Am Freitagabend wurden in Grevesmühlen zwei acht und zehn Jahre alte ghanaische Mädchen angegriffen. Sie waren gerade auf dem Weg vom Sport nach Hause, als sie aus einer Gruppe von etwa 20 Jugendlichen heraus attackiert werden. Es fallen rassistische Beleidigungen, unter anderem das N-Wort. Als der Vater die Täter zur Rede stellen will, wird auch er angegriffen.
Rassistische Beleidigungen kennt die Familie zu gut, die Kinder regelmäßig auch aus der Schule. Seit 2016 lebt die Familie in Grevesmühlen. Dort fand am Wochenende ein Stadtfest statt – inklusive „Ausländer raus“-Gegröle zu Gigi D’Agostino.
Baseballschlägerjahre 2.0
Anwohner*innen im Viertel kennen die Gruppe Jugendlicher schon länger, sie sollen schon vorher mit massiver Gewalt aufgefallen sein. Eine Anwohnerin spricht von „Möchtegern-Nazis“ mit Glatze. Marodierende Jugendbanden, die ganz Stadtteile mit Gewalt unter Kontrolle bringen: Das sind Bilder, wie wir sie aus den 1990ern kennen. Die Baseballschlägerjahre sind längst zurück.
Ein Fehler, der schon damals gemacht wurde: Gewaltexzesse mit Verweis auf das Alter der jungen Täter*innen, vermeintliche „Perspektivlosigkeit“ oder Frust verharmlosen. Man müsse nur Sorgen und Ängste ernst nehmen und die Jugendlichen beschäftigen, dann erledige sich das von selbst.
Aber rechte und rassistische Gewalt sind durch nichts zu entschuldigen – sie sind das Ergebnis von Enthemmung, Radikalisierung und einem hasserfüllten Menschenbild.
Und die AfD? Schuld sind die „anderen“!
Wo die einen ihren Rassismus als Popkultur leben, indem sie „Ausländer raus“ zu Gigi D’Agostino grölen, fühlen andere sich legitimiert, diese Forderung in die Tat umzusetzen.
Bei der Kreiswahl und der EU-Wahl wurde die AfD in Grevesmühlen mit 26,6 Prozent und 28,34 Prozent jeweils stärkste Kraft, bei der Stadtvertretungswahl reichten 22,59 Prozent für den zweiten Platz. Für Rechtsextreme bedeuten solche Ergebnisse Bestärkung, das völkische und rassistische Weltbild selbst umzusetzen – wo nötig, mit Gewalt.
Es ist besonders perfide und widerlich, dass der Fraktionsvorsitzende der AfD in Mecklenburg-Vorpommern den Gewaltexzess in Grevesmühlen der Landesregierung in die Schuhe schiebt, wegen derer Politik „Gewalttaten in alle Richtungen zunehmen“ würden. Er kündigt an, „dass eine zukünftige AfD-Regierung Gewalt konsequent bekämpfen wird.“ Was damit damit gemeint ist, muss allen klar sein: Die AfD steht für willkürliche Abschiebephantasien. Und Rechtsextreme begreifen das als Anleitung.
Keine Jugendsünde: Rechter Hotspot Schule
Erst im April warnten die Schülervertretungen aller ostdeutschen Bundesländer vor einem wachsenden Rechtsextremismus. Wovor die Jugendlichen Angst haben: Dass rechtsextreme Parolen immer normaler werden, dass Hass und Hetze immer mehr um sich greifen und Schulen Räume der Unsicherheit werden.
Allein in Mecklenburg-Vorpommern hat sich die Zahl rechtsextremer Vorfälle an Schulen binnen eines Jahres knapp verdoppelt. In dem Bundesland geht die AfD besonders entschlossen gegen Lehrer*innen vor. Ein Denunziationsportal gegen missliebige Lehrkräfte wurde nur auf Druck des Datenschutzbeauftragten vom Netz genommen. Und das halbherzig: Auf der Website kann zwar nicht mehr gemeldet werden, diffamierende Beiträge gegen Schulen und Lehrer*innen finden sich dort aber noch immer. Gegen die Entscheidung des Datenschutzbeauftragten klagten die Rechtsextremen sogar – ohne Erfolg. Rechtsweg ausgeschlossen.
Wie reagiert die Politik?
Nach der Tat geht das Land wieder zur Tagesordnung über: Die Tat wird performativ und gebetsmühlenartig verurteilt. Selbst Bundespolitiker*innen äußern sich. Antworten, wie dem in Zukunft zu begegnen sei, bleiben aus. Der Bürgermeister von Grevesmühlen, Lars Prahler (parteilos), besucht am Sonntag die Betroffenen und reagiert erschüttert: „Diese rassistisch motivierte Tat macht mich einfach fassungslos. Das zeugt von bodenlosem Hass und enthemmter Unmenschlichkeit und lässt sich nicht entschuldigen. Auch nicht dadurch, dass es Jugendliche sind.“
Das Stadtfest am Samstag findet dennoch statt. Auch hier kommt es zu rechtsextremen Vorfällen und Hitler-Grüßen. Man wolle sich von solchen „Randgruppen“ nicht den Ton vorgeben lassen. Doch sind die mutmaßlichen Täter wirklich eine Randgruppe?
Kaum noch auszuhalten
Als in Lübeck 1996 ein Haus für Asylbewerber von Rechtsextremen in Brand gesetzt wird und zehn Menschen sterben, führt die Spur der Täter schnell nach Grevesmühlen: Gegen drei Neonazis wird ermittelt, zwei haben Brandspuren im Gesicht, einer gibt die Tat sogar zu, doch es kommt zu keiner Verurteilung. Auch Jamel, das von Grevesmühlen nur einen Katzensprung entfernt ist, bleibt nach wie vor ein zentraler Ort der rechtsextremen Landnahme. „Jamel, das Nazi-Dorf“. Es sind Menschen wie die Lohmeyers, die mit ihrem Festival „Jamel rockt den Förster“ nach wie vor Widerstand leisten. Sie leben in täglicher Angst. So geht es weiten Teilen der demokratischen Zivilgesellschaft vor Ort. Die Menschen fühlen sich alleingelassen, viele, die seit Jahren gegen Rechtsextreme ankämpfen, sind kurz davor, wegzuziehen. Zu tief scheinen Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit in weiten Teilen der Gesellschaft verankert zu sein.
„Rassismus hat in unserer Gesellschaft keinen Platz“?
Was Innenminister Christian Pegel (SPD) sagt, mag gut klingen, ist aber leider nicht die Realität. Rassismus hat eben sehr wohl einen Platz. Und wir alle müssen diesen Platz kleiner machen, jeden Tag ohne zurückzuweichen und auch dann, wenn gerade kein besonders brutaler Fall überregionale Aufmerksamkeit bekommt.
Den zahlreichen gut gemeinten Appellen aus allen politischen Ebenen muss auch etwas folgen: Es braucht nicht nur Konsequenzen für Straftäter, die auch wirklich abschreckende Wirkung haben. Es liegt in der Hand der Politik, die Prävention in den Schulen auszubauen, Sozialarbeit vor Ort wie auch online zu stärken und den Opferberatungsstellen eine langfristige Sicherheit ihrer Arbeit zu verschaffen.
Vor allem braucht es auch die Zivilcourage von uns als Mehrheit: Deutlichen Widerspruch bei rassistischen Parolen, couragiertes Handeln, wenn es zu Übergriffen kommt und Solidarität mit den Betroffenen.
Update vom 18.06.2024:
In einer ersten Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Rostock war die Rede davon, dass dem jüngeren Mädchen unter anderem in ihr Gesicht getreten worden sein soll. Eine weitere Pressemitteilung zum aktuellen Ermittlungsstand korrigierte die Meldung dahingehend, dass das Mädchen nicht ins Gesicht getreten wurde. Wir haben den Artikel entsprechend geändert.