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Kommentar Antisemitismus durch Begegnung bekämpfen? Ja, aber…

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(Quelle: Unsplash)

„Ich bin noch nie einem Juden begegnet”, sagt die Person und schaut uns beide erwartungsvoll an. Der Blick gleitet vom Gesicht auf den Davidsternanhänger, der an der Kette baumelt und wieder zurück. Das hier ist kein pädagogisches Projekt, sondern ein Clubabend. Einer von uns hatte sich gerade noch ein frisches Getränk geholt. Im Hintergrund wummert der Bass. Menschen unterhalten sich angeregt. Wir beide tauschen uns hinterher über die Irritation aus, die wir in diesem Augenblick verspürt haben – wieder einmal. Dieser erwartungsvolle Blick.

Blicke und Sätze wie diesen gibt es viele. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben viele jüdische Menschen in Deutschland ähnliches erlebt, wenn sie sich in einem nicht-jüdischen Raum als jüdisch zu erkennen geben. Doch seit dem 7. Oktober 2023, seit dem brutalen Terrorangriff der islamistischen Terrororganisation Hamas, ist alles anders. Auch das Zusammentreffen von jüdischen und nichtjüdischen Menschen.

Von jüdischer Seite hat sich die Angst, Opfer von antisemitischen Anfeindungen im analogen oder digitalen Raum zu werden, verstärkt. Die Davidsternkette wird unter dem Pullover getragen, es wird vermieden im öffentlichen Raum Hebräisch zu sprechen und die Social-Media-Profile werden auf privat gestellt. Von Politik und Mehrheitsgesellschaft werden dennoch Erwartungen laut: Jetzt sei es an der Zeit für Begegnung und Dialog zwischen der jüdischen und nicht-jüdischen Menschen – vor allem zwischen Jüdinnen*Juden und Muslim*innen! Der Gedankengang dahinter, so könnten antisemitische Vorurteile abgebaut werden, beruht auf einem Irrtum und basiert gleich auf mehreren Trugschlüssen.

Unsichtbarkeit schützt vor Gefahr

Der offensichtlichste zuerst: In Deutschland leben je nach Schätzungen zwischen 90.000 und 200.000 Jüdinnen*Juden. Das sind optimistisch geschätzt knapp 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Jüdinnen*Juden sind eine absolute Minderheit. Ab dem Moment in dem die eigenen vier Wände verlassen werden, finden sich Jüdinnen*Juden bewusst oder unbewusst, sichtbar oder unsichtbar im interreligiösen und interkulturellen Dialog wieder. Oftmals ist sich das Gegenüber nicht einmal dessen bewusst, gerade mit einer jüdischen Person zu sprechen. Auch weil jüdische Communitys sich nach dem 7. Oktober um Unsichtbarkeit bemühen müssen – Kämpfe um Sichtbarkeit gehören angesichts der alltäglichen Bedrohung für viele erst einmal der Vergangenheit an. Wie diese Bedrohung aussieht, hat zum Beispiel die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) dokumentiert: Im Zeitraum zwischen dem 7. Oktober und dem 9. November 2023 kam es laut RIAS deutschlandweit zu 994 antisemitischen Vorfällen.

In dieser Situation wird von Jüdinnen*Juden erwartet, in den Dialog zu gehen. Dabei gibt es doch gerade da viele Schlaglöcher. In organisierten Dialogprojekten mit ihrem vermeintlich geschützten Raum ist es nicht ausgeschlossen, dass Jüdinnen*Juden als Stellvertreter*innen der gesamten Judenheit auftreten sollen oder dass sie exotisiert werden. Genauso können sie dort direkt mit Antisemitismus konfrontiert werden. Außerdem ist noch nichts gewonnen, wenn eine jüdische Person positiv wahrgenommen wird. Wir beobachten in gesellschaftlichen Debatten immer wieder, wie Jüdinnen*Juden als „Kronzeug*innen” herhalten müssen, um andere zu delegitimieren und die Meinung von Nicht-Jüdinnen*Juden zu untermauern.

Keine zweiten Chancen

Auch die Erwartungslast ist enorm: Muss ich versuchen, Stereotype durch mein Verhalten zu widerlegen? Und was, wenn ich sie doch erfülle? Wird mein Gegenüber jemals wieder eine*n Jüdin*Juden treffen, der den ersten Eindruck korrigieren kann – für den es doch bekanntlich keine zweite Chance gibt. Es ist kein Wunder, dass diese Projekte inzwischen auch auf therapeutische Nachbetreuung der jüdischen Teilnehmenden angewiesen sind.

Nichtsdestotrotz berichten die jüdischen Teilnehmenden von Dialogformaten auch davon, dass die Gespräche auf sie empowernd wirken können. Schließlich haben sie DIE Möglichkeit, über sich und ihr jüdisches Leben zu sprechen und dabei Vorurteile zu zerschmettern. Niemand anderes. Aber trotzdem gilt auch: Es sollte eigentlich nicht die Verantwortung von Betroffenen von Antisemitismus sein, antisemitische Ressentiments abzubauen, sondern die der Mehrheitsgesellschaft. Und: Wer ist überhaupt die „andere” Seite, also diejenigen, die für ein Miteinanderreden bereit sind?

Es sind nicht die überzeugten Antisemit*innen, die in Dialogformate gehen, sondern zumeist diejenigen, die sich für offene Geister halten. Ausgenommen die Situation ist nicht selbstbestimmt, zum Beispiel, wenn ein solcher Termin verpflichtend ist. Hinzu kommt, dass jeder Dialog an seine Grenzen stößt. Durch zahlreiche sozialwissenschaftliche Umfragen der letzten Jahre wissen wir, dass knapp ein Viertel der deutschen Bevölkerung antisemitische Ressentiments verinnerlicht hat. Das macht sie noch nicht per se zu manifesten Antisemit*innen. Diejenigen, die ein geschlossenes Weltbild haben, wird man so allerdings nur schwerlich erreichen. Diesem Fehlurteil saß zweifelsohne die Richterin Ursula Mertens am ersten Tag des Halle-Prozesses auf: Sie empfand es als traurig, dass der Rechtsterrorist die Synagoge nicht am Tag der offenen Tür besucht habe. Diese Aussage offenbart ein eklatantes und leider strukturelles Unverständnis über die Funktionsweisen des Antisemitismus.

Die Lösung des Nahostkonflikts?

Dieses strukturelle Unverständnis zeigte sich auch in den Debatten um Antisemitismus in muslimischen Communitys. Warum ist in Deutschland die Haltung so verbreitet, dass es sich um einen Konflikt „Juden gegen Muslime” handele? Immer wieder ist zu hören, dass Verständigung zwischen Jüdinnen*Juden und Muslim*innen zwingend nötig sei.

Nahe liegt die Aufforderung, dass hier lebende Jüdinnen*Juden oder Muslim*innen doch einfach noch mehr Dialog führen sollten. Dann werde schon der ganze Antisemitismus verschwinden und – überspitzt gesagt – der Weltfrieden eintreten. Genauso ist die Vorstellung in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitet, dass wenn sich Jüdinnen*Juden und Palästinenser*innen in Deutschland menschlich verstehen, es der Lösung des sogenannten Nahostkonfliktes zuträglich wäre. Ist denn nicht offensichtlich, wie schief dieses Bild hängt? Es wird krampfhaft versucht einen hochkomplexen historischen, geopolitischen, religiös-grundierten Konflikt nicht nur zwischen Israel und den Palästinenser*innen, sondern den arabisch-israelischen aufs kleinste runterzubrechen und damit auszulagern. Dabei wird ein Bild kreiert in dem Antisemitismus lediglich anderswo existieren würde. Der Antisemitismus der Anderen. Der deutsche ist verschwunden.

Gemeinsamkeit als Minderheit

Tatsachen spielen nämlich oft keine Rolle. Denn Antisemitismus in muslimischen Communitys ist ein real existierendes Problem und Lösungen abseits von teils populistischen Forderungen gibt es aktuell keine. Gleichzeitig ist es nicht die Aufgabe der weißen, christlichen Mehrheitsgesellschaft, zwischen jüdischen und muslimischen Menschen zu „vermitteln”. Es wird auch immer wieder ein falsches Bild fortgetragen: Der gesellschaftliche Zusammenhalt sei durch Anfeindungen zwischen diesen beiden Gruppen gefährdet. Dabei berichten jüdische und muslimische Dialogteilnehmende zuweilen auch von ähnliche Erfahrungen als Minderheiten in Deutschland.

Ihre Probleme sind oft gesamtgesellschaftlicher Natur wie z.B. Antisemitismus und Rassismus. Von denen sie selber nicht immer ganz frei sind. Insofern sind Dialogformate darauf angewiesen, die sprichwörtlichen „Samthandschuhe” auszuziehen. In ihnen braucht es Raum für Streit und für Probleme. Es braucht Raum für Gefühle und auch für schwierige Meinungen. Gleichermaßen ist es nur möglich sich gegenseitig in der Vermittlungsrolle zu bestärken. Denn dort kommen die Menschen zusammen, die es oft am schwersten haben. Sie werden von allen Seiten angegriffen, und hören den Vorwurf, „Nestbeschmutzer” oder „Verräter”. Die besten Dialogprojekte empowern und schaffen gemeinsame Perspektiven.

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