Die Bilanz des Sommers ist furchtbar: Mindestens vier Menschen starben durch die Hand mehr oder weniger gut organisierter Rechtsextremer. Einige weitere wurden schwer bis lebensgefährlich verletzt, darunter übrigens auch ein Kind von 13 Jahren. Erinnern Sie sich an Mügeln im letzten Sommer? Und an das Entsetzen der Medien über den brutalen Charakter dieses rassistischen Angriffs auf acht Inder bei einem Dorffest in Sachsen? Soweit bekannt gab es keine Toten im vergangenen Jahr. In diesem Jahr aber schon. Doch nur der Mord an dem Obdachlosen in Templin wurde durch die Medien angemessen wahrgenommen. Und nur dort fand eine Art Gedenkveranstaltung statt. Vor einer Kaufhalle, oder – wie man im Westen sagt – einem Supermarkt hatten sich einige Templiner versammelt. Es sprachen der Bürgermeister, eine Sozialarbeiterin, der Pfarrer und eine Kollegin der Opferperspektive. Dass es nach einigem Hin und Her überhaupt gelang, der Stadt so etwas wie ein Statement „gegen Gewalt“ abzuringen, dass dem Neffen des Toten erlaubt wurde, etwas für die Hinterbliebenen zu tun, ist großartig. Doch ehrlich gesagt fehlte etwas.
Bizarres Gedenken in Templin
Es mutete ein wenig bizarr an, dass die Stadtvertreter so unglaublich stolz darauf waren, überhaupt aktiv geworden zu sein. Oder noch besser: die Aktivität einiger Bürger nicht weiter gebremst, sondern im Gegenteil sogar genehmigt zu haben. Bizarr wegen des etatistischen Vorgehens durch die administrative Obrigkeit, die sich ihren Stolz, eine Veranstaltung zu erlauben, ja ihr sogar vorzustehen, teuer bezahlen ließ. Bizarr auch, weil das Thema Rechtsextremismus als so heikel angesehen wird, dass eine alte DDR-Tradition wieder zu voller Blüte gelangt, nämlich Gedanken und Gefühle dazu nur noch zwischen den Zeilen sichtbar werden zu lassen. Verdruckst, verklausuliert, versteckt in unverständlichen Sätzen, in politischen Statements oder in ungläubiger Gläubigkeit an den Einzelfall, an die Arbeitslosigkeit oder die Schuld der anderen. Dass lediglich einige Punks verstört dazwischen riefen, während die Redner auf der Bühne auf alles mögliche Rücksicht nahmen und Verständnis ausdrückten (übrigens auch für Rechtsextreme) machte das Ganze nur noch bizarrer. Der Preis des Amtes war hoch: es fehlten wirkliche Anteilnahme, unverstellte Trauer, echte Empörung und schlichter Zorn. Es fehlte jemand – ein Templiner oder eine Templinerin – der das ausdrückte. Es fehlte der Name des Opfers.
Es gibt eine Nazipräsenz auf den Straßen und in den Köpfen
Vier Tote in einem Sommer. Dass die Gewalt, bereit zu morden, nun diffus wird und man abwägt, ob die unzweifelhaft rechtsextremen Täter wirklich unzweifelhaft rechtsextreme Tatmotive hatten (denn andernfalls wären es ja keine rechtsextremen Taten), mag eine Strategie sein oder einfach nur ein lächerlicher schlichter Versuch der Neonazis, gleichzeitig Furcht zu verbreiten und uns an der Nase herumzuführen. Und dabei zu demonstrieren, dass Gewalt und Wählbarkeit, wie jetzt bei den Kommunalwahlen in Brandenburg, sich keinesfalls ausschließen. Denn jeder weiß es im Grunde: Es gibt eine Nazipräsenz auf den Straßen und in den Köpfen auch ohne NPD oder andere Organisationen, doch es gibt keine NPD ohne das gewalttätige Element der Straße. Und ohne dass die Bevölkerung zustimmt oder duldet. Nun, wir werden sehen, wie die Kommunalwahlen in Brandenburg ausgehen und hoffen, dass die Strategie der Gewöhnung wenigstens vor den demokratischen Institutionen Halt macht. Gelingt dies – und in vielen Kommunen bemühen sich Bürger, die Rechtsextremen nicht in ihre Parlamente einziehen zu lassen – dann ist dies ein großer Erfolg der zivilen Gesellschaft, aber eben nur einer von vielen Schritten hin zu einer Kultur in den Kommunen, die rechtsextreme Gewalt und Dominanz nicht duldet. Gelingt es nicht, muss weiter gegen die Gewöhnung und die Präsenz der Nazis gerungen werden.
Die Amadeu Antonio Stiftung wird in diesem Herbst zehn Jahre alt. Sie hat – dank der Großzügigkeit unzähliger Spenderinnen und Spender – inzwischen mehrere hundert Projekte gefördert, beraten und ermutigt. Sie hat Themen auf die Agenda gesetzt und Öffentlichkeit hergestellt. Sie hat sich um die Opfer rechter Gewalt gekümmert und auch jenen Nazi-Tätern Unterstützung angeboten, die umkehren, die aussteigen wollen, die sich – warum auch immer – anders entschieden haben. Zehn Jahre ist eine kurze Zeit, denn die Nazis hatten die Möglichkeit, sehr viel länger ihrer Tradition zu folgen. Unter dem Schutz der Gleichgültigkeit, der Gewöhnung und geduldeter Aggressionen fanden sie genug Potential, sich zu entfalten. Die demokratische Staatsform in Deutschland verhält sich dazu wie die Schwalbe, die bekanntlich noch keinen Sommer macht. Und schon gar keinen, in dem vier Menschen von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt sterben mussten, weil Nazis sie ermordet haben. Bitte helfen Sie uns auch über die kommenden Jahreszeiten hinweg und durch das kommende Jahrzehnt, damit wir unter die Gewöhnung an Nazis und ihre Taten endlich einen Schussstrich setzen können!
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).