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Kommentar Warum wird nach Halle mehr Polizei gefordert und Demokratiearbeit gekürzt?

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Plakat von einer Demonstration in Hamburg nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle am 09.10.2019 (Quelle: Flickr.com/ Rasande Tyskar)

Nun ist der Angriff auf die Synagoge in Halle anderthalb Wochen her.

In der Zwischenzeit wurde der Attentäter gefasst, Annegret Kramp-Karrenbauer hat sich wieder einmal blamiert, die Medien des Axel Springer Konzerns schreiben über alles, nur nicht über Rechtsextremismus (vgl. hier, hier) und die Antisemiten in der AfD beteuern, dass sie keine Antisemiten sind.

Also eigentlich alles so wie immer.

Im Jahr 2019 ist der gesellschaftliche Kampf gegen den Antisemitismus ungefähr so wirkungsvoll wie die Heilung eines Hirntumors durch Globuli. In beiden Fällen sterben Menschen, im Falle des Antisemitismus übrigens nicht nur Jüdinnen und Juden. Eine der ersten Äußerungen des Attentäters nach seiner Tat war sein Bedauern über den Tod zweier unbeteiligter Deutscher. Eigentlich wollte er ja nur Juden und Kanacken umbringen, aber als das nicht klappte, hat er in einer Art Übersprungshandlung eben zwei umstehende Zivilisten ermordet. Man kennt das ja von sich selbst. Wenn man eigentlich die Steuererklärung machen muss, statt dessen aber die Fenster putzt, weil man für den Steuerkram erst noch alle Belege sortieren müsste.

Wie tief sich der Antisemitismus in unsere Gesellschaft gefressen hat, merkt man daran, dass die Mutter des Attentäters allen Ernstes sagt: „Er hat nichts gegen Juden in dem Sinne. Er hat was gegen die Leute, die hinter der finanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?“ Wer hat das nicht??? Juden als globale Finanzelite, die mit schiefen Nasen, großen Augen und langen spitzen Fingern Geldsäcke Huckepack tragen. Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir das alles schon einmal.

Und haben es noch immer.

Allein im Jahr 2010 verübten Antisemiten Brandanschläge auf die Synagoge in Worms, auf die Synagoge in Mainz, auf einen jüdischen Friedhof in Dresden, auf das Wohnhaus eines jüdischen Einwanderers in Gosen  und auf das „Haus der Demokratie“ in Zossen in Brandenburg, als diese eine Ausstellung zum jüdischen Leben in Deutschland zeigte . Im Jahr 2012 stellte die Bundesregierung fest, dass jede/r fünfte Deutsche latent antisemitisch ist und daher „dringender Handlungsbedarf“ besteht, was allerdings nur darin mündete, dass dieselbe Bundesregierung erst einmal gar nichts tat – und ehrlicherweise noch immer nichts tut. Als das Bundesinnenministerium im Jahr 2018 mit der Frage konfrontiert wird, ob das Judentum zu Deutschland gehört, antwortet eine Sprecherin: Das könne sie nicht sagen, das müsse sie erst einmal intern klären. Kein Witz.

Horst Seehofer, der in der Vergangenheit nicht unbedingt durch kluge Innenministersachen aufgefallen ist, hat nun aber einen Plan. Wenig überraschend lautet er: Mehr Polizei, mehr Befugnisse für die Polizei und eine wirksame Bekämpfung der (festhalten!) „Gamer-Szene„. Es ist das Äquivalent eines überforderten Elternteils, das im volltrunkenen Zustand das schlechte Verhalten aus seinen Kindern herausprügeln will – und ihnen im Anschluss daran den Computer wegnimmt.

Wie die deutsche Polizei, die zu einem nicht unerheblichen Teil selbst rechtsextremes Gedankengut pflegt, rechtsextreme Netzwerke unterstützt oder gar eigene Anschläge plant, nun wirksam und nachhaltig den Rechtsextremismus bekämpfen soll, bleibt der menschlichen Weisheit leider verborgen. Organisatorische, kulturelle oder personelle Änderungen innerhalb der Institution Polizei sind jedenfalls keine geplant. Aber dafür wissen wir vielleicht in 120 Jahren mehr über den Themenkomplex „NSU & Sicherheitsbehörden“ – wenn einerseits die Geheimhaltungsfristen der Akten auslaufen und wir andererseits diejenigen Akteninhalte rekonstruieren konnten, die wahlweise vom Verfassungsschutz geschreddert oder „vom Hochwasser weggespült“ wurden.

Die Kompetenz und Qualität unserer Sicherheitsorgane lässt sich übrigens auch daran ablesen, dass jeder (!)  – noch einmal: jeder!!!  – islamistische Attentäter seit 2014 den Sicherheitsbehörden vorher bekannt war. Teilweise waren sie sogar auf Gefährder- und Terrorwarnlisten vermerkt, ohne dass Polizei und Geheimdienste in der Lage gewesen wären, diese Informationen richtig einzuordnen und die Anschläge zu verhindern. In einem solchen Umfeld mehr Befugnisse für die Behörden und mehr Überwachung der Bevölkerung zu fordern, zeugt, um es mit einem jiddischen Wort zu sagen, von sehr viel Chuzpe.

Bei der Bundeswehr sieht es übrigens nicht besser aus. Ein Heeresgeneral meint mit Blick auf den Attentäter von Halle: „Im Nachhinein können wir froh sein, dass er bei der Bundeswehr nicht viel lernte, sonst hätte er in Halle vielleicht wesentlich mehr Menschen töten können.“ So richtig „abwehrbereit“ klingt das nicht, wenn Soldatinnen und Soldaten bei der Bundeswehr nicht lernen, wie man Menschen tötet. Das ist auf höchst irritierende Weise beruhigend.

Darüber hinaus ist die Forderung nach „mehr Polizei“ allein schon deswegen eine Betrachtung wert, weil üblicherweise weder Innenminister noch Polizeigewerkschafter mitteilen, wieviel „mehr Polizei“ denn irgendwann „genug Polizei“ wäre. Dazu einige Zahlen:

1. Die Kriminalität ist auf dem niedrigsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik.
2. Der Rechtsextremismus ist im wiedervereinten Deutschland mit mindestens (!) 193 Todesopfern noch immer gleichbleibend hoch.
3. Die Zahl der Polizistinnen und Polizisten ist auf dem höchsten Stand seit… Nunja, seit die deutsche Polizei nicht mehr Gestapo heißt (vgl. Statista 1, Statista 2, Bundespolizei, Destatis).

Wenn nun also Oliver Malchow von der Gewerkschaft der Polizei –  Bundesvorstand sagt, dass die Polizei keine Kapazitäten habe, um alle Synagogen in diesem Land zu schützen, könnte man ihm auf einer Kreidetafel folgende Rechnung aufmalen:

251.430 Polizistinnen und Polizisten (Stand 2016, 2019 sind es mehr) / 130 jüdische Gebetsstätten  = 1.934 Polizeibeamte pro jüdische Gebetsstätte.

Auf jede Synagoge und jedes jüdische Gebetshaus kommen also 1.934 (!) Polizeibeamte, die (zumindest theoretisch) den Schutz der Betenden sicherstellen und mögliche Gefahren abwehren könnten. Wenn das nicht ausreicht, um das jüdische Leben in diesem Land zu schützen, soll der gesamte Sicherheitsapparat gepflegt zur Hölle fahren. Überhaupt gilt: solange die Polizei lieber Rentnerinnen verfolgt, die Hakenkreuze übermalen, anstatt sich mit voller Kraft dem Anti-Antisemitismus zu widmen, sollten die Herren Polizeifreunde einfach mal kleine Brötchen backen.

Währenddessen hat auch die SPD Ideen entwickelt, wie sie in ihrer letzten Legislaturperiode im Bundestag (bevor sie schlussendlich unter die 5%-Hürde abstürzt), dem Rechtsextremismus begegnen möchte. Und zwar wird sie *** Trommelwirbel! *** die Finanzierung von zivilgesellschaftlichen Projekten gegen Rechts reduzieren. Ja, richtig gelesen! Dies wird zwar, wenige Monate nach dem Mord an Walter Lübcke und wenige Wochen vor dem Terroranschlag in Halle, als unkluge Entscheidung in die Politikgeschichte eingehen, gehört aber in Wirklichkeit zum Standardrepertoire sozialdemokratischer Politik: Zur falschesten Zeit und aus den falschesten Gründen das Falsche tun.

Nun sind Organisationen wie EXIT-Deutschland, Amadeu Antonio Stiftung sowie mindestens 120 weitere für Demokratie eintretende Organisationen von zum Teil existenzbedrohenden Kürzungen bedroht. Zur Erinnerung: Exit-Deutschland hat 750 Menschen beim Ausstieg aus der Neonazi-Szene begleitet und die Amadeu Antonio Stiftung besitzt eine derart hohe Expertise bei den Themen Antisemitismus und Rechtsextremismus, dass viele Bundesministerien und die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) auf ihre Fachkenntnis zurückgreifen. Und ja, das (!) sind die Organisationen, denen die Bundesregierung die Mittel kürzt, während sich dieselbe Bundesregierung auf eine Aufstockung von Personal und Ausstattung bei der Polizei einigt – ohne ernsthaft deren Verstrickungen im rechten Milieu aufzuarbeiten. Sollte ich Olaf Scholz und Franziska Giffey, die für die Kürzung verantwortlich sind, jemals im echten Leben treffen, werde ich sie auf Geheiß von Willy Brandt und Helmut Schmidt anregen, ihr rotes Parteibuch zu verspeisen.

[Ergänzung aus der Redaktion: Für EXIT wurde eine Einigung gefunden (vgl. Spiegel). Franziska Giffey setzt sich für ein Demokratiefördergesetz ein, dass gute Projektarbeit dauerhaft finanzierbar machen soll (tat sie bereits 2018 nach Chemnitz, ohne Ergebnisse). Der Entwurf zum Demokratiefördergesetz wurde bereits in der letzten Legislaturperiode erarbeitet, allerdings nicht in den Koalitionsvertrag der regierenden großen Koalition aus SPD und CDU aufgenommen.]

Ich hoffe, dass die Jüdinnen und Juden in Deutschland trotz all dieser Hiobsbotschaften ihren Glauben an eine gute und gemeinsame Zukunft nicht verlieren. Glücklicherweise stehen Medien, Politik und Polizei nicht repräsentativ für die vielen Menschen in diesem Land, die ohne wenn und aber an der Seite ihrer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger stehen und bei allen antisemitischen Taten mitfühlen und mitleiden. Nicht wenige Menschen meinen das “Nie wieder!” ernst und wünschen sich nichts anderes als ein Wiederaufblühen des jüdischen Lebens in Deutschland. Diese Menschen werden nicht eher ruhen, bis die Unterscheidung von Jüdisch-sein und Deutsch-sein überwunden ist und wir endlich unserer verdammten Verantwortung gerecht werden.

Betrachtet mich bitte als einen von ihnen.

In diesem Sinne
Shalom!

P.S. Wer in diesem Text eine Auseinandersetzung mit der AfD vermisst, schaue gerne hier.

P.P.S. Ein Best-Of von AfD-Ausfällen gibt es hier auf Facebook. Gerüchteweise war auch der Praktikant von Hooligans Gegen Satzbau beteiligt. Bloß nicht herunterladen oder gar aus Versehen irgendwo aufkleben. Ich wiederhole: Nicht machen!

 

Stephan Anpalagan ist Diplom-Theologe, Kolumnist, Unternehmensberater und Mitglied der Band microClocks. Seit vielen Jahren setzt er sich bereits in unterschiedlichen Initiativen gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein.

Mehr im Internet:

Rechter Terror in Halle: Dieser Wahn von der Weltverschwörung

Es ist angemessen, auf den antisemitischen Angriff und seine Folgen emotional und tief besorgt zu reagieren. Die Kolumne von Anetta Kahane in der Frankfurter Rundschau.

https://www.fr.de/meinung/nach-halle-antisemitismus-urfeuer-13134889.html

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