Bereits seit dem 10. Juli findet in Kaufbeuren wieder das alljährliche „Tänzelfest“ statt, das als eines der „ältesten historischen Kinderfeste Bayerns“ bekannt ist. Alleine in diesem Jahr haben nach Berichten der Nachrichtenagentur dpa beim Großen Festumzug, einer Hauptattraktionen, mehr als 10.000 Menschen zugesehen. Sogar Ministerpräsident Horst Seehofer war zusammen mit seiner Frau Karin vergangenen Sonntag angereist, um dem Umzug von „1650 Kindern, zahlreichen Musikgruppen, 35 Festwagen und über 150 Pferden“ beizuwohnen.
Spätestens seit dem letzten Jahr ist das „Tänzelfest“ im Allgäu aber nicht mehr nur für sein traditionsreiches Festival-Programm bekannt. Denn 2013 erlangte die Veranstaltung auch außerhalb Bayerns traurige Berühmtheit, als ein Thüringer Neonazis einen in Kaufbeuren wohnhaften Spätaussieder aus Kasachstan mit einem schweren Schlag tödlich verletzt hat.
Der Totschlag
Zunächst war es in der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 2013 gegen Mitternacht zu Provokationen gegen drei Spätaussiedler gekommen, die nach Ansicht der Polizei von einer „überwiegend stark alkoholisierten Gruppe aus Thüringen“ ausgegangen sind. Im Verlauf dessen seien „von Seiten eines 36jährigen Thüringers“ auch „ausländerfeindliche Beleidigungen ausgesprochen“ worden, woraufhin sich eine körperliche Auseinandersetzung entwickelt habe. Dabei konnten sich „die drei aus Kaufbeuren stammenden Spätaussiedler im Alter von 25 und 30 Jahren“ jedoch erfolgreich gegen die rassistische Thüringer Gruppe „zur Wehr setzen“.
Ungefähr zeitgleich eilten alarmierte Security-Kräfte zum Ort des Konflikts, wobei ihnen „aus bloßem Interesse“ eine „unbeteiligten Gruppe von fünf Personen“ gefolgt sei. Einer dieser fünf war der damals 34 Jahre alte Konstantin M., der seit seiner Jugend in der Stadt lebt. Auf dem Weg dorthin trafen die fünf Personen schließlich auf die „Gruppe aus Thüringen“, was erneut zu einer „grundlos(en)“ Provokation durch die Rassisten geführt habe. „Im Verlauf der weitergehenden körperlichen Auseinandersetzung“ habe „der 36jährige Tatverdächtige“ dann „einmal und ohne Ankündigung auf den zufällig anwesenden 34jährigen eingeschlagen, sodass dieser zu Boden ging“.
Für den zweifachen Familienvater endete die Attacke tödlich. Zwar konnte M. noch vor Ort von Rettungskräften reanimiert werden, doch am Nachmittag des selben Tages musste er im Krankenhaus Kaufbeuren für klinisch tot erklärt werden. Als Todesursache bestätigte sich bei einer anschließend angeordneten rechtsmedizinischen Untersuchung eine „schwerwiegende Gehirnverletzung“, die durch die Attacke des 36jährigen Thüringer Neonazis ausgelöst wurde.
Hintergründe zu den Tatbeteiligten
Nur „wenige Minuten“ nach dem Totschlag konnte die Polizei „in unmittelbarer Tatortnähe“ zwei Tatverdächtige, einen 22jährigen Mann und einen 36jährigen Haupttäter, in Gewahrsam nehmen. Als die beiden kurz danach dem Haftrichter vorgeführt wurden, erließ dieser Haftbefehl gegen den 36jährigen wegen des Verdachts des Totschlags. Der 22jährige, der in der Nacht ebenfalls verhaftet worden ist, blieb hingegen auf freiem Fuß, weil die Ermittlungen „keine Erkenntnisse zu einer unmittelbaren Beteiligung an dem Totschlag“ geliefert hätten.
Dass Rassismus bei der Tat eine Rolle gespielt hat, erfuhrt die Öffentlichkeit zu Anfang allerdings nicht. Erst als die „Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e.V.“ (aida) sowie die Thüringer LINKEN-Landtagsabgeordnete Katharina König auf ihrer Website über den Fall berichtet haben, wurden nähere Hintergründe über die zu diesem Zeitpunkt verdächtigten Personen bekannt. Demnach handelte es sich bei den Verhafteten um den 36 Jahre alten Falk H. und den 22jährigen Markus V., die zum Zeitpunkt der Tat beide für eine Baufirma aus Thüringen in der Region um Kaufbeuren tätig gewesen sein sollen.
Nach den Recherchen von aida sind die beiden Neonazis aus dem thüringischen Meiningen bereits in der Vergangenheit mit Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen aufgefallen. So ist Falk H. – wie auch die Polizei mitgeteilt hat – wegen Verwenden von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen vorbestraft, weil er auf einem Volksfest „Heil Hitler“ gerufen und den Hitlergruß gezeigt habe. Und Markus V. hat auf seinem Facebook-Profil zuletzt sogar die Opfer der neonazistischen Terrorgruppe „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) verhöhnt, indem er eine Paulchen-Panther-Figur mit einer Schusswaffe hochgeladen hat. In den Facebook-Freundeslisten von Falk H. und Markus V. fanden sich laut aida bekanntere Szenenangehörige aus Thüringen, aber auch aus dem benachbarten Sachsen. Informationen von König zufolge sollen die beiden Neonazis zudem „ein erhöhtes Interesse an Kampfsport“ aufgewiesen haben. „Der Ältere von den beiden“, berichtete die Abgeordnete der LINKEN damals auf ihrer Website, „publizierte im Internet sogar Fotos, die ihn bei einem professionellen Ringkampf zeigten. Die Täter wussten scheinbar sehr genau, was sie taten.“
Im Zuge der Veröffentlichung von aida wurden neben lokalen zusehends auch überregionale Medien auf den Vorfall aufmerksam. Damit geriet die Polizei verstärkt unter Druck, weil ein mögliches rassistisches Motiv in ersten Pressemeldungen nicht erwähnt worden ist. Am selben Tag, kurz bevor aida seine Meldung veröffentlichte, verwies die Polizei in einem Nachtrag zu ihrer ersten zwei Pressemitteilungen aber auf rassistische Beleidigungen, die sich erst nach Befragungen von mehreren Zeugen herausgestellt hätten, wie der zuständige Polizeisprecher der Online-Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) seinerzeit auf Nachfrage erklärte.
Die juristische Aufarbeitung
Trotzdem sollte Rassismus als Tatmotiv keine mehr Rolle spielen, als neun Monate später Anklage gegen den mehrfach vorbestraften Thüringer erhoben wurde. Schon vor der Prozesseröffnung hat die zuständige Staatsanwaltschaft mitteilen lassen, dass sie Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge, versuchten Mordes und Körperverletzung erheben werde — eine rassistische Motivation für die Tat allerdings „bis dato nicht beweiskräftige festgestellt werden konnte“.
Bei der Eröffnung des Prozesses am 30. April warf die Staatsanwaltschaft Falk H. schließlich vor, „im Juli 2013 am Rande des Tänzelfests in Kaufbeuren mit einem Fausthieb einen 34-jährigen zweifachen Familienvater getötet zu haben“. Sogar als das Opfer schon „regungslos am Boden“ lag, habe er laut Staatsanwaltschaft „noch gezielt gegen“ dessen „Hals getreten“.
Falk H. selbst konnte sich nach eigenen Angaben nicht mehr an die fragliche Nacht erinnern, weil er zum Tatzeitpunkt „erheblich unter dem Einfluss von Alkohol“ gestanden hat. Dass er eine rechte Gesinnung habe, wies H. laut SZ vor der 1. Strafkammer des Landgerichts Kempten von sich — trotz einschlägiger Vorstrafe, die der inzwischen 37jährige bereits gesammelt hat.
Am Ende das Prozesses forderte die Verteidigerin einen Freispruch nach dem Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“ (lateinisch für: Im Zweifel für den Angeklagten), weil sich die Schuld des Angeklagten nicht zweifelsfrei beweisen lassen würden, und eventuell eine andere anwesende Person mit identischem Aussehen genauso in Frage kommen könnte. Die Staatsanwaltschaft sah — auch aufgrund von belastenden Zeugenaussagen — die Täterschaft des Thüringers hingegen als erwiesen an und plädierte für eine Freiheitsstrafe von zwölf Jahren. Zustimmung erhielt der Staatsanwalt von der Nebenklagevertreterin, die sich dessen Ausführung angeschlossen und die Strafzumessung dem Ermessen des Gerichts überlassen hat.
Für das Gericht hat sich nach zwei Verhandlungstagen der Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge „erwiesen“. Der Täter habe dem Opfer „mit voller Wucht gegen dessen Schläfe geschlagen“, wodurch die Hirnarterie des Familienvaters gerissen sei. Einzig den Verdacht, dass der Angeklagte dem Opfer auch noch gegen den Hals getreten und sich somit des versuchten Mordes schuldig gemacht hat, sah das Landgericht nicht als bestätigt an. Für die Tat wurde H. zu elf Jahren Haft verurteilt. Insgesamt vier Jahre und sechs Monate dieser Freiheitsstrafe wird er wegen seines Alkoholkonsums in einer Entziehungsanstalt absitzen müssen.
Rassismus sei nach Ansicht des Landgerichts für die Tat jedoch nicht ausschlaggebend gewesen, denn es konnte „kein Bezug zu einer rechtsradikalen Tat“ hergestellt werden. Vielmehr sei der 34jährige Familienvater aus reinem Zufall Opfer der tödlichen Attacke geworden, mit der der Täter seine Aggressionen über die zuvor gescheiterte Auseinandersetzung hätte abreagieren wollen. Dass der Thüringer bereits davor zu jener Gruppe gehörte, die ebenfalls aus Kasachstan stammende Spätaussiedler rassistisch provozierte, schien an der – mit wenigen Ausnahmen auch medial verbreiteten – Theorie des Zufallsopfers keine Zweifel zu wecken.
Damit ist ein weiteres Opfer, das von einem einschlägig bekannten Neonazis aus Frust über zuvor gescheiterte rassistische Anfeindungen getötet wurde, wieder nur ein „Zufallsopfer“. Ganz so, als ob es nicht Rassismus gewesen wäre, durch den es zur Attacke gekommen ist, die letztendlich für einen Mann einen tödlichen Ausgang genommen hat. Es ist zumindest schwer vorstellbar, dass es überhaupt ein Todesopfer gegeben hätte, wenn nicht Thüringer Neonazis auf die Idee gekommen wären, einige Spätaussiedler rassistisch zu attackieren.
Doch rechtskräftig ist die Entscheidung ohnehin noch nicht. „Gegen das Urteil haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte Revision eingelegt“, teilt das Landgericht mit.
Zivilgesellschaftlicher Umgang
Neben der juristischen Aufarbeitung hat der Fall auch die Zivilgesellschaft vor Ort beschäftigt.
Anfangs kam es in den Kommentarspalten lokaler Medien zu rassistischen Reaktion, in denen „ Ausländern“ oder „den Russen“ die Schuld am Vorfall gegeben wurde. Andere Kommentatoren schienen sich dagegen nicht für das Todesopfer, sondern vor allem für das Festival zu interessieren. „Lieber Tänzelfestverein, bitte sagt das Feuerwerk nicht ab!“, forderte damals einer im Gästebuch und schrieb weiter: „Der schreckliche Todesfall ist schlimm, aber deswegen des Feuerwerk absagen? (…) Es klingt blöd aber es stimmt ‚THE SHOW MUST GO ON!’“
Abgesehen von derartigen Reaktionen gab es aber viel Anteilnahme für das Opfer. Bereits unmittelbar nach der Tat initiierte die Stadt eine Spendenaktion, mit deren Erlös die Frau und die Kinder des zweifachen Familienvaters unterstützt worden sind. Am Samstagvormittag nach dem Totschlag wurde bei einem Gottesdienstes auf dem Tänzelfest an den Verstorbenen erinnert. Und am Nachmittag des selben Tages fand auch ein Gedenkmarsch zum Mahnmal gegen Extremismus statt, an dem von hunderten Leuten Kerzen angezündet wurden.
Mitte Dezember wurde in Kaufbeuren schließlich als weitere Aktion ein Benefizkonzert für die Familie des Opfers veranstaltet, mit dem die Hinterbliebenen – wie Initiator Stephan Schmidt dem „Bayerischen Rundfunk“ sagte –„Unterstützung auf ihrem schweren Weg“ erfahren sollten. An der Aktion beteiligten sich auf zwei Bühnen 18 Bands, einige Einzelkünstler und Comedians, die ab 14 Uhr insgesamt zehn Stunden lang für ein Programm gesorgt haben.
Zusätzlich zu diesen Gedenkveranstaltungen und karitativen Aktionen stellten Antifaschisten auch Fragen nach den Hintergründen der Tat sowie zu den Aktivitäten von Neonazis im Allgäu. So demonstrieren am 18. Oktober letzten Jahres Antifaschisten in Kaufbeuren, um ein Zeichen gegen „diverse braune Umtriebe“ im Allgäu zu setzen, die „von ihrem Umfeld kaum wahrgenommen oder gar ignoriert oder geduldet werden“. Ende April wurde in Kaufbeuren zudem eine Diskussionsveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit dem Fachjournalisten Robert Andreasch und der Bundestagsabgeordneten Martina Renner (LINKE) veranstaltet, die unter dem Motto „Militante Neonazis aus Thüringen – „Aber doch nicht im Allgäu“ stand. Dabei sollen die Entwicklungen in der Thüringer Neonazi-Szene, Aktivitäten der extremen Rechten im Allgäu sowie Hintergründe zu den Tätern im Mittelpunkt gestanden haben.
Heute, ein Jahr später, jährt sich der tragische Tod von Konstantin M. nun zum ersten Mal. Juristisch abgeschlossen ist der Fall noch nicht: Nach der Revision von Staatsanwaltschaft und Angeklagtem kann mit einem weiteren Prozess gerechnet werden. Unabhängig von dessen Ausgang ist jetzt aber die Zivilgesellschaft gefragt, um die Erinnerung an den zweifachen Familienvater auch in Zukunft aufrecht zu erhalten. Sein Tod darf nicht vergessen werden.
Mehr auf netz-gegen-nazis.de:
| Warum ist es für Gerichte so schwer, eine rassistische oder rechtsextreme Motivation zu erkennen?
| Todesopfer rechtsextremer Gewalt
| Chronik: Bedrohungen und Gewalttaten 2014
| Chronik: Neonazis vor Gericht 2014