Eigentlich ist die AfD in Niedersachsen ein Landesverband, der von einem Skandal zum nächsten stolpert. Da sind die laufenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hannover gegen den stellvertretenden Landesvorsitzenden Ansgar Schledde wegen des Verdachts der Untreue: Er soll Listenplätze für 4.000 Euro vertickt haben. Das war Anlass für den inzwischen ausgetretenen AfD-Politiker Christopher Emden, die AfD als „Abgrund für Deutschland“, ein „Sammelbecken für Versager, Gangster und Minderbemittelte“ zu bezeichnen, wie das ZDF berichtet. Bei der Landtagswahl gestern stand Schledde selbst auf Listenplatz zwei.
Oder da war der Rundbrief eines niedersächsischen Kreisverbandes aus dem Frühjahr mit der Überschrift „Waffen in der Krise“, in dem AfD-Mitglieder detailliert über die „richtige“ Bewaffnung für den Ernstfall informiert wurden – von Speeren und Schwertern bis Maschinenpistolen. O-Ton: „Lässt sich schön im Holster unter dem Pullover verstecken und ist natürlich extrem leicht auszurichten. Durch das Funktionsprinzip auch nicht vom Waffengesetz erfasst, ihr könnt damit theoretisch offen durch die Fußgängerzone marschieren.“
Wahlergebnis fast verdoppelt
Am Wahlabend in Hannover am Sonntag war allerdings wenig von solchen Skandalen zu spüren. Für knapp elf Prozent der Wähler*innen in Niedersachsen spielen solche Vorfälle offenbar keine Rolle. Laut dem vorläufigen Ergebnis bekam die AfD dort gestern 10,9 Prozent – das wäre ein Zuwachs von 4,7 Prozent, fast eine Verdoppelung ihres Ergebnisses von 2017.
Es ist ein sensationelles Ergebnis für die AfD in einem westdeutschen Bundesland, ein Ergebnis gegen den Trend: Im März erreichte sie in Saarland mit einem leichten Verlust nur 5,7 Prozent, im Mai flog sie aus dem Landtag in Schleswig-Holstein und kam in NRW nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde. Ein Jahr zuvor, im März 2021, waren die Verluste noch heftiger: 4,3 Prozent in Rheinland-Pfalz und 5,4 in Baden-Württemberg mussten die Rechtsradikalen einbüßen. Dennoch kam die AfD in den beiden Bundesländern auf 8,3 bzw. 9,7 Prozent.
AfD in Niedersachsen bisher: Pleiten, Pech, Pannen
Dass die AfD also ausgerechnet in Niedersachsen im Aufwind ist, ist alles andere als selbstverständlich. 2017 ist die Partei zum ersten Mal in den Landtag eingezogen. Die Freude hielt nicht lange an: Denn viele in der Partei sahen das damalige Ergebnis von 6,2 Prozent als schlecht an und innerparteilichen Grabenkämpfen geschuldet.
Im Laufe der Legislatur wurden die Gräben aber nur tiefer. Im September 2020 ging ein Erdbeben durch die Landesfraktion: Der rechtsextreme, „Flügel“-nahe Bundestagsabgeordnete Jens Kestner wurde nach einer knappen Kampfabstimmung auf dem Braunschweiger Parteitag neuer Landeschef. Zehn Tage später trat die als gemäßigter geltende bisherige Vorsitzende Dana Guth aus der Landesfraktion aus – zusammen mit den Abgeordneten Stefan Wirtz und Jens Ahrens. Die Rebellion kostete die AfD ihren Fraktionsstatus in Niedersachsen und damit auch parlamentarische Rechte und Geld. Seit 2021 wird der Landesverband zudem vom Verfassungsschutz als Verdachtsobjekt beobachtet – wegen ihrer Nähe zur rechtsextremen Szene.
Im Mai 2022 musste auch „Flügel“-Mann Kestner seinen Posten räumen, so laut wurde die Kritik an seiner Kommunikation und seinem Führungsstil als Landesvorsitzender. So kam AfD-Bundestagsabgeordneter Frank Rinck an die Spitze des niedersächsischen Landesverbandes – ein Mann angeblich mit Rückhalt in der Partei, dafür aber ohne Bekanntheit unter Wähler*innen.
Auch der Spitzenkandidat für die Landtagswahl am Sonntag hat nicht gerade den Promi-Faktor: Der als gemäßigter geltende Stefan Marzischewski-Drewes ist eher unbekannt. Ein Mann mit dem Charme eines Verwaltungsbeamten. Er pflegt Kontakte in die „Querdenken“-Szene, will gegenüber der Tagesschau nicht ausschließen, dass er von Mitgliedern wisse, die der rechtsextremen Szene nahestehen. Für den Wahlkampf hatte er keine frischen Ideen, keine überzeugende Vision. „Autofahren ist FREIHEIT“, stand auf einem Plakat. „Bürokraten runter vom Acker!“, auf einem anderen über die Landwirtschaft.
Rechtsaußen verfängt
Ein stumpfes Spitzenpersonal, ein Landesverband im Kampf mit sich selbst und eine Partei, die am rechten Rand fest verankert ist – all das konnte der AfD am Sonntag in Niedersachsen nicht nachhaltig schaden. Rund 50.000 Ex-Wähler*innen der CDU konnte die rechtsradikale Partei für sich gewinnen. Die Christdemokrat*innen blieben mit nur 28,1 Prozent hinter der SPD am zweiten Platz. Ihr schlechteste Ergebnis in Niedersachsen seit mehr als 60 Jahren ist unter anderem auch dem rechtspopulistischen Kuschelkurs von CDU-Chef Friedrich Merz zu verdanken: Mit der Sprache der radikalen Rechten warf er zum Beispiel ukrainischen Flüchtlingen neulich „Sozialtourismus“ vor. Eine Strategie, die nicht aufging.
CDU-Generalsekretär Mario Czaja sieht aber die Schuld nicht in den eigenen Reihen. Er legt stattdessen den AfD-Erfolg dem „Zickzack-Kurs“ der Ampelkoalition im Bundestag zu Last. Eine Analyse, die Merz offenbar nicht teilt: Direkt nach der Wahlschlappe für seine Partei feuerte er den CDU-Bundesgeschäftsführer Stefan Hennewig, dem er bei den jüngsten Wahlkampagnen fehlende Schlagkraft vorgeworfen hatte. Mit der Ampel hat der AfD-Erfolg vermutlich wenig zu tun: Die FDP verloren zwar 40.000 Wähler*innen an die AfD und scheiterte selbst an der Fünf-Prozent-Hürde, Rot-Grün kann aber die absolute Mehrheit stellen und wird voraussichtlich die Regierung bilden.
Neben der Wählerwanderung von CDU zu AfD waren stattdessen auch die Nicht-Wähler*innen entscheidend für den Zuwachs der Rechtsextremen: Etwa 50.000 von ihnen machten ihr Kreuz bei der AfD. Die Gründe dafür dürften vielschichtig sein – etwa eine umtriebige Social-Media-Kampagne, die Inszenierung als Protest-Partei angesichts der drohenden Energiekrise oder sie teilten einfach das rassistische Weltbild der Partei. „Die Migranten-Quote in Hannover ist mit unserem Grundgesetz nicht zu vereinbaren!“, behauptete die AfD zum Beispiel im Wahlkampf. Der Wahlerfolg hat auch eine Genderdimension: Die AfD war unter Männern fast zweimal so beliebt wie Frauen, wie aus einer Wahlanalyse von Infratest dimap hervorgeht. Dieser Trend ist nichts Neues.
Eine Niederlage in Cottbus
Klar ist, dass nach ein paar turbulenten Jahren in Niedersachsen die Partei wieder in Partylaune sein dürfte: AfD-Spitzenkandidat Marzischewski sagte dem ZDF, der Erfolg sei ein „Aufbruchszeichen“. Seine Partei sei auch in Westdeutschland angekommen. In Ostdeutschland hingegen konnte der Cottbuser Oberbürgermeisterkandidat der AfD Lars Schieske sich in der Stichwahl am Sonntag nicht gegen den SPD-Mann Tobias Schick durchsetzen. Doch er konnte rund ein Drittel der Stimmen in Cottbus, einem rechtsextremen Hotspot, holen. Und das trotz aller Kontroversen, trotz seines rassistischen, rechtsextremen Klartexts im Wahlkampf.
Einen Tag vor den Wahlen in Cottbus und Niedersachsen liefen rund 10.000 Anhänger*innen der AfD mit Neonazis und Rechtsextremen jeglicher Couleur durch das Berliner Regierungsviertel, wie Belltower.News berichtete. Ein Zeichen der Stärke und des Hasses. Die Feindbilder waren die üblichen: Regierung, Presse, Multikulti und Geflüchtete. Stattdessen propagierten sie Russlandliebe, Kernkraft, Abschiebung und wollten vor allem: „Unser Land zuerst“.
Während der Covid-Pandemie konnte sich die AfD als Protestpartei nicht effektiv profilieren. Sie war nie die Partei der „Querdenken“-Bewegung, trotz aller Bemühungen und Überschneidungen. Die Wahlen und Demo am Wochenende geben aber vielleicht einen Vorgeschmack auf den kommenden „heißen Herbst“: Die AfD ist im Aufwind. Und ihre Segel fangen zurzeit die Wut und Angst vieler Menschen. Ganz egal, dass sie auf die brennenden sozialen Fragen unserer Zeit keine Antworten hat.