Von Robert Claus, der Kommentar ist zuerst auf „Werkstatt-Blog“ erschienen
Der britische Soziologe Stuart Hall schrieb einmal, die weißen Engländer*innen seien nicht rassistisch, weil sie die Schwarzen hassten, sondern weil sie ohne die Schwarzen gar nicht wüssten, wer sie selber sind. Hall, im Februar 2014 verstorben, hätte mit seinem Ausspruch auch die Debatte um „Integration“ in Deutschland meinen können. Beispiele gefällig?
Es ist das Jahr vor der WM, in einem politisch hitzigen Sommer wird ein lange gärendes Thema im Bundestag diskutiert und letztlich entschieden. Es geht um sexualisierte Gewalt, um das Thema Vergewaltigung. Denn bis dato sind diese in Ehen nicht strafbar. Letztlich wird der Tatbestand „außerehelich“ aus dem Gesetz gestrichen, Vergewaltigungen in Ehen können nun strafrechtlich verfolgt werden. Das Thema stand lange auf der Agenda, doch stets wehrten es rechtskonservative Kräfte ab.
Wir sprechen nicht vom Jahr 2017, der Debatte um #metoo und der WM in Russland. Die Entscheidung, Vergewaltigungen konsequent zu verfolgen, fiel im Mai 1997, die WM in Frankreich stand ein Jahr später an. Jener Polithooligan, der sich heute Bundesminister des Innern schimpft, stimmte seinerzeit gegen den Beschluss. Es sollte noch zwanzig Jahre dauern und eine Silvesternacht in Köln brauchen, bis Rechte vermeintlich begannen Vergewaltigungen wirklich schlimm zu finden. Oder anders gesagt: Ohne sexuell übergriffige Migranten hätte es keinen nationalen Konsens gegen sexualisierte Gewalt gegeben. Projektion olé.
Solche Diskussionen sind in Deutschland en vogue, seit dem Spätsommer 2015 erst recht. Die Liste solcher Beispiele, auch für den Fußball, ist lang: Erkannten deutschnationale Fußballfans die Bedeutung des Mitsingens der Nationalhymne nicht erst, als Migrant*innenkinder es wagten, ebenso stumm wie die Beckenbauers und Müllers der 1970er während der Hymne zu verharren? Entdeckte der rassistische Facebook-Mob seine Antipathie gegen Bilder deutscher Starkicker mit demokratietechnisch zweifelhaften Politikern nicht erst, als zwei Gelsenkirchener mit sog. Migrationshintergrund dem türkischen Präsidenten signierte Trikots überreichten, und nicht bereits, als Matthäus neben Viktor Orbán lächelte?
Vor diesem Hintergrund ist es zwar gut gemeint, die fußballerischen Leistungen eines Mesut Özil in der aktuellen Debatte zu betonen, seine Zweikampfwerte und Passquoten ins Feld zu führen. Doch gehen derlei Argumente dem Schauspiel auf den Leim, dass sich die Debatte im Kern wirklich um sportliche Aspekte drehe. Özil hätte das Spiel seines Lebens machen können, es würde ihm kaum nützen. Wie schon an den Shitstorms und der Auseinandersetzung mit der AfD in den letzten Monaten zu sehen war, genügt es kaum, mit Fakten gegen Projektion und Hass angehen zu wollen. Vielmehr müssen Denkweisen und politische Strategien entlarvt werden.
Denn der Rassismus, der Özil entgegenschlägt, geht weit über banalen, extrem rechten Türkenhass hinaus. Mit den Worten von Stuart Hall gesprochen, führen Teile der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf seinem Rücken gerade eine Diskussion zur Selbstvergewisserung, die ein einzelner kaum schultern kann – auch nicht, wenn er Millionen zwischen Madrid und London verdient. Im Zentrum der Diskussion steht wieder einmal die Frage: Was ist deutsch? Bezeichnenderweise ist es die AfD, die sich dem Thema am intensivsten widmet und konstant gegen Özil hetzt. Selbst dort, wo die Partei und ihre Fußtruppen nicht direkt den Ton angeben, haben sie den Diskurs nach rechts verschoben und dort festgekettet.
Was unterscheidet Özil von Podolski?
Womit wir beim zweiten Verteidigungsfehler wären: Der Behauptung der DFB-Spitze, Özil (und Gündo?an) hätten sich zu deutschen Werten bekannt. Nach dem mehr als dümmlichen Foto der beiden Mittelfeldspieler mit Recep Tayyip Erdogan organisierte der Verband mehrere Treffen, u.a. mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Danach verlautbarte man mehrfach, beide stünden zu „unseren Werten in Deutschland“ (Oliver Bierhoff). Dabei blieb stets unklar: Welche Werte sind gemeint und wer hat sie beschlossen? Haben sich auch alle anderen Nationalspieler dazu bekannt?
Es blieb der (erfolglose) Versuch, die nationalistische Kritik zu beruhigen, doch wurde sie indirekt dabei unterstützt: Das Vorgehen der Verbandsspitze zeigt, wie stark sog. Integration in Deutschland noch immer als Assimilation, als Einbahnstraße und Bekenntniszwang für Migrant*innen verstanden wird. Oder zweifelte jemand am Verhältnis von Lothar Matthäus zu Deutschland nach seinen Bildern mit Viktor Orbán? Musste Lukas Podolski nach seinem Werbevideo für die Türkei auf die bundesdeutsche Verfassung schwören?
Am Ende bleibt nur eines: Ohne Özil und Gündogan wüsste der nationale Stolz jenseits vergilbter Pokale kaum, wer er selber ist. Deutsche Werte stehen wie der große Elefant im Raum, und doch kann sie kaum jemand benennen. Dank Mesut Özil und Ilkay Gündo?an können wir nur erahnen: Mit Erdogan und irgendwie auch mit „Türken“ generell haben sie wohl kaum etwas zu tun. Zudem scheinen Deutsche immer (?) die Hymne zu singen, oberdemokratisch unterwegs zu sein, lebenslang Topleistungen zu bringen und niemals aufzugeben. Ende der Ironie.
Das „Wir gegen die anderen“ des Fußballs wird zu einem „Wir hassen und brauchen die anderen“, Identität über Abgrenzung. Gerade (Deutsch-)Türken in Deutschland sind keineswegs eine homogene Gruppe, doch bilden sie in den Augen von Rassist/innen den größten Fremdheitsblock im Lande. Sie brauchen die Türken, um sich ihrer Selbst zu vergewissern, ein psychologisches Armutszeugnis. Stuart Hall wusste mehr über den deutschen Fußball, als er jemals ahnte.
Robert Claus, Jahrgang 1983, forscht, hält Vorträge und publiziert zu den Themen Fankulturen, Hooligans, Rechtsextremismus, Männlichkeiten, Soziale Bewegungen und Gewalt. Zuletzt erschien von ihm „Hooligans. Eine Welt zwischen Gewalt, Fußball und Politik“.