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Kommentar Antisemitismus gefährdet den Fortschritt

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Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Das Wetter dieses Monats mag schicksalhaft sein oder ein furchtbarer Unfall, für den niemand etwas kann, eine plötzliche Krankheit vielleicht auch – aber der 9. November ist es keineswegs. Weder die Maueröffnung 1989 noch die antisemitischen Pogrome 1938 kamen über das Land wie eine Naturkatastrophe. Beides hatte menschengemachte Ursachen. Beides prägt den November. Doch in der Wahrnehmung unterscheiden sich diese Anlässe gründlich. So sehr wie die Maueröffnung gefeiert wird als ein Akt der deutschen Selbstbefreiung, so wenig gilt die Pogromnacht als etwas, dessen Kern bis heute existiert.

Ich weiß nicht, ob dieser Kern der Antisemitismus oder die Verschwörungstheorie ist. Beides gehört gewiss zusammen. Der alte wie der neue Antisemitismus haben den Verschwörungsmythos als zentrale Figur. Das eine ohne das andere funktioniert nicht. Mag sein, dass es Verschwörungsideologien gibt, die nicht antisemitisch sind. Das ist jedoch selten der Fall, denn es liegt in der Natur solcher Ideologien, dass sie die Schuld an etwas da suchen, wo sie Macht, Einfluss und Geld vermuten. Also bei den Juden, die auch in ihrer politischen Interpretation mal Zionisten und mal Imperialisten genannt werden – je nachdem inwieweit die Vorstellung von solchen „Akteuren“ in irrationaler Weise für alles Übel der Welt in Haftung genommen werden.

Wer auf diese Art antisemitisch ist, braucht sich um den Rest nicht zu kümmern und das ist sehr praktisch. Er oder sie sieht sich als ohnmächtig, gestaltungsunfähig und ausgeliefert und das bedeutet, für nichts und niemanden Verantwortung zu übernehmen oder erwachsen zu handeln. Stattdessen kann er oder sie an der Entwicklung der eigenen Wut, am Hass auf die vermeintlichen Verursacher ihrer infantilen Starre arbeiten. Das „Post-Faktische“, von dem heute so viele reden, gehört dazu. Ohne das Post-, Prä- oder Antifaktische würden Verschwörungsphantasien ja nicht funktionieren. Und wir leben heute in einer Zeit, in der genau diese schrägen Ansichten zu unserem Alltag gehören. Wer kann da behaupten, der Antisemitismus wäre heute nicht mehr relevant?

Antisemitismus hat tiefe Wurzeln in der Geschichte der Menschheit

Wie er sich ausdrückt, ist mit einigen Beispielen rasch aufgezählt: Die Vertreter*innen der UNESCO bestreiten, dass der Tempelberg in Jerusalem irgendetwas mit der Geschichte der Juden zu tun hätte. Das ist so, als würde man behaupten, das Meer hätte nichts mit Wasser zu tun. Oder: Rechtsextreme, ob hard-core oder in softerem Gewand, halten die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel für eine Einflüsterung mächtiger Juden, die so das deutsche Volk ausrotten wollen. Oder: Manche islamistisch geprägten Jugendlichen denken, dass die Juden absolut alles zu verantworten haben, was ihnen an Schlimmem widerfährt; ob es nun Kriege in Nahost sind oder schlechte Noten in der Schule – die Juden haben stets ihre Hände im Spiel. Alle eint diese Vorstellung: Amerika gleich Israel gleich Schuld an Krieg, Vertreibung, Rassismus oder Wassermangel. Was es auch sei – der Jude ist schuld. Und wenn Menschen, die sich so ihre Welt zusammenspinnen, einen Juden treffen, dann kann es auch mal handgreiflich werden oder schlimmeres. Die Erfassung antisemitischer Vorfälle zeigt, wie reale Bedrohung von Juden heute aussieht. Antisemitismus ist kein Nebenkonflikt in einem globalen Klassenkampf, er ist menschengemacht, und er hat tiefe Wurzeln in der Geschichte der Menschheit. Und wie zu allen Zeiten gefährdet er nicht nur die Juden, sondern jeglichen Weg zum Fortschritt. Die Moderne und ihren Optimismus zu zerstören war zu allen Epochen das Ziel der Antisemiten. Genau wie heute in der Zeit des „Post-Faktischen“.

Die „Aktionswochen gegen Antisemitismus“ der Amadeu Antonio Stiftung, die wir 2016 erstmals mit dem Anne Frank Zentrum gemeinsam durchführen, werden dieses Jahr besonders den Aspekt der antimodernen Stimmung, der hassgeladenen Aufregung um Flüchtlinge und Globalisierung ins Auge fassen. Auch den 5. Jahrestag der NSU-Aufdeckung am 4. November und dessen antisemitischen Charakter, der bei der Betrachtung des Nationalsozialistischen Untergrundes so häufig unter den Tisch fällt, werden wir im Kontext der Aktionswochen behandeln. Und selbstverständlich wird in diesem November auch des Beginns der Barbarei gedacht, die 1938 mit den November-Pogromen ihren ersten, schrecklichen Ausdruck fand. Und die mit der Maueröffnung 1989 noch lange nicht vom Antlitz der Erde verschwunden ist.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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