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Kommentar Es ist Zeit für Klarheit

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Anetta Kahane ist Senior Consultand und ehemalige Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung.

Als ich vor dem barocken Zwinger in Dresden stand, musste ich an jene Gemälde denken, die guten und die schlechten, an denen sich heute die Betrachter erfreuen. Und ich habe mich gefragt, ob es wohl einen symbolischen Augenblick geben würde, der die Situation am 65. Jahrestag der Zerstörung Dresdens angemessen darstellen könnte.

Auf dem Platz vor dem Zwinger hatten sich Christen zum Friedensgebet versammelt, vor dem Rathaus bildete sich gerade eine Menschenkette um die Altstadt und am anderen Ufer der Elbe setzten sich junge Leute auf Gleise und Strassen um den Marsch der Nazis wohin auch immer zu verhindern. Es war das erste mal, dass es gelungen ist trotz Verdrängung und ideologischer Kämpfe um die Frage von Schuld an Krieg und Vernichtung und des Gedenkens an die Opfer der Vergangenheit, der gegenwärtigen Gefahr ins Auge zu schauen. In unserem Bild machen die wenigen tausend Nazis, die umzingelt am Neustädter Bahnhof nach dem Aufbruch schrien, nicht so furchtbar viel her. Sie sind heute keine wirkliche Gefahr für die demokratische Rechtsordnung, weder in Menge noch in Gesinnung.

Dennoch bedeuten sie eine Bedrohung. In Zossen ist das Haus der Demokratie abgebrannt, Angriffe auf Personen und Projekte, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, erreichen uns nun fast jeden Tag und die direkten Bedrohungen durch Anrufe, Briefe und auf Websites nehmen zu. Sie greifen Flüchtlinge, Einwanderer oder Schwarze an. Sie schüchtern Menschen ein, die sich gegen Rassismus wenden, der auf bizarre Weise zur Normalität gehört. Sie machen einen systematischen Unterschied zwischen Gruppen, denen sie als völkische Schiedsrichter jeweils einen Wert zu leben zuordnen. Sie propagieren diesen Unterschied und sie verletzen oder töten Menschen deswegen. Und: sie berufen sich dabei immer wieder auf die Geschichte, deren Opfer die Deutschen sein sollen. Dabei spielen sie auf der Klaviatur der allgemeinen Stimmung eines neuen Antiimperialismus, bei dem viele Konservative wie Linke in der Zerstörung Dresdens durch die Alliierten das böse Omen einer „amerikanisch-zionistischen“ neuen Weltordnung sehen, die Ereignisse von heute mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gleichsetzt.

Angriffe der neuen Nazis werden bagatellisiert

Gefährlich sind die neuen Nazis also doch, weil sie dem Bild einige gruselige Unschärfe verleiht, die aus den Tiefen der Geschichte bis vor die Tore des Rathauses reicht, vor dem die Bürgermeisterin nur mit Mühe einige Worte über diejenigen verliert, die „jenen unseligen Krieg begonnen haben“. Und gefährlich sind sie vor allem dann, wenn ihre Angriffe bagatellisiert oder schlimmer – mit linksextremer Gewalt gleichgesetzt werden. Das ist absurd weil es nicht der Realität entspricht, sondern wieder nur dem ideologischen Abwiegeln dient. In Dresden jedenfalls gab es keine linksextreme Gewalt. Dass es sie nicht gab, lag auch am besonnen Handeln der Polizei und ihrer klugen Strategie, die am Ende allen Nazi-Gegnern von beiden Ufern des teilenden Flusses einen Anteil am Erfolg ermöglichte. Es hätte auch ganz anders kommen können. Deshalb an dieser Stelle ein großer Dank an die Polizei – sie wird auf unserem Gemälde einen besonderen Platz bekommen.

Über dem Zwinger und der Semperoper sehen wir unter den vielen, die zu verstehen beginnen, wie Geschichte und Gegenwart zusammenhängen den Pfarrer im Talar, den er gegen die Anweisung seines Bischofs dennoch mit Würde trägt, die Bürgermeisterin, die darüber staunt, wie viele ihrer Bürger nun doch bereit sind, Ursache und Wirkung des Krieges anzuerkennen, die junge Frau von der SPD, die sich auf die Gleise setzt um zu verhindern, dass die Nazis mit der Bahn angereist kommen, einige Schwarzvermummte, die sich darüber ärgern, dass die Polizei sie von den Nazis nicht unterscheiden kann, weil sie sich in zu vielem bereits ähnlich sind und die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, die erleichtert ist, dass es dieses Jahr nicht die Nazis sind, die an ihrer Synagoge vorbeilaufen dürfen. Dazwischen der Polizist mit Funkgerät am Ohr, der den Überblick behält so gut es geht und einigermaßen gelassen bleibt dabei.

Nur ein Bombenangriff rettete ihn vor dem sicheren Tod

Einen möchte ich dem Bild noch unbedingt hinzufügen: es ist mein Großonkel Viktor Klemperer, der vor 60 Jahren starb, den Bombenangriff auf Dresden, dessen Bürger er war, also nur um einige Jahre überlebte. Dass er nach dem Krieg noch schreiben und lehren konnte, hat mit der Schande dieser Stadt zu tun. Als Jude hatte er keine Chance in Dresden. Nach und nach waren alle jüdischen Dresdner zuerst deportiert und dann ermordet worden. Dieses Schicksal wäre auch ihm zuteil gewesen. Das Datum seines Deportationsbefehls lautete 14. Januar 1945. Alle Versuche sich zu retten waren vergebens. Keiner der „arischen“ Dresdner, Nachbarn, Freunde, Kollegen oder Studenten waren bereit, ihn zu beschützen oder verstecken. Selbst die evangelische Kirche in Dresden, dessen Mitglied nach zweimaliger Taufe er war, schickte ihn fort. Einem „Nicht-Arier“ galt die christliche Nächstenliebe nicht. Sie verweigerte ihm jeglichen Schutz, selbst den vor der Kälte des Dresdner Winters. Es bleibt die Schande dieser Stadt, dass nur ein Bombenangriff ihn vor dem sicheren Tod rettete. Und sonst niemand.

Natürlich habe ich mich gefragt, wie er diesen Tag des Protestes gesehen hätte: den Pfarrer, die Bürger, die Blockierer oder wie sie sich selbst bezeichneten: alle Menschen guten Willens. Ich glaube gerade diese Bezeichnung hätte ihn lächeln gemacht, ein Lächeln zwischen bitterster Ironie und einer Art von Bewunderung für die Menschen seiner Stadt.

Ein Erfolg also? Mit einigem Licht und einigem Schatten – vor dem Hintergrund der malerischen Silhouette einer Stadt, die wie keine andere zum Austragungsort des Kampfes um ein neues Geschichtsverständnis geworden ist. Die neuen Nazis sind nicht vom Himmel gefallen, sie ernähren sich aus der Unschärfe von Geschichtsverständnis und Erinnerungskultur. Dies ist die Grundlage ihrer Gewalt. Es ist Zeit für Klarheit. Und nicht für ideologisierte Debatten. Dafür haben wir keine Zeit mehr.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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