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Kommentar Die documenta 15 kann beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen

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Jetzt mit schwarzem Tuch: Das Grossgemälde "People’s Justice" (2002) des Kollektivs Taring Padi zeigt antisemitischen Hass in popkultureller Aufmachung. (Quelle: picture alliance/dpa | Uwe Zucchi)

Der Scham- oder moderner: Cringe-Faktor angesichts des Antisemitismus auf der am Wochenende eröffneten documenta 15 ist aktuell unermesslich und steigert sich gefühlt stündlich.

Bereits nach Benennung des Künstler:innenkollektivs ruangrupa aus Indonesien als documenta-Gestalter:innen gab es Warnungen vor der als Kunst verbrämten Darstellung von Antisemitismus auf Deutschlands meistbeachteter Großausstellung internationaler Kunst. So kritisiert etwa der Zentralrat der Juden in Deutschland, dass von ruangrupa u.a. ein palästinensisches Kollektiv eingeladen wurde, von dem einzelne Mitglieder in einer Organisation arbeiten sollen, die nach einem Hitler-Getreuen der Dreißigerjahre benannt ist. Auch seien bei der documenta Gruppen eingebunden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützen (vgl. Tagesspiegel). Im Mai 2022 stellte der Zentralrat dann fest, dass wohl schon ein Boykott auf der documenta stattfände, weil kein einziger israelischer Künstler eingeladen worden sei (vgl. Tagesspiegel). Dies allerdings fand weder bei der documenta-Leitung und noch in deutschen Feuilletons große Resonanz. Denn schließlich sollte ja mit der Benennung von ruangrupa der Eurozentrismus der Kunstausstellung aufgebrochen werden.

Prinzip Hoffnung statt Auseinandersetzung: Gescheitert

Eurozentrismus meint: Die Konzentration der Kulturwelt auf die nördliche Hemisphäre und besonders auf Europa und Nordamerika. Stattdessen sollte nun der Blick geweitet werden und der „globale Süden“ seine Repräsentation bekommen, grundsätzlich ein unterstützenswertes und potenziell spannendes Anliegen. Die documenta-Leitung berief sich auf die Freiheit der Kunst und die Freiheit des Künstlerkollektivs und verpasste Chancen im Vorfeld der Ausstellung, über künstlerische Darstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und speziell über Darstellungen des Antisemitismus zu sprechen. Hier mit der Argumentation: Man wisse ja noch gar nicht, was gezeigt werde. Prinzip Hoffnung statt dem Versuch, über demokratische Werte und die Grenzen des Sagbaren zu sprechen, die da liegen, wo Menschen aufgrund einer zugeschriebenen Identität herabgesetzt, entmenschlicht und beleidigt werden oder ihnen das Existenzrecht abgesprochen wird.

Dabei hatte es offene Gründe gegeben, sich für eine Debatte oder auch eine Grenzziehung im Vorfeld einzusetzen. So waren ja mehrere Künstler:innen eingeladen, die die BDS-Bewegung unterstützen, die bestenfalls zu einem Boykott Israels aufruft, aber in letzter Konsequenz das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Jüdinnen und Juden betonten im Vorfeld, dass zwar nicht alle BDS-Unterstützer:innen antisemitisch seien, sich Jüdinnen:Juden aber durch BDS-Anwesenheit nicht mehr sicher in einem Umfeld fühlen, wo diese Aussagen akzeptiert werden. Aber offenbar hofften die documenta-Verantwortlichen, diese Künstler:innen würden ihren Antisemitismus ja wohl nicht in der Kunst ausagieren, und man könne so der Debatte entgehen, wie akzeptabel Rufe nach der Ausradierung Israels seien. Oft heißt es, wie inakzeptabel diese Rufe im Land des Nationalsozialismus und des Holocausts seien. Aber ehrlich gesagt: Wer es ernst meint mit dem Wunsch nach Demokratie und der Gleichwertigkeit aller Menschen, der darf solche Rufe niemals akzeptieren, nirgendwo auf der Welt.

Offenerer Antisemitismus geht nicht

Nur brauchen wir aber auch nicht mehr rätselraten, wie antisemitisch die documenta 15 denn werden wird, denn sie ist am Wochenende des 18. und 19. Juni 2022 eröffnet worden. Leider erinnert Ausstellung und Reaktionen vor allem an ein Bild des deutschen Pop-Art-Künstlers Martin Kippenberger, das ein geringfügig dekonstruiertes Hakenkreuz zeigt und den schönen Titel trägt „Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen“. Auf der documenta 15 wollte man dagegen beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen – und das, obwohl einer der ältesten Stereotypen der Welt auf die gigantisch große Mittelinstallation der documenta auf dem Friedrichsplatz gedruckt wurde: „People’s Justice“ vom Künstlerkollektiv Taring Padi aus Indonesien. Hier zu sehen: Ein Jude mit Hakennase, Schläfenlocken, blutunterlaufenen Augen, zoomorph entmenschlicht mit Raffzähen gestaltet, gekleidet als Kapitalist mit Zigarre, Bowler, Anzug mit gelbem Revers und auf dem Hut noch SS-Runen, um sein Handeln mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen und Täter-Opfer-Umkehr zu betreiben. An anderer Stelle des Plakates: ein Soldat mit Schweinegesicht, auf seinem Helm steht „Mossad“ (der israelische Geheimdienst), um den Hals ein Halstuch mit Davidsstern. Immerhin: Expliziter kann man Antisemitismus kaum ausdrücken. Interpretationsspielraum bleibt da keiner. Wenn hier zur Beschreibung vom Stil des nationalsozialistischen „Stürmers“ die Rede ist, ist das keine Metapher, sondern einfach zutreffend. Als dieses Werk installiert worden ist, hätte sich spätestens – und geschickterweise vor der Eröffnung der documenta – die Frage gestellt: Und nun?

Denn offenkundig werden auf der documenta 15 antisemitische Kunstwerke gezeigt. Das Werk von Taring Padi ist das größte und expliziteste, aber es gibt weitere wie etwa den Zyklus „Guernica Gaza“ von Mohammed Al Hawajiri im Documenta-Standort WH 22, der Pablo Picassos „Guernica“ nachgestaltet und damit das Handeln Israels mit dem der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten im Zweiten Weltkrieg gleichsetzt. Hamja Ahsan bewirbt in einer Installation „Halal Fried Chicken“, darunter läuft ein Ramadan-Gruß, zusammen mit der Botschaft „Taste of a Liberated Palestine.“

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Es gehört zur Kunstfreiheit, antisemitische Plakate oder Installationen zu schaffen. Die Künstler:innen müssen dann aber auch Kritik daran aushalten – bis zum Entschluss, ihr Werk dann nicht zu zeigen. Denn es ist immer eine Entscheidung, Kunst, die antisemitische Stereotype zeigt, aufgrund des menschenverachtenden Inhaltes zurückzuweisen – oder eben diese auszustellen. In Kassel wird uralter Antisemitismus auf der größten und wichtigsten Ausstellung moderner (!) Kunst gezeigt, die wir in Deutschland haben. Die antisemitischen Werke werden so auf eine Bühne gehoben, ins Scheinwerferlicht gestellt, ihre Wirkmacht wird erhöht, die Stereotype wieder und wieder reproduziert (leider auch in jeder Berichterstattung, auch dieser hier).

Die documenta 15 entscheidet sich zur Akzeptanz von Antisemitismus

Die documenta 15 hat sich entschieden, die Kunstwerke zu zeigen. Unkommentiert, in der Mitte der Stadt, in riesigem Format. Doch statt zum eigenen Antisemitismus oder zumindest zur eigenen Ignoranz zu stehen, wird das Werk von Taring Padi nun „verhüllt“ mit schwarzen Tüchern. Die Presseinformation dazu enthüllt dagegen mit jedem Satz, wie wenig verstanden wurde, worum es hier geht. Die Rede ist davon, die „Figurendarstellung“ würde „antisemitische Lesarten“ bieten. Welche nicht-antisemitische Lesart von SS-Globalisten-Juden und Mossad-Schweine-Soldaten ist denn für die documenta und / oder das Künstlerkollektiv vorstellbar? Das wäre interessant zu wissen.

Das Künstlerkolletiv Taring Padi wiederum will sich in dem Werk von 2002 nur mit der 32-jährigen Militärdiktatur Suhartos in Indonesien befasst haben. Dafür habe man „in Indonesien verbreitete Symbolik“ verwendet, etwa „für die korrupte Verwaltung, die militärischen Generäle und ihre Soldaten, die als Schwein, Hund und Ratte symbolisiert werden, um ein ausbeuterisches kapitalistisches System und militärische Gewalt zu kritisieren.“ In Indonesien ist Antisemitismus weit verbreitet. Es gibt dort „Dritte-Reich-Restaurants“ gibt, wo die Besucher:innen Selfies mit Hitler schießen können, Chinesen werden als „die Juden Südostasien“ abgewertet und die verschwörungsideologischen, erlogenen „Protokolle der Weisen von Zion“ werden bis heute als glaubwürdige politische Literatur gelesen (vgl. tablemag.us). Angesichts eines im Februar 2022 eröffneten Holocaust-Museums in Nordsulawesi kommentierte der Vizepräsident des muslimischen Rats der Ulama (Majelis Ulama Indonesia, Mui), das Museum sei eine „Provokation“ für Indonesiens Bevölkerung und solle das Museum „dem Erdboden gleichgemacht werden“. Indonesien unterhält auch keine diplomatischen Beziehungen zu Israel – weil das Land sich auf der Seite Palästinas im Nahostkonflikt sieht (vgl. Quantara.de).

Das heißt aber auch: Weil in Indonesien Antisemitismus so verbreitet ist, erschien es den Künstler:innen selbstverständlich, korrupte Verwaltung oder das ausbeuterische kapitalistische System als Juden zu verkörpern. Das wurde schon bei den Nationalsozialisten so gehandhabt, die auch gern die „Protokolle der Weisen von Zion“ gelesen haben. Der mit Davidsstern als jüdisch markierte Soldat als Schwein steht in der Tradition von „Judensau“-Darstellungen, die es seit dem Mittelalter gibt – und deren öffentliche Zurschaustellung heute zurecht diskutiert werden (vgl. jüngst in Deutschland das Urteil zur „Judensau” in Wittenberg, tagesschau.de). Würde eine rechtsextreme Partei auf Plakaten diese Symboliken wählen, würde man das als niedersten und böswilligsten Antisemitismus verurteilen. Wenn es ein indonesisches Künstlerkollektiv macht, ist es – immer noch niederster und böswilligster Antisemitismus. Dass Indonesien kaum jüdische Bevölkerung hat und deshalb diese Darstellungen nicht einmal ansatzweise die Chance haben, in etwas anderem als antisemitischen Stereotypen zu fußen, sollte auch erwähnt werden.

Wenn Antisemitismus als alltäglich wahrgenommen wird, ist dies erst Recht ein Grund zum Einspruch

In der Pressemitteilung geht es mit der nächsten fadenscheinigen Argumentation weiter: Das Werk, es stammt aus dem Jahr 2002, sei auch schon in Adelaide (Australien), Jakarta, Yogyakarta und Nanjing (China) gezeigt worden, ohne dass es jemand gestört habe. Das ist keine Rechtfertigung – es ist ein Grund zur Besorgnis und illustriert nur, wie wenig Antisemitismus als Menschenfeindlichkeit sichtbar ist und erst genommen wird.

Das Künstlerkollektiv schreibt weiter: „Unsere Arbeiten enthalten keine Inhalte, die darauf abzielen, irgendwelche Bevölkerungsgruppen auf negative Weise darzustellen.“ Nun, das können sie zwar behaupten, aber es stimmt nicht. Auch wer seinen Antisemitismus nicht als solchen benennt, kann trotzdem antisemitisch handeln – oder malen. Geradezu unverschämt ist die Behauptung: „Die Figuren, Zeichen, Karikaturen und andere visuellen Vokabeln in den Werken sind kulturspezifisch auf unsere eigenen Erfahrungen bezogen.“ Wie dargelegt, handelt es sich bei der Gestaltung der Darstellungen um antisemitische Stereotype, die im christlichen Antisemitismus fußen, mit islamischen Antisemitismus angereichert werden und nichts mit „eigenen Erfahrungen“ in Indonesien zu tun haben. Nun beteuern die Akteur:innen, sie hätten keinen Antisemitismus im Sinn gehabt und seinen nun „traurig“, dass „Details dieses Banners anders verstanden werden als ihr ursprünglicher Zweck“.

Wie schön wäre nun ein Dialog zur Frage, was denn dieser ursprüngliche Zweck gewesen sein solle. Wenn die Aussage heißen soll: „Antisemitismus ist für uns so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken“, dann wäre jetzt vielleicht eine Gelegenheit dazu gegeben, darüber nachzudenken, wie es einem ginge, wenn eine andere Bevölkerungsgruppe, vielleicht die, der man sich selbst zurechnet, so als Verkörperung des ultimativ Bösen dargestellt worden wäre.

Stattdessen endet das Statement von Taring Padi mit der Aussage: „Das Werk wird nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs in diesem Moment. Wir hoffen, dass dieses Denkmal nun der Ausgangspunkt für einen neuen Dialog sein kann.“ Nun, da läge der Ball aber sehr deutlich beim Künstlerkollektiv und der documenta.

Die documenta allerdings kann sich nicht dazu durchringen, den Antisemitismus dieses Werks – und anderer – zu verurteilen oder sie wenigstens erst einmal zu benennen. Stattdessen schreibt die Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH dazu, man ließe sich Kunstwerke nicht „zur Prüfung vorlegen“, die 20 Jahre alte Arbeit sei im Kontext der politischen Protestbewegung Indonesiens entstanden, und man bedaure, dass „Gefühle verletzt wurden.“ Als sei plakativer Antisemitismus, der weltweit und in Deutschland nach wie vor zu gewalttätigen bis tödlichen Angriffen auf Menschen führt, die nur aufgrund ihrer Zuschreibung als Jüdinnen und Juden attackiert, verletzt und getötet werden, ein „Gefühl“ neben anderen, über das sich diskutieren ließe.

Offenbar befindet sich der Teil der deutschen Kunstszene, den die documenta repräsentiert, aktuell nicht in einem Zustand, zu gesellschaftlichen Wertedebatte und zentralen Fragen des sozialen Friedens und Zusammenlebens etwas Zielführendes beizutragen. Denn neben der Ignoranz des Antisemitismus sind auch Argumentationen in der Art, man müsse Künstler:innen des „globalen Südens“ ihre „eigenen Erfahrungen“ zugestehen, selbst tief rassistisch, weil sie den Künstler:innen nicht das Reflexionsniveau zutrauen, die Menschenverachtung in solchen Darstellungen zu erkennen. Dabei gibt es weltweit auch viele Künstler:innen, die das schaffen: Gesellschaftskritisch, aber nicht antisemitisch zu sein. Vielleicht hätte die documenta lieber diesen eine Bühne geben sollen. Aber sie hat ja noch bis September 2022 Zeit für den Dialog, den sie so vermisst.

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