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Kolumne Der Sonntag des Terrors – 61 Jahre danach

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Eine Tafel in der 16th Street Baptist Church in Birmingham, Alabama, erinnert an die vier Opfer des Anschlags. (Quelle: picture-alliance / dpa | Jerzy Dabrowski)

Dynamit. Die Täter wählen Dynamit. Sie verpacken den zu 75 Prozent aus Nitroglyzerin bestehenden Sprengstoff in 19 Stangen zu je einem halben Pfund (ca. 227 Gramm) und platzieren sie unter der Treppe des Zielobjekts, ein Sakralbau im südlichen Bundesstaat Alabama.

Der 15. September 1961 ist ein warmer Herbstsonntag in Birmingham. Die Sonne strahlt geradezu einladend, als sich die afroamerikanische Gemeinde der 16th Street Baptist Church zum Gottesdienst versammelt. In der Kirche herrscht eine angespannte Stimmung. Die Stadt ist seit Monaten Schauplatz erbitterter Kämpfe im Zuge der Bürgerrechtsbewegung. Immer wieder ist die Kirche das Ziel von Bombendrohungen. An diesem Morgen sagt ein anonymer Anrufer nur „drei Minuten“ in den Hörer, bevor er wieder auflegt.

Weniger als eine Minute später, um genau 10:22 Uhr, zerreißt ein ohrenbetäubender Knall die Stille. Ein greller Blitz erhellte den Raum, gefolgt von einer Druckwelle, die alles erschüttert. Staub und Rauch wirbeln auf: Schreie und Panik. Als sich der Nebel allmählich lichtet, wird das Ausmaß der Katastrophe sichtbar: Vier junge Mädchen zwischen elf und vierzehn Jahre liegen leblos am Boden: Addie Mae Collins, Carole Robertson, Cynthia Wesley und Denise McNair. Letztere ist eine Freundin der späteren US-Außenministerin Condoleezza Rice. Die linke Aktivistin Angela Davis kennt auch zwei der Todesopfer. Die vier Getöteten waren alle Sonntagsschülerinnen.

Wut, Wandel und Widerstand

Die Baptistenkirche in der 16. Straße ist seit ihrer Gründung im Jahr 1873 ein wichtiges Zentrum der Schwarzen in Birmingham. Neben ihrer Funktion als Gotteshaus ist sie Zufluchtsort und Entstehungsort des lokalen Aktivismus. Kein Geringerer als Martin Luther King ist von 1954 an Mitglied der Gemeinde. Ebendort hält er inspirierende Reden, die im Kampf gegen den Rassismus ein kritisches Denken und einen konstruktiven Diskurs fordern.

Birmingham, damals eine 300.000-Seelen-Stadt, die heute auf knapp 240.000 Einwohner kommt, ist in den 1960er Jahren im Umbruch. Es herrscht wirtschaftlicher Stillstand, die Stadt wandelt sich mit mäßigem Erfolg von einem industriell geprägten Knotenpunkt hin zu mehr Angestelltenjobs. Viele weiße Arbeiter Birminghams betrachten die von der US-Bundesregierung angestrebte Desegregation, also die Aufhebung der rassifizierten Trennung der Menschen, als Bedrohung. Sie sehen darin einen direkten Wettbewerb um Arbeitsplätze, Beförderungen und das Wohlergehen ihrer Familien.

Schön länger ist die Stimmung aufgeheizt. Der brutale Lynchmord an Emmett Till, einem 14-jährigen Schwarzen Jungen aus Chicago, als er 1955 auf Familienbesuch in Mississippi ist, hatte die Nation schockiert. Die landesweite Empörung führt zu einer erhöhten Wahrnehmung der Gefahren, denen Schwarze ausgesetzt sind. Der friedliche Widerstand gegen Rassismus nimmt zu, und infolgedessen fühlen sich die südstaatlichen Verfechter der Segregation immer deutlicher eingeengt.

Birminghams Polizeichef Bull Connor, ein bekennender Rassist, betont 1958 unverblümt: „Wenn der Norden uns diesen Kram [Gleichberechtigung] weiterhin die Kehle runter rammen will, wird es Blutvergießen geben!“

Zwischen 1945 und 1962 erschüttern sage und schreibe mindestens 50 ungelöste Bombenanschläge mit rassistischem Hintergrund die Stadt, die nunmehr als „Bombingham“ bekannt ist. Dahinter steckt mutmaßlich der Ku-Klux-Klan, aber der Ordnungshüter Bull Connor nimmt seinen KKK dauernd in Schutz, ohne selbst Mitglied zu sein. Das anfangs weiße Birminghamer Viertel namens Center Street ist von so vielen Angriffen gegen einziehende Afroamerikaner*innen betroffen, dass es sogar im Volksmund als „Dynamite Hill“ bekannt wird. Die saloppen Beinamen lassen erahnen, dass man die Gewalttaten vor Ort als unausweichliche Gesetzmäßigkeiten akzeptiert. Als das Entsetzen über die Ermordung Tills allmählich nachzulassen scheint, während Bull Connor seine schützende Hand immer noch über den Klan hält, wagen die Täter eine Steigerung.

Zwischen Frustration und Gerechtigkeit

So kommt es zum Bombenanschlag auf die 16th Street Baptist Church. Neben den vier getöteten Mädchen gibt es auch 23 teils schwer verletzte Kirchengänger*innen. Die Druckwelle aus der Explosion trifft mit roher Gewalt den Nerv eines Landes im Umbruch. Die Anteilnahme ist riesig und konfessionsübergreifend. Rabbiner Abraham Heschel verurteilt den Angriff als „Akt des Hasses und der Barbarei“. Papst Johannes XXIII. spricht sich gegen Rassismus aus, die Katholische Liga für Menschenrechte startet eine Kampagne zur Aufklärung der Öffentlichkeit und zur Förderung der Gleichberechtigung.

Rund achttausend Trauende nehmen an der Beerdigung der Todesopfer teil, jedoch kein Vertreter der Stadtverwaltung. Kaum überraschend: Die örtlichen Behörden tun sich bei den Ermittlungen schwer. Die rassistische Atmosphäre in Birmingham macht die Zusammenarbeit mit der afroamerikanischen Gemeinde kompliziert, und Zeug*innen sprechen nur zögerlich mit den Ermittlern.

Eine Zeugin identifiziert Robert Chambliss als den Mann, der die tödliche Bombe platziert hatte. Chambliss, ein Angehöriger der United Klans of America (UKA), Teil des Ku-Klux-Klans, wird angeklagt. In einem Prozess, der von rassistischen Vorurteilen geprägt ist, wird er jedoch des Mordes freigesprochen. Einzig eine lächerlich geringe Geldstrafe über 100 US-Dollar und drei Monate auf Bewährung für den illegalen Besitz von Dynamit sind die einzige Konsequenz seiner Tat.

Der Fall scheint geschlossen. Doch die Flamme der Gerechtigkeit loderte im Verborgenen weiter. Als Bill Baxley das Amt des Generalstaatsanwalts von Alabama übernimmt, öffnet er die FBI-Akte erneut. Was er findet, ist eine schockierende Offenbarung: Beweismaterial von immensem Gewicht war unter Verschluss gehalten und nie vor Gericht präsentiert worden.

Mit neuem Eifer und unerschütterlicher Entschlossenheit nimmt Baxley die Ermittlungen wieder auf. 15 Jahre nach dem Attentat, im Jahr 1977, wird Chambliss erneut angeklagt. Der inzwischen 73-Jährige kann sich diesmal nicht der Gerechtigkeit entziehen. Er wird des Mordes schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach acht Jahren im Gefängnis verstirbt er im Alter von 81 Jahren hinter Gittern. Bis zu seinem Lebensende beteuert er seine Unschuld. Erst im Mai 2000 wird der Fall vollständig aufgeklärt. Ein Gericht sieht es als erwiesen an, dass die UKA-Mitglieder Robert Chambliss, Thomas Edwin Blanton Jr. und Bobby Frank Cherry mit insgesamt 19 Dynamitstangen den Anschlag verübt haben. 2001 wird Thomas Blanton Jr. zu lebenslanger Haft verurteilt, 2002 folgt Bobby Frank Cherry. Ein weiterer mutmaßlicher Täter, Herman Cash, verstirbt vor Prozessbeginn.

Das Vermächtnis

Ein Jahr nach dem Anschlag, am 14. September 1964, öffnet die wieder aufgebaute 16th Street Baptist Church in Birmingham ihre Türen aufs Neue. Die Zeiger der Uhr im Kirchturm stehen bis heute auf der verhängnisvollen Uhrzeit 10:22 Uhr, um den Opfern zu gedenken. Die Gräueltat findet allerdings ein tragisches Echo ein halbes Jahrhundert später. Am 17. Juni 2015 tötet ein rassistischer Attentäter in der Emanuel African Methodist Episcopal Church in Charleston, South Carolina, neun Afroamerikaner*innen während einer Bibelstunde. Der Neonazi wurde schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.

Die Druckwelle hallt immer noch nach. Die Explosion ist weiterhin spürbar, und zwar in Form eines generationsübergreifenden Traumas. Der Kampf gegen den Hass muss fortgesetzt werden.

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