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Kommentar zum Rechtsterrorismus der NSU Neuer Schmerz aus alter Wunde

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Kommentar von Anetta Kahane, Amadeu Antonio Stiftung

Da, wo es besonders weh tut, hat sich Deutschland dick angezogen. Das ist gewiss immer so, wenn eine alte Wunde einfach nicht richtig heilen will. Man schützt sie, man packt sie ein – aus Furcht, sie könnte wieder aufbrechen oder erneut schmerzen. Die verwundbare Stelle, das wusste schon Siegfried im Nibelungenlied, sollte am besten ganz geheim bleiben. Das hünenhafte Deutschland, das Europa und der Welt gerade seine Muskeln zeigt, hat eben doch einen wunden Punkt, ob es sich dessen besinnen mag oder nicht. Er ist da, alle Welt weiß es, nur in Deutschland tut man überrascht, als hätte es den begeisterten Furor des Nationalsozialismus nie gegeben. Im Osten wie im Westen des Landes hat man in diesen Tagen den Eindruck, das Land sei jeweils seiner eigenen Legende von der Stunde Null auf den Leim gegangen, nach der Krieg und Vernichtung in einer Vorzeit spielten, die zu niemandem gehört und mit der man seit seinem gewaltsamen Ende nichts mehr zu tun hätte.

Mit der Vereinigung hat gerade das Strahlen über die nun mit ihrem Schicksal versöhnte Nation einen Moment lang die alte Wunde sichtbar gemacht, denn die Teilung Deutschlands und damit auch seine Wiedervereinigung wären ohne seine Verbrechen nicht zustande gekommen. Doch so schnell wie die Erinnerung dran aufblitzte und wieder verschwand, begannen sich die Nazis zu organisieren. Für sie handelte es sich nicht um eine Wunde, die versteckt gehört, sondern um ein Kampfmal und ein Ohmen, ein Signal des Aufbruchs, das den Augenblick zu nutzen wusste. Die Altherrenpartei NPD und die Neonazis mit ihren Wehsportgruppen erkannten ihre Chance: das gewaltige Potential im Osten des Landes. Dort hatten sich bereits zu DDR Zeiten Nazi-Kameradschaften gebildet, die härter und revolutionärer unterwegs waren als ihre Kollegen im Westen. Radikaler Nationalismus und völkischer Sozialismus begannen sich in Gestalt der gesamtdeutschen Naziszene wieder anzunähern. Die NPD schaffte es, sich beidem zu öffnen. Und so entstand eine Partei ganz neuen Typs, in der die Militanz der jungen Ostdeutschen auf die Erfahrung der Westdeutschen traf, in der die Idee von einem nationalen Sozialismus vor allem durch die Nationalrevolutionäre aus dem Osten wieder an Gestalt und Schlagkraft gewann. Sie waren es, denen als erste die Integration von Ost und West gelungen ist. Die Nazis in Ost und West kannten keinen verdrucksten Umgang mit der deutschen Vergangenheit ? ganz im Gegenteil – und deshalb konnten sie ihre Chancen durch die Vereinigung wahrnehmen.

In der deutschen Öffentlichkeit hält das Erstaunen und Erschrecken darüber an, dass Neonazis unentdeckt über zehn Jahre morden konnten. Doch was daran ist eigentlich erstaunlich? Dass es militante Rechtsextremisten gibt? Dass sie morden? Dass sie es schlau anstellen, weil sie wissen, wie sehr sie die Gesellschaft und der Staat mitsamt seinen Verfolgungsbehörden unterschätzen? Oder dass ausgerechnet der deutsche Staat nicht wahrhaben will wie lange es in Wirklichkeit braucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Wie um die ungeheure Verdrängungsleistung zu bestätigen, sagte ein Politiker kürzlich, dass es in der deutschen Geschichte bisher kein Beispiel für rechten Terror und Mord gegeben hätte. die deutsche Wunde ist so dick eingepackt, dass der Eindruck entsteht, es gäbe für alles eine Geschichte und einen historischen Zusammenhang, nur für die Nazis von heute nicht. Die fliegen herum und morden in einem vollkommen geschichtsfreien Raum.

Weshalb ist die Verfolgung der Naziterroristen so misslungen? Der Fall hält Deutschland den
Spiegel seiner schlechtesten Seiten vor. Ausgerechnet den Rechtsextremismus so grundsätzlich falsch einzuschätzen, ist ein Zeichen großer Schwäche im Umgang mit der eigenen Geschichte. Hier sind alle Zutaten des Versagens enthalten: Die Opfer wurden als Einwanderer wie Bürger zweiter Klasse behandelt, denen man zu viel Mieses bei sich selbst zutraut, als dass Ermittlungen ins rechtsextreme Lager nötig wären. Der Naziterror mit vielen Toten wurde nicht ernst genommen, trotz einer Fülle von Berichten in den Medien. Die Politik wollte stets mit möglichst wenig Aufwand möglichst schnell und unauffällig befrieden, statt anzupacken, denn der Ruf Deutschlands und seiner Städte und Dörfer schien allemal wichtiger als der Schutz von Menschen. Und die zuständigen Behörden? Sie lieferten sich Kleinkriege in der Kleinstaaterei des föderalen Systems und seiner verschiedenen Zuständigkeiten, während die Projekte gegen Rechtsextremismus zwischen all dem zerrieben werden. Doch anstatt auf ihre Vorschläge zu hören und sich ihre Analysen der Lage vorzunehmen, wird ihre Arbeit behindert und droht unter zahllosen Auflagen und institutionalisiertem Misstrauen zu ersticken. Darin zeigt sich sowohl Hochmut als auch Furcht. Hochmut, weil der Staat alles besser weiß und Furcht vor dem Schmerz jener alten Wunde, die sich im Aufschrei des einen oder anderen Lokalpolitikers äußert, wenn er bei Gleichgültigkeit gegenüber Opfern rechter Gewalt oder der Kumpelei mit der NPD ertappt wird. Deshalb unterstellt man den Projekten lieber Linksextremismus als das anzugehen, was wirklich schmerzt.

Was also muss getan werden? Zunächst: anerkennen, dass wir es hier nicht nur mit einem Fall zu tun haben, sondern mit einem Problem, das dringend unserer aller Aufmerksamkeit bedarf, gerade weil es so tief in der Geschichte des Landes verwurzelt ist. Weitere Gedenktage an den Holocaust oder mehr Unterricht über den Nationalsozialismus helfen da nicht weiter; es reicht schon zur Kenntnis zu nehmen, dass Vergangenheit bis heute andauert. Gegen Rechtsextremismus sollte es ein Plan geben, bei dem Staat und Gesellschaft so gut es geht zusammenarbeiten. Viele Länder haben das bereits, nun ist auch der Bund gefragt. Im Moment konzentriert sich der Streit um Verfassungsschutz und Polizei. Doch auch bei Stadtplanung, in der Sozialpolitik, bei den Familien, in der Wirtschaft, bei Umwelt und Verkehr gibt es Möglichkeiten, sich gegen die rechtsextreme Bewegung zu wehren. Anstatt sich gegenseitig zu beschuldigen und das Thema wie eine heiße Kartoffel verzweifelt loswerden zu wollen, kann es hier nur Heilung geben, wenn alle ihre Verantwortung annehmen. Im Moment gibt es auf Bundesebene in drei verschiedenen Ressorts fünf verschiedene Programme gegen Rechtsextremismus. Hier ein Progrämmchen und da eins ? das macht noch keine Politik. Auch ein Verbot der NPD würde daran nichts ändern, dass Deutschland eine Idee, ein Ziel, ein Programm braucht, wenn es die Nazipest loshaben möchte. Und wenn dabei zusammengearbeitet wird.

Der Staat darf dabei nicht auf die Zivilgesellschaft herabsehen, denn ohne sie, ohne ihre fachliche und politische Erfahrung wird der rechtsextreme Alltagsterror bleiben. Im Gegenteil, er muss ihre Möglichkeiten ausbauen, sie fördern, unterstützen und auch beschützen Und Gesellschaft und Staat sollten endlich aufhören zu glauben, dass Deutsch-Sein etwas mit der Blutsherkunft zu hätte und dass es echte und nicht ganz echte Deutsche gäbe. Die alte Wunde ist mit vielen dreckigen Verbänden zugedeckt, die Haltung zu Einwanderung und Einwanderern gehört ohne jeden Zweifel dazu. Das alles ist nötig, wenn der neue Schmerz der alten Wunde aufhören soll.

Dieser Text wurde zuerst in ähnlicher Form veröffentlicht von der Süddeutschen Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

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