
Ein Text von Sophie Roesler.
Seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist weltweit ein eklatanter Anstieg antisemitischer Vorfälle auf Jüdinnen*Juden sowie jüdische Einrichtungen zu verzeichnen. Die Gewaltverbrechen der Hamas haben nicht etwa zu einer größeren Solidarität mit Jüdinnen*Juden geführt. Stattdessen vereint der gegen Israel und gegen alles Jüdische gerichtete Antisemitismus noch stärker als zuvor politische Gruppierungen. Für viele Jüdinnen*Juden in Deutschland verschränkt sich dabei die Erfahrung des zunehmenden Antisemitismus mit der bestehenden Unterdrückung durch andere Ungleichheitsideologien. Insbesondere Jüdinnen*Juden mit mehrdimensionalen Identitäten, wie etwa queere Jüdinnen*Juden, stehen daher schnell vor einem Dilemma: Sollen sie noch eine queere Pride-Parade besuchen, wenn in den Redebeiträgen von israelischem „Pinkwashing“ die Rede ist und die BDS-Bewegung oder sogar die Hamas verherrlicht wird?
Viele sich als progressiv verstehende Gruppen schaffen es nicht, Palästina-Solidarität mit einer konsequent antisemitismuskritischen Haltung zu verbinden. Wahlweise im Namen des Antirassismus, des Antikolonialismus oder des Antiimperialismus spielen sie stattdessen Antisemitismus und Rassismus im Sinne einer Opferhierarchie gegeneinander aus. Dabei imaginieren sie Jüdinnen*Juden zumeist als weiße, europäisch-stämmige Personen. Die Übertragung der mit Macht und Privilegien verbundenen sozialen Position des Weißseins auf Jüdinnen*Juden wird zum Beschleuniger (modern-)antisemitischer Ideologie, wobei auf Jüdinnen*Juden ein Übermaß an weltverschwörerischer Macht und medialer Kontrolle projiziert wird. So erscheinen Jüdinnen*Juden als „super-privilegiert“. Antisemitismus als Ungleichheitsideologie und Gewaltverhältnis bleibt durch solche Zuschreibungen unsichtbar, und den Betroffenen werden ihre Unterdrückungserfahrungen abgesprochen.
Um darauf hinzuweisen, dass Nichtjüdischsein als Normalität vorausgesetzt wird, haben Judith Coffey und Vivien Laumann den Begriff der „Gojnormativität“ mit ihrem gleichnamigen Sachbuch aus dem Jahr 2021 geprägt. Laut den Autor*innen trägt die gojnormative Perspektive dazu bei, Ungleichheitserfahrungen von Jüdinnen*Juden und jüdische Standpunkte unsichtbar zu machen, Jüdinnen*Juden geraten als Bündnispartner*innen aus dem Blickfeld.
Wie also steht es um das Verhältnis des Antisemitismus zu anderen Ideologien der Ungleichheit? Eine mögliche Antwortrichtung hält das Konzept der Intersektionalität bereit. Der Begriff der Intersektionalität erlangte ausgehend von der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Black Feminism vor allem durch die Juristin Kimberlé Crenshaw Bekanntheit. Crenshaw nutzte dieses Konzept, um damit die Verflechtung mehrerer Unterdrückungsformen in einer betroffenen Person auf den Punkt zu bringen. Durch die Brille der Intersektionalität können die komplexen Verbindungen verschiedener Ungleichheitsideologien wie Rassismus, Sexismus, Klassismus, Queerfeindlichkeit oder Ableismus beleuchtet werden. Entscheidend für das Verständnis von Intersektionalität ist, dass sich verschiedene Diskriminierungsformen nicht einfach summieren. Vielmehr kann dem Konzept zufolge die Verschränkung mehrerer Diskriminierungsformen für Betroffene eine ganz neue, eine eigene Qualität der Belastung darstellen.
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Eignet sich das Intersektionalitätskonzept aber auch aus Sichtweise Betroffener, um die Verschränkung von Antisemitismuserfahrungen mit anderen Formen der Unterdrückung auszudrücken? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer zwischen November 2023 und Februar 2024 durchgeführten Interviewstudie mit queeren jüdischen Teilnehmer*innen. Viele queere Jüdinnen*Juden in Deutschland machen die Erfahrung, in ihrem jüdischen Umfeld als queer und in ihrem nichtjüdischen Umfeld als Jüdin*Jude angegriffen oder ausgegrenzt zu werden. Die Teilnehmer*innen verstehen ihr Jüdischsein größtenteils als Identitätsmerkmal, aufgrund dessen sie anders behandelt werden: „Ich hab das Gefühl, wenn ich in der jüdischen Community bin, dann bin ich ,der Schwule‘, […], und wenn ich in der queeren Community bin, dann bin ich halt ,der Jude‘. […].“
Aus dieser Verschränkung von Ausgrenzungserfahrungen in verschiedenen Räumen ergibt sich für viele Betroffene eine spezifische Form des gesellschaftlichen Ausschlusses, die ein*e Teilnehmer*in wie folgt beschrieb: „An Orten, die eigentlich für dich auch eine Heimat darstellen sollten, wie für alle anderen auch, wirst du dann aufgrund einer der Identitätsmerkmale ausgeschlossen und dann verkleinert sich der Raum, wo du beides leben kannst, sehr. […]. Es gibt einen kleinen Raum manchmal, wo man beides sein kann, und wo das wirklich akzeptiert ist und dem Raum gegeben wird. Und sonst musst du immer eins […] verstecken oder du gehst.“
Die spezifischen Ausschlüsse, die queere Jüdinnen*Juden erfahren, lassen sich als intersektionales Othering beschreiben. Damit ist gemeint, dass diese Personen ständig als anders markiert werden, sei es, weil sie queer sind, weil sie jüdisch sind oder wegen beider Identitätsmerkmale. Diese Othering-Erfahrungen summieren sich dabei nicht nur, sondern erzeugen eine spezifische Ausschlusskonstellation, die den Betroffenen das Gefühl gibt, nur an sehr wenigen Orten als die Personen wahrgenommen zu werden, die sie sind – ohne vorurteilsbehaftete Fremdzuschreibungen zu erfahren.
Die kontinuierliche Erfahrung intersektionalen Ausschlusses wirkt sich auf verschiedene Weise auf das Wohlbefinden und die Verhaltensweisen der Betroffenen aus: Die Teilnehmer*innen berichteten etwa von psychischer Belastung, negativen Gedankenspiralen und sozialem Rückzugsverhalten. Viele der Teilnehmer*innen gaben an, besonders seit dem 7. Oktober digitale und physische Räume zu meiden, in denen sie Konfrontationen mit (israelbezogen) antisemitischen Haltungen fürchteten. Das bedeutete für einige von ihnen auch, sich aus aktivistischen Strukturen zurückzuziehen.
Sowohl viele queere als auch viele jüdische Personen verstecken mitunter Teile ihrer Identität, um negative Erfahrungen zu vermeiden und Hasser*innen im Netz und in der Öffentlichkeit keine Angriffsfläche zu bieten. Diese Strategie mag Betroffene vor körperlichen Übergriffen bewahren, sie schützt sie aber nicht vor der alltäglichen kommunikativen oder digitalen Präsenz des Hasses. Zudem steht das strategische Verstecken der Entwicklung einer stabilen Identität im Weg und blockiert die Möglichkeit, sich durch das Eingehen von Bündnissen mit anderen Betroffenen selbst zu ermächtigen. Der Umgang mit der eigenen Identität ist für viele queere Jüdinnen*Juden also mit Ambivalenzen des Sichtbarseins verbunden – der Versuch des Versteckens und Unsichtbarseins steht dem Pride-Konzept diametral entgegen. Diesen Ambivalenzen kann zwar individuell und situationsabhängig begegnet werden. Antisemitismus und Queerfeindlichkeit kann aber keine Einzelperson aus der Welt schaffen, da es sich um strukturelle Phänomene handelt, die sehr fest im Denken und in der Gesellschaft verankert sind.
Queere Jüdinnen*Juden sind natürlich nicht nur passiv von intersektionalem Othering betroffen, sondern reagieren mit verschiedenen Bewältigungsstrategien auf diese Erfahrungen. Für viele Personen ist dabei auch wichtig zu betonen, dass sie ihre Identität in erster Linie nicht als Belastung, sondern als Bereicherung empfinden. „Sowohl die Erfahrung von Antisemitismus als auch die Erfahrung von Queerfeindlichkeit hat in mir […] den Willen geweckt, stärker zu sein“, erzählte ein*e Teilnehmer*in der Interviewstudie.
Die Forderung, Antisemitismus intersektional zu verstehen, wird bereits seit einigen Jahren vorgebracht. Die bereits erwähnten Autor*innen Judith Coffey und Vivien Laumann etwa widmeten sich dem Thema mit ihrem Buch „Gojnormativität“. Die Soziologin Karin Stögner plädiert in ihrem Artikel „Antisemitismus und Intersektionalität“ aus dem Jahr 2022 zudem für eine Nutzung des Konzepts, um Antisemitismus als intersektionale Ideologie verstehbar zu machen, die Elemente des Rassismus, Klassismus, Sexismus und anderer Unterdrückungsformen in sich vereint.
Seit diesen Veröffentlichungen hat der Antisemitismus nicht ungeahnte, aber doch erschreckende neue Ausmaße angenommen. Umso drängender wird die Aufgabe, verschiedene Ideologien der Ungleichheit nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie in ihren verschiedenen Mechanismen, aber auch ihren Verschränkungen zu erkennen. Sich als progressiv verstehende Gruppen, die Antisemitismus nicht in ihre Intersektionalitätstheorien einbeziehen, laufen Gefahr, selbst antisemitische Ideologie zu reproduzieren und Jüdinnen*Juden auszuschließen. Um Jüdinnen*Juden einen Safer Space zu bieten, müssen Gruppen ihre gojnormativen Denkmuster hinterfragen und sich neben der Bekämpfung anderer Ungleichheitsideologien auch einer fundierten Antisemitismuskritik verschreiben. So erhalten Jüdinnen*Juden die Chance, in ihren vielfältigen Perspektiven gehört zu werden und solidarische Bündnisse aufzubauen und mitzugestalten.