sie kann informativ sein, wie die 2020 in München errichtete „Dokumentation Oktoberfestattentat”, sie kann fröhlich und lebendig sein, wie das am 30. April 2022 veranstaltete Mehmet-Kubaşik-Kinderfest in Dortmund, und vor allem, das betonen Betroffene wie die Künstlerin und Überlebende des Halle-Attentats Talya Feldman immer wieder, bedeutet Erinnerung auch zu kämpfen und zu verändern. Wenn Erinnerung unübersehbar wird, wenn sie stört, dann schafft sie es hoffentlich, Menschen aus ihrem Alltagsgeschehen herauszubringen, ihr eigenes Tun zu reflektieren und zum Handeln anzuregen. Aus dieser Perspektive wäre das Mahnmal eben kein „Ort der Stille“, wie Oberbürgermeister Claus Kaminsky es formulierte, sondern ein konstanter, lauter Aufruf an die gesamte Stadtgesellschaft, die Opfer des Anschlags und den Rassismus, der sie getötet hat, nicht zu vergessen und sich aktiv gegen rassistische Gewalt einzusetzen.

Der Kampf um Räume

OB Kaminsky, andere politische Vertreter:innen und einzelne Bürger:innen lehnen den Marktplatz als Gedenk-Standort aber auch wegen seiner „historischen Verbindung zu den Brüdern Grimm” ab, den großen Märchenerzählern, die im 18. Jahrhundert in Hanau geboren wurden. Das klingt so, als ob das Image Hanaus als ‚Märchenstadt‘ und die Erinnerung an den gewalttätigen Rassismus vom 19. Februar sich gegenseitig ausschließen, als ob diese Dinge (räumlich) getrennt voneinander stattfinden sollten.

Doch es gehört eben beides zu Hanau, wie leider inzwischen zu so vielen anderen Städten in Deutschland: traditionelle, oftmals idealisierte historische Erzählungen und rassistische Gewalt. Und dieser Rassismus ist nicht erst mit dem mörderischen Anschlag vom 19. Februar 2020 plötzlich in der Stadt aufgetaucht, sondern existierte davor schon in unterschiedlichen Formen, wie die Politikwissenschaftlerin Gözde Saçiak im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau betont. Dabei verweist sie auf Serpil Temiz Unvar, die Mutter des beim Anschlag ermordeten Ferhat Unvar, die von den Rassismuserfahrungen berichtet, die ihr Sohn vor allem in der Schule machen musste und die ihn stark belasteten. Ein Mahnmal auf dem Marktplatz würde diese Gleichzeitigkeit anerkennen, symbolisch verdeutlichen und die Gelegenheit bieten, die bisherige Dominanz der positiven Bilder kritisch zu hinterfragen.

In rassistischen Ideologien spielt die Macht und Kontrolle über Räume und Grenzen eine zentrale Rolle. Es ist kein Zufall, dass der Attentäter von Hanau für seine Tat Orte aussuchte, in denen das Zusammentreffen und Zusammenleben von Menschen mit internationaler Geschichte Alltag war. In einem rassistischen Weltbild, in dem ‚Deutschsein‘ allein aufgrund der biologischen Herkunft definiert wird, darf ein solches Zusammenleben nicht existieren. Der Anschlag war somit auch ein Versuch, diese Räume zu zerstören und sich ein vermeintlich ‚deutsches Territorium‘ gewaltsam zurückzuerobern. Nach der Tat hat die Stadt Hanau deutlich gemacht: „Die Opfer waren keine Fremden.“ Sie waren Hanauer:innen – genau wie die Brüder Grimm.

Zu früh, zu schnell?

Im Gespräch mit Belltower.News wirft Newroz Duman von der Initiative 19. Februar die Frage auf, ob es wirklich eine gute Idee war, den Prozess für das Mahnmal schon wenige Monate nach dem Anschlag zu beginnen – zu einer Zeit, in der viele Angehörige noch mit ganz anderen, existentiellen Fragen zu kämpfen hatten. Der Wettbewerb ist somit zu einem zusätzlichen Problem geworden, mit dem die Angehörigen sich beschäftigen müssen, während die eigene Trauer und der immer noch währende Kampf um Aufklärung im Vordergrund stehen. Dass ihrem Standortwunsch dabei nicht nachgekommen wird, vertieft bei Emiş Gürbüz nur weiter die Wut und Enttäuschung über politische Entscheidungsträger:innen und staatliches Handeln: „Die reden nur, aber was sie reden, machen sie nicht. Es bleibt nur beim Reden.“

Für die Angehörigen ist die Entscheidung klar: Der Verlust Ihrer Liebsten darf auch räumlich nicht an den Rand geschoben werden. Die Stadt Hanau sollte diesem Wunsch folgen, wenn die Perspektive der Betroffenen im Mittelpunkt des Gedenkens stehen soll. Wenn das Mahnmal auf dem Marktplatz, im Herzen von Hanau, errichtet wird, dann rückt die Erinnerung an Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Paŭn, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov im wahrsten Sinne des Wortes in das Zentrum der Stadt. Genau dort gehört sie hin.

Viktoria Kamuf ist seit 2021 die wissenschaftliche Assistentin der Leitung am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena. Zuvor studierte sie Politische Soziologie an der London School of Economics, wo sie ihren Master mit einer Arbeit über den räumlichen Bezug rassistischer Ideologien am Beispiel des Anschlags in Hanau am 19. Februar 2020 abschloss. 

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