Die Unschuldsvermutung ist eine wichtige Errungenschaft für eine fairere Justiz, denn sie vermindert Vorverurteilungen von unliebsamen Einzelpersonen und vulnerablen Randgruppen. Doch manchmal treibt die Unschuldsvermutung sonderbare Blüten. An der Tür der Flüchtlingsunterkunft in Groß Strömkendorf, die in Brand gesteckt wurde, war ein Hakenkreuz aufgemalt worden. Da liegt die Vermutung schon nahe, dass der Brandanschlag vermutlich auf das Konto rechtsradikaler Täter geht. Leider passt das auch zur Stimmung im Land.
In dem ausgebrannten Haus hatten ukrainische Geflüchtete ein Obdach gefunden. Gott sei Dank sind keine Todesopfer zu beklagen. „Raus aus dem Bombenhagel und rein in den Menschenhass“, so ließe sich die Biografie ihres Überlebens zusammenfassen. Damit teilen sie das Schicksal zahlreicher Geflohener aus Eritrea, Syrien oder dem Jemen.
Dabei sind die Gegebenheiten der Aufnahme ukrainischer Geflüchteter doch andere. Noch am Vortag hatte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Regelung verteidigt, dass ukrainische Flüchtende keinen Asylantrag stellen müssen, weshalb sie berechtigt sind, Sozialleistungen zu beziehen und eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Damit hat er im Grunde einen europaweit lancierten Zwei-Klassen-Flüchtlingsschutz verteidigt.
Dieser Zwei-Klassen-Flüchtlingsschutz ist hochproblematisch, denn er diskriminiert zwischen „guten“ und „schlechten“ Flüchtlingen. Die ukrainischen Kriegsvertriebenen werden als weiß, christlich und deshalb wohl „zivilisiert“ wahrgenommen. Alle anderen Kriegs- und Armutsvertriebenen werden als muslimisch und nicht weiß wahrgenommen und zugleich auch als eine gewisse Gefahr. Das gilt auch, wenn sie zum Beispiel syrische Christ*innen oder irakische Yesid*innen sind.
Den nicht-europäischen Flüchtenden wird unterstellt, dass sie in Europa bleiben wollten, während die Ukrainer*innen nur Schutz suchten, um nach Kriegsende ihre Heimat wieder aufzubauen. Dieser Sprech suggeriert eine heroische Haltung der Ukraine-Flüchtlinge und eine prinzipielle Verschlagenheit der Anderen. Die Afghan*innen, mit denen ich deutsch geübt habe, wollten alle zurück in die Heimat.
Der Zwei-Klassen-Flüchtlingsschutz beruht auf rassistischen, chauvinistischen und konfessionellen Vorurteilen. Und er erscheint als politisches Manöver, um eine Wiederholung der Krisenstimmung von 2015/16 zu verhindern. Dieses Manöver einer sanften Diskriminierung ist gescheitert: Das Haus brennt.
Das sich der Hass des blau-braunen Milieus auch gegen Ukrainer*innen entlädt, darf niemanden verwundern, wenn selbst der Vorsitzende der CDU von „Sozialtourismus“ schwadroniert. Die Unionsparteien verklären sich gern als Brandmauer gegen rechts. Herr Merz jedoch stellt sich auf die Mauer und lädt radikalere Zeitgenossen zum Zündeln ein.
Das Manöver war allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es die Funktionsweise der Verschwörungsnarrative in der Neuen Rechten außer Acht lässt. Für Anhänger*innen der extremen Rechten ist es egal, von wem das deutsche Volk verdrängt wird. Ob das arische Blut gegen den „afrikanischen Ausbreitungstyp“ (Björn Höcke, AfD), gegen „alimentierte Messermänner“ (Alice Weidel, AfD) oder „slawische Untermenschen“ (Adolf Hitler) ausgetauscht wird, spielt keine Rolle. Es zählt allein die Bedrohung der völkischen Reinheit.
Hinter jeder dieser Umvolkungsvariablen steht als Verschwörungserzählung immer das feministisch-queere Weltjudentum. Die Konstruktion des Feindbilds ist ein weiterer Grund, weshalb ukrainische Kriegsvertriebene sich nicht auf eine sichere Zuflucht in Deutschland verlassen dürfen: Denn auch den Ukraine-Krieg hat nach der neurechten Vorstellung nämlich der jüdische Weltfeminismus vom Zaun gebrochen. Die sanfte Diskriminierung des Zwei-Klassen-Flüchtlingsschutzes kann den harten Hass der Rechtsradikalen nicht abfedern, in deren Logik die Ukraine selbst der Feind ist. Putin versucht nach der Querlogik blau-brauner Bannerträger nur, den zersetzenden Einfluss der linkskapitalistischen ukrainischen Queernazis zu bekämpfen, um das russische Volk zu retten. Putin wird zum Vorbild im Kampf um den Erhalt der Volksgesundheit stilisiert.
Derart fakten- und sinnresistenten Vorstellungswelten lassen sich nicht durch Zugeständnisse an ethnische, kulturelle oder religiöse Vorurteile entschärfen, wie sie dem Zwei-Klassen-Flüchtlingsschutz zugrunde liegen. Die sanfte Diskriminierung trägt lediglich dazu bei, die harte Ideologie salonfähig zu machen, indem sie das prinzipielle Diskriminierungsverbot aushöhlt.
Ganz im Gegenteil sind Politik, Staats- und Verfassungsorgane, aber auch zivilgesellschaftliche Akteure aufgefordert, am prinzipiellen Diskriminierungsverbot festzuhalten und es gegen populistische Versuchungen zu verteidigen. Nur das prinzipielle Diskriminierungsverbot ermöglicht demokratischen Pluralismus. Und nur demokratischer Pluralismus ist wirklich eine Brandmauer gegen Rechts.