Der Polizeipressesprecher bat am Samstag um 11 Uhr, man möge um 12 Uhr noch einmal anrufen, und um 12 Uhr um ?noch ein bisschen Geduld?. Die Polizei wolle, so versichert er treuherzig, doch nur dafür sorgen, ?dass die sich nicht die Köppe einschlagen?. Deshalb: Keine Informationen für die Presse, keine Informationen für die Zivilgesellschaft darüber, wo denn die Neonazis ihre ?Demonstration? durch Kreuzberg starten wollten. ?Wir suchen noch nach einem Startort für die?, sagt der Polizeipressesprecher, bezeichnend für die Katz-und-Maus-Taktik der Polizei zu diesem ?geheimen? Neonaziaufmarsch in Berlin, der auch deshalb im Vorfeld so geheim blieb, weil die Behörden dazu keine Informationen herausgegeben hatten, nicht einmal auf Nachfrage.
Kein Wunder allerdings, dass die Polizei nervös war, die Nazi-Aufmärsche mehr als Sicherheits- denn als politisches Problem betrachtet: Ausgerechnet durch Berlins alternativen und migrantischen Bezirk Kreuzberg marschieren zu wollen, war natürlich pure Provokation der Rechtsextremen, die nicht unbeantwortet bleiben konnte. Ob allerdings die aufgrund mangelnder Informationen beginnende ?Schnitzeljagd? von Anti-Nazi-Demonstranten durch Kreuzberg, Tempelhof und Neukölln zur Deeskalation beitrug, sei dahingestellt. Zunächst hatte der Platz der Luftbrücke in Tempelhof als Startort gegolten. Dann gab es erste Berichte von Neonazis am Hermannplatz, wo zugleich ein hauptsächlich von migrantischen Familien besuchtes Kinderfest stattfand. Dort verwendete die Polizei dann auch erst einmal Pfefferspray gegen Gegendemonstranten, die versuchten, den Nazidemo-Lautsprecherwagen mit dem Neuköllner NPD-Mann Jan Sturm an Bord die Weiterfahrt zu erschweren, der sich dort tatsächlich hatte blicken lassen.
Tatsächlicher Sammelplatz der Neonazis war dann der Kreuzberger Mehringdamm, wo sich an der Ecke zur Baruther Straße vor dem trutzburgartig gestalteten Finanzamt rund 120 Neonazis einfanden ? größtenteils Rechtsextreme aus dem Berliner und Brandenburger Raum. Hier fanden sich allerdings auch schnell eine größere Menge Gegendemonstranten ein, die den Rechtsextremen ihre Unerwünschtheit mit lautstarken Sprechchören zu Gehör brachte. Der U-Bahnhof Mehringdamm, so war von Betroffenen zu erfahren, war plötzlich abgeriegelt. Die Polizei wirkte in dieser recht unübersichtlichen Situation konfus, kesselte die Nazis an einem Eingang des U-Bahnhof Mehringdamm und brachte sie dazu, in den U-Bahnhof hinab zu steigen, während oberirdisch die Gegendemonstranten gekesselt und zum Teil brutal körperlich angegangen wurden.
Unter der Erde war die Situation allerdings noch unübersichtlicher: Die 120 Neonazi-Aufmarsch-Teilnehmer wurden direkt in den mit Gegendemonstranten und Passanten erfüllten U-Bahnhof geführt, wo es laut Bericht des Tagesspiegels zu rassistischen Beschimpfungen und kurzen Übergriffen durch die Nazis kam. Diese setzten sich dann auch nicht brav in die U-Bahn ? sondern liefen einfach am anderen Ende des U-Bahnhofs wieder auf den Mehringdamm hinauf. Damit war der Kessel der Gegendemonstranten so plötzlich vorbei, wie er gekommen war, denn die Polizei war vollauf damit beschäftigt, die hinter ihr aus der Erde auftauchenden Neonazis wieder unter Kontrolle zu bringen.
Damit war allerdings der aktionsgeladenen Teil vorbei. Die Neonazis standen auf dem Mehringdamm, kurz vor Kreuzbergs Kult-Currywurstbude ?Curry 36?, umgeben von einer Reihe Polizisten und vielen Ringen von Gegendemonstranten, die die Rechtsextremen zunächst mit Sprechchören bedachten (?Kreuzberg war ’ne Scheißidee ? nieder mit der NPD!?) und später auch Wasserbomben bedachten. Die Nazis rollten zwar ein paar Transparente aus ? Motto der Demonstration war verquast wie provozierend ?Wahrheit macht frei ? Die Täter bei der Herkunft nennen?. Aber die Plakate konnte in dem Gedränge eh niemand sehen. Einige der Demoteilnehmer diskutierten mit Gegendemonstranten, die ihnen ?Kein Ort für Neonazis?-Plakate entgegenstreckten, andere provozierten ? die Mehrzahl wirkte dann aber doch recht eingeschüchtert und geknickt. Anmelder Sebastian Schmidtke, langjähriger Szeneangehöriger, gab denn auch recht schnell klein bei und erklärte die Versammlung schon um 13 Uhr als beendet. Ohne einen Meter gelaufen zu sein, wurden die Rechtsextremen dann ? dieses Mal erfolgreicher ? in den U-Bahnhof geleitet und nach Hause geschickt. Eine Gruppe wurde später noch in Rudow gesehen, machte dort aber, soweit bisher bekannt, keine Aktionen mehr.
Unter den Gegendemonstranten war auch der Ur-Kreuzberger Grünenpolitiker Hans-Christian Ströbele. ?Es war wohl ein Versuch?, schätzt er die Situation ein, ?aber Kreuzberg ist eben kein Platz für Neonazis. Das Scheitern hier solle ihnen die Laune wohl vermiesen.? Gleichwohl kritisierte Ströbele die Taktik der Polizei: ?Durch Desinformation Gegendemonstrationen zu verhindern, geht gar nicht.?
Ergänzung 16.05.2011:
Wie aus einer Pressemitteilung der Polizei hervorgeht, beschloss der Einsatzleiter der Polizei, die Neonazis durch den U-Bahnhof Mehringdamm hindurchzuführen, um auf der Straße eingekesselte Gegendemonstranten zu umgehen. ?Auf dem Bahnsteig überrannten unvermittelt Aufzugsteilnehmer an der Spitze des Aufzuges die Polizeikräfte und erreichten für kurze Zeit unbegleitet die Oberfläche des Mehringdamms?, heißt es weiter. Die 600 eingesetzten Polizisten hatten die Situation am Samstag zeitweise nicht mehr unter Kontrolle. Die Polizei wies am Sonntag Kritik am Einsatz zurück. Es habe keine andere Möglichkeit gegeben, die Blockierer zu umgehen. (Störungsmelder). Die ursprüngliche Route der Neonazis – die Polizei hatte sie ja geheim gehalten – sollte vom Mehringdamm Ecke Gneisenaustraße zum Platz der Luftbrücke gehen.
Die Folge des U-Bahn-Ausbruchs: Auf dem U-Bahnhof wurden Passanten und Gegendemonstranten angegriffen, auf dem Mehringdamm vier Gegendemonstranten brutal zusammengetreten, bevor die Polizei wieder Herr der Lage war – Fotos beim Tagesspiegel.
Mehr auf netz-gegen-nazis.de:
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| Neonazis gehen im U-Bahnhof auf Migranten los
Klarstellung:
Da es des öfteren Verwirrungen um das Presserecht gibt, was die fotografische Berichterstattung von Demonstrationen angeht, sei hier einmal gesagt:
Die Ausnahmen vom Recht am eigenen Bild: Wann darf ein Bild ohne Einwilligung veröffentlicht werden?
Bedeutsam ist die Vorschrift vor allem für Demonstrationen. Die beteiligten und erkennbar werdenden Personen müssen nicht bloßes Beiwerk sein, sie dürfen aber nur im Rahmen des Vorganges gezeigt und nicht portraitiert werden. Bildausschnitte und die Darstellung von Rednern sind zulässig, soweit sie den Vorgang, der das Thema des Bildes ist, repräsentieren (initiative-tageszeitung.de)