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Kommentar Verheddert in ideologischer Bekenntnispolitik

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Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Gedächtnis ist relativ, das wissen wir. Ich beispielsweise erinnere mich besser – im doppelten Sinne – an den Tag des Mauerfalls als an den der Deutschen Einheit. Die Erinnerung an den 3. Oktober 1990 ist auch deshalb schlechter, weil seine Begleitumstände, jedenfalls diejenigen, die ich wahrnehmen musste unerfreulich waren. Keine Sorge, ich werde nicht über die Vereinigung als solche klagen, höchstens darüber, was diese historische Zäsur für die „Ausländer“ in Deutschland bedeutete.

Der gute Ton

Die alte BRD hatte gerade begonnen, sich kurz vor diesem Ereignis daran zu gewöhnen, dass die Gastarbeiter nun wahrscheinlich bleiben würden und dafür – nun, naja, irgendwie – auch was getan werden muss. Mit der deutschen Einheit änderte sich sowohl die politische als auch die individuelle Stimmung im Land. Während der Mauerfall noch zu begrenzter Hoffnung Anlass war, so kam mit der Einheit ein Nationalgefühl auf, dem sich nicht einmal diejenigen entziehen konnten, die sonst von der Vereinigung herzlich wenig merkten. Auch war das Land nicht darauf vorbereitet, dass mit den Menschen aus dem Osten auch Einstellungen laut wurden, die im alten Westen nicht mehr so einfach zum guten Ton gehörten.

Volkszorn als Argument

Angesichts der heutigen Debatte um sogenannte integrationsunwillige Muslime, die eben doch eine andere Qualität hat, als das alte Geschimpfe über italienische „Spaghettifresser“ und ihr türkisches Pendant, wird offensichtlich, dass die Politik nach der Einheit sowohl die Integration als auch rechtsextreme Gefährdungen sträflich außer acht gelassen hat. Es wurde im Gegenteil damit sogar rumgespielt: den wenigen Vertragsarbeitern aus der DDR verweigerte der Einigungsvertrag die Gleichstellung mit denen im Westen; also wurden die meisten zur Ausreise genötigt. Dann kam die Änderung des Asylrechts, das mit dem Argument des Volkszorns von Rostock und Hoyerswerda durchgepeitscht wurde. Die Strategie des „Wir müssen es den Ausländern so unangenehm wie möglich machen, damit nicht noch mehr kommen“ hatte das Klima bereits vorher schon vergiftet. Darauf folgten Jahre der Ignoranz gegenüber dem anschwellenden Rechtsextremismus und seiner Blutspur durch Ost und West – gerade haben „Die Zeit“ und der „Tagesspiegel“ eine neue Zählung von 137 Todesopfern rechter Gewalt seit der Wende sowie 14 Verdachtsfälle veröffentlicht. Parallel dazu entwickelte sich die klassische Integrationsarbeit im Westen nicht entlang den Problemen und ihren Lösungen, sondern stagnierten auf allen Seiten verheddert in ideologischer Bekenntnispolitik.

Echtes Interesse gefragt

Und nun? Man wundert sich öffentlich über so genannte Parallelgesellschaften. Über Populismus. Wieso eigentlich? Freilich: das Problem ist komplexer, europäischer, globaler, grundsätzlicher. Doch auf uns selbst geschaut, muss man sagen, dass vieles davon selbstgebacken ist und mit der nationalen Welle nach der Wende zu tun hat. So interessant und aufregend es sein mag, nur die Probleme zu beschreiben, so nötig ist es nun 20 Jahre nach der deutschen Einheit auch praktische Möglichkeiten wahrzunehmen! Erfahrungen gibt es genug. Wer also vorgibt, kein Rassist oder Antisemit zu sein, sondern im Gegenteil echtes Interesse an Einwandern und Minderheiten zu haben, der soll aufhören sie zu missbrauchen, zu labern, auszuweichen, sondern etwas tun. Das gilt für die Politik ebenso wie übrigens für jeden Einzelnen von uns.

Ich finde, diesem Jubiläum sind wir das zumindest schuldig.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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