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Kommentar „So laut, so intelligent, so wirksam wie bisher“

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Thierse als Redner; www.mut-gegen-rechte-gewalt.de / hk

„…Der aus Angola stammende Namensgeber der Amadeu Antonio Stiftung zählte zu den ersten Opfern rassistischer Gewalt nach der deutschen Wiedervereinigung: Amadeu Antonio Kiowa wurde in der Nacht vom 24./25 November 1990 in Eberswalde von ca. 50 jugendlichen Neonazis brutal zusammengeschlagen. Er starb wenig später an den Folgen seiner schweren Verletzungen – der erste Tote durch rechtsextremistische Gewalt nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Die Gründung der Amadeu Antonio Stiftung im Jahre 1998 war eine der Antworten der Zivilgesellschaft auf diesen feigen Mord und auf weitere rechtsextremistische, rassistische, antisemitische Übergriffe und Umtriebe – vor allem in den ostdeutschen Bundesländern.

Noch immer in fürchterlicher Erinnerung sind die entsetzlichen Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen Anfang der 90er Jahre. Viele weitere rechtsextremistisch motivierte Übergriffe und Anschläge haben sich seither ereignet, darunter leider auch sehr viele mit tödlichem Ausgang. Allein bis zum Gründungsjahr der Amadeu Antonio Stiftung kamen 94 Menschen durch die verabscheuenswerten Taten rechtsextremer Gewalttäter ums Leben (die Zahlen ermitteltelten die Amadeu-Stiftung und die Bundeszentrale für Politische Bildung). Sollte dies ein bitterer, abscheulicher Preis der Deutschen Einheit sein?

Ende der 90er Jahre war es also längst überfällig, dass das Engagement gegen Rechtsextremismus eine stärkere zivilgesellschaftliche Institutionalisierung, eine deutlichere öffentliche Sichtbarkeit und eine Verstetigung in der konkreten Arbeit erfährt.

Deshalb war es für mich naheliegend, die Amadeu Antonio Stiftung – auch und gerade mit dem Gewicht des Amtes des Bundestagspräsidenten – öffentlich erkennbar zu unterstützen. Denn damals gab es weder jene Landschaft oft kleiner, lokaler zivilgesellschaftlicher Initiativen gegen Rechtsextremismus wie es sie heute – nicht zuletzt Dank der Amadeu Antonio Stiftung – gibt. Noch gab es damals Bundesprogramme zur Stärkung von Demokratie und Toleranz, mit denen der Bund seit 2001 über 200 Mio. Euro für die Bekämpfung des Rechtsextremismus bereitgestellt hat. Bei der sinnvollen Kanalisierung dieser Bundesmittel und der Koordinierung der Arbeit verschiedener Träger hat die Erfahrung der Stiftung übrigens ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt.

In ihrem ersten Jahrzehnt hat die Amadeu Antonio Stiftung hunderte Initiativen und Projekte beim Aufbau kommunaler Netzwerke gegen Hass, Ausgrenzung, Gleichgültigkeit unterstützt. Sie förderte Strukturen der Opferhilfe vor Ort, begleitete Flüchtlingsinitiativen, stellte Kontakte zu privaten wie öffentlichen Partnern her und leistete in erheblichem Maße Aufklärungsarbeit. All die geförderten Projekte, jede einzelne Initiative waren oder sind in ihrem jeweiligen Kontext bedeutend und anerkennenswert. Dennoch möchte ich zwei Projekte herausgreifen, die mir besonders am Herzen liegen. Diese machen deutlich, dass es bei allen Bemühungen letztlich immer auch darum geht, Menschen in konkreten Lebenssituationen zu helfen.

Die eine Initiative ist das Aussteigerprojekt EXIT. Über 300 Menschen hat EXIT dauerhaft aus der rechtsextremen Szene herausgeholt. Diese ehemaligen Neonazis sind Menschen, die ihr verwerfliches Treiben als falsch erkannten und umkehren wollten – zurück in unsere Gesellschaft.
EXIT verkörpert daher nicht nur Präventionsarbeit im besten Sinne, sondern auch praktizierte Solidarität mit Geläuterten, mit Umkehrwilligen, mit Menschen, die wie andere auch eine zweite Chance verdienen. Umso schlimmer ist, dass die Finanzierung von EXIT mittlerweile auf äußerst wackligen Beinen steht, so dass die Fortführung dieser Arbeit gefährdet ist.

Ganz gewiss sind Repression und Prävention, die strafrechtliche Verfolgung von Tätern und das bürgerschaftliche Engagement für Demokratie und Toleranz entscheidende Stützen im Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Doch trotz der berechtigten Fixierung auf Täter und auf Angehörige der Neonazi-Szene dürfen wir die Opfer rechter Gewalt mit ihren Schmerzen, in ihren Ängsten und ihren Erschütterungen nicht alleine lassen.

Deshalb möchte ich auf ein zweites Projekt namentlich hinweisen: auf „Cura“ – den Fonds für Opfer rechter Gewalt. Cura unterstützt die Opfer rechtsextremer Gewalttaten unmittelbar und unbürokratisch – auch finanziell. Über 120.000 Euro wurden in den vergangenen vier Jahren gespendet und für die Opferhilfe aufgewendet

Der zehnte Gründungstag der Stiftung bietet Anlass, selbstbewusst auf das Erreichte zurück¬zublicken – beim Opferschutz und bei der Projektförderung ebenso wie bei der Aufklärungsarbeit und der Stärkung demokratischer Strukturen in den Kommunen. Das vielfältige Engagement der Stiftung belegt anschaulich, dass unsere Demokratie nicht vom Zuschauen lebt, sondern auf das persönliche Mittun möglichst vieler Bürger*innen angewiesen ist. Und die zahlreichen Anfragen nach Beratung und Förderung an die Amadeu Antonio Stiftung belegen, dass hier oft eine große Bereitschaft besteht, sich zu engagieren.

Gleichzeitig müssen wir feststellen: Das Problembewusstsein ist deutlich gewachsen – doch das Problem selbst ist nicht geringer geworden. Die Zahl der politisch rechts motivierten Straftaten ist in den letzten 10 Jahren gestiegen. Und in diesem Jahr werden wir vermutlich einen neuen, traurigen Höhepunkt bei der Zahl dieser Delikte erreichen. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres wurden von den Behörden über 14.000 politisch rechts motivierte Straftaten registriert, darunter 782 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten. Und im vergangenen Sommer hatten wir erneut vier getötete Opfer rechter Gewalt zu beklagen. Auch dies muss man sich vergegenwärtigen, wenn wir – zu Recht – von den Erfolgen im Kampf gegen Rechtsextremismus sprechen.

Diese Zahlen sind erschreckend, aber leider nur Hinweise auf eine viel weitere und tiefere Verwurzelung rechtsextremen Gedankenguts in unserer Gesellschaft. Sie sind erschütternde Warnzeichen für die Ausbreitung und Wirksamkeit rechtsextremer Einstellungen, von Vorurteilen und Hass gegen alles, was fremd ist, und gegen jeden, der fremd erscheint. Rechtsextremismus ist seit Jahren kein Randphänomen mehr, sondern reicht weit in die Mitte unserer Gesellschaft. Dort verfestigen sich – wie alte und neue Studien immer wieder belegen – rechtsextreme, ausländerfeindliche und antisemitische Einstellungen.

Das vielfältige Engagement der Amadeu Antonio Stiftung wird also auch in den kommenden 10 Jahren gebraucht werden. Gerade in Zeiten dramatischer Veränderungen, in Zeiten beschleunigten ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandels müssen wir wachsam sein. Viele Menschen werden in Phasen schwieriger Umbrüche verführbar für einfache Antworten, suchen nach vermeintlichen Erlösungsstrategien und finden freilich auch zahlreiche Erlösungsversprechen.

Gleichwohl dürfen rechtsextreme Einstellungen und Gewalttaten nicht allein auf ökonomische Faktoren zurückgeführt werden. Eine brutale, sinnlose Gewalttat kann man nicht mit denselben Erklärungsmustern deuten wie etwa einen Mundraub. Wichtig ist, dass wir jungen Menschen verbindliche Wertvorstellungen vermitteln und ihnen gleichzeitig ihre eigenen Chancen bewusst machen, die sie in einer demokratischen Gesellschaft ja tatsächlich haben.

Es gilt also weiterhin, was schon zum Zeitpunkt der Gründung der Amadeu Antonio Stiftung galt: Das Engagement gegen Rechtsextremismus darf nicht – wie leider noch immer die mediale Aufmerksamkeit gegenüber dieser Bedrohung – den Konjunkturzyklen von Hinsehen und Wegsehen, von hysterischer Aufregung und lähmender Apathie, von Engagement und Untätigkeit unterliegen.

Entscheidend sind das dauerhafte Eintreten für Demokratie und Toleranz, politische Bildung und kontinuierliche Aufklärungsarbeit, die stetige, oft äußerst mühselige Arbeit vor Ort, die Stärkung der demokratischen Alltagskultur in den Kommunen. All dies leistet die Stiftung in hervorragender Weise und steht dafür mit ihrem Leitsatz: Ermutigen. Beraten. Fördern.

Es wird keinen verwundern, wenn ich als Schirmherr bei dieser Gelegenheit alle Freunde und Förderer herzlich dazu einlade, an einer Erhöhung des Stiftungskapitals mitzuwirken. Die Stiftung würde dadurch unabhängiger von den konjunkturellen Schwankungen der Spendenbereitschaft. Sie könnte ihrer eigenen Zielsetzung – der Stetigkeit des Engagements für eine demokratische Kultur und gegen Rechtsextremismus – noch besser gerecht werden.

Mein Dank für 10 erfolgreiche Jahre, auf die die Amadeu Antonio Stiftung zurückblicken darf, gilt allen, die die Stiftung unterstützt haben: ob als Stifter, Spender, Freunde oder Förderer, ohne die die Tätigkeit der Stiftung nicht denkbar wäre. Insbesondere aber ist auch den hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen unter Führung von Anetta Kahane zu danken. Sie sind mittlerweile Profis in der Aufklärung über Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Profis in der Beratung derjenigen, die für Demokratie und gegen Gewalt und Rechtsextremismus eintreten wollen. Und dabei geht das persönliche Engagement allzu oft weit über das hinaus, was ihnen eigentlich abzuverlangen wäre. Auch ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wären der Erfolg und insbesondere der Geist leidenschaftlichen Engagements in der Stiftung nicht denkbar.

Ich wünsche der Amadeu Antonio Stiftung auch in ihrem zweiten Jahrzehnt viele motivierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die sich einmischen, wenn elementare Menschenrechte verletzt werden, und die der schleichenden Gewöhnung an den Ungeist und die Untaten der Nazis heftig widersprechen – so laut, so intelligent, so wirksam wie bisher!“

*Wolfgang Thierse (SPD) war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und von 2005 bis 2013 Bundestagsvizepräsident. Der langjährige frühere Bundestagsabgeordnete ist Schirmherr der Amadeu Antonio Stiftung.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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