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Lagebild Antisemitismus #12 Free Antisemitismus from german guilt

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(Quelle: Nikolas Lelle)

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas wurde Anfang der 2000er-Jahre in Berlin errichtet. Es besteht aus 2711 Betonstelen. Grauen, quaderförmigen Stelen. Heute, fast 20 Jahre nach der Errichtung, sind Risse im Beton zu sehen. Teile des Memorials sind baufällig und werden renoviert. Das Cover unseres Zivilgesellschaftlichen Lagebildes Antisemitismus #12 zeigt einen Riss einer Stele. Die Ursachen der Risse sind: Hitze, Kälte. Kurzum: Die Witterung.

In diesem Sommer zeigte sich besonders deutlich, dass die Angriffe auf die Erinnerung die Arbeit der Gedenkstätten massiv behindern. Wöchentlich wurden zuletzt Hakenkreuz-Schmierereien in Buchenwald entdeckt. Das Thema verschwand dennoch für den Moment aus dem medialen Fokus. Der Grund: Am 7. Oktober überfiel die Terrororganisation Hamas die israelische Zivilbevölkerung. Mehr als 1.400 Israelis wurden ermordet, mehr als 200 wurden in den Gazastreifen verschleppt, tausende Raketen wurden auf Israel abgefeuert. Der 7. Oktober bedeutet eine tiefgreifende Zäsur in der Geschichte Israels – mit drastischen Auswirkungen auch für Jüdinnen*Juden in Deutschland. Auf deutschen Straßen und in den sozialen Netzwerken feierten Judenhasser*innen den Terror der Hamas. Viele zeigten Verständnis. Die Lage für Jüdinnen*Juden wurde zunehmend bedrohlicher. In Berlin wurden Mitte Oktober Häuser mit Davidsternen markiert.

Das hat auch viel mit dem Thema dieses Lagebilds zu tun wie aktuelle Vorfälle zeigen: In Saarbrücken (Saarland) wurde am Wochenende vom 14. bis 15. Oktober ein Gedenkstein mit der Inschrift „Nie wieder Faschismus“, der an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert, mit einer Palästina-Flagge besprüht. Am 15. Oktober trug eine Teilnehmerin ein Schild mit der Aufschrift „One Holocaust does not justify another“ im Rahmen einer Pro-Palästina-Demonstration in Frankfurt am Main (Hessen). Vor dem Auswärtigen Amt in Berlin riefen Aktivist*innen am 18. Oktober „Free Palestine from German guilt“. Die Vorfälle machen deutlich, wie das Gedenken an den Nationalsozialismus angegriffen wird, um gegen den Staat Israel zu agitieren. Israelbezogener Antisemitismus und Post-Shoah-Antisemitismus gehen oft Hand in Hand.

Nicht nur der Gedenkort in Berlins Zentrum bekommt Risse, sondern auch die Gedenkkultur. Schuld sind die Angriffe auf die Erinnerung von allen Seiten. Über das Berliner Denkmal sagte der Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke in seiner Dresdener Rede vom 17. Januar 2017: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“

„Ein Denkmal der Schande“: Der Angriff auf das Berliner Mahnmal war ein Generalangriff auf die Gedenkkultur. Die extreme Rechte will Risse im Gedenken. Risse werden, mit der Zeit, größer und tiefer. Spätestens mit der Dresdener Rede Höckes wurde deutlich: Die extreme Rechte will noch mehr. Sie will die Gedenkkultur einreißen. Sie will die Betonstelen – bildsprachlich – zerschlagen; und dagegen eine Erinnerung setzen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten relativiert. Das hat einen Effekt: Gedenkstätten werden immer öfter zum Ziel von Angriffen und Vandalismus, in Thüringen und deutschlandweit. Die Risse in der Erinnerungskultur werden größer. Die wenigen Errungenschaften werden in Frage gestellt. Mit Blick auf die massiven Angriffe auf Gedenkorte stellte Jens-Christian Wagner, der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Thüringen), vor kurzem fest: Wir erleben im Jahr 2023 einen „erinnerungspolitischen Klimawandel“. Klar ist: Die demokratische Zivilgesellschaft kann diesen Klimawandel stoppen. Mit Engagement und gemeinsamer Haltung – und mit einer vitalen Erinnerungskultur von unten.

Momentan wird die Rolle der extremen Rechten kaum diskutiert, weil der Blick – aus gutem Grund – auf die islamistischen und linken Gruppierungen gerichtet ist, die den Hamas-Terror verherrlichen und eine Grundlage für weitere antisemitische Vorfälle in Deutschland schaffen. Im Windschatten der Terror-Verherrlichung setzt die extreme Rechte ihre Angriffe auf die Erinnerung fort. In der Gedenkstätte Ahlem in Hannover (Niedersachsen) wurden Ende Oktober mehrere Gedenktafeln mit Aufklebern überklebt. Neben „Befreie dich vom Schuldkult“ war ein Aufkleber mit einer Palästina-Fahne und den Worten „Free Palestine End Israeli Occupation“ zu lesen. Ein Aufkleber der Neonazi-Gruppierung Junge Nationalisten zeigte eine blutige Israel-Fahne mit der Parole „Israel mordet und die Welt schaut zu“. Einige Tage zuvor hatte Die Heimat (früher: NPD), die Mutterpartei der Jungen Nationalisten, in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) eine Palästina-Fahne und ein großes Transparent mit der Parole „Der Staat Israel ist unser Unglück!“ aufgehängt. Immer wieder wird der Krieg gegen Israel mit Angriffen auf die Erinnerung verknüpft. So sagte Hans-Thomas Tillschneider, AfD-Fraktionsmitglied im Landtag Sachsen-Anhalts, auf seinem TikTok-Kanal: „Was Israel zur Zeit im Gaza-Streifen anrichtet, geht nicht. Israel straft die Palästinenser kollektiv für die Verbrechen der Hamas.“ Es seien nur die einzelnen Täter*innen, niemals ein ganzes Volk zur Verantwortung zu ziehen. Dies sei ein „Verstoß gegen Menschenrecht“. Abschließend ergänzte er: „Genau das Gleiche gilt übrigens für die Deutschen und den Holocaust. Man kann nicht das ganze deutsche Volk in Verantwortung ziehen für die Verbrechen einiger weniger.“ Die Vorfälle demonstrieren exemplarisch, wie Antisemitismus für eine Demontage der Erinnerungskultur genutzt wird. Das Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus #12 nimmt die Risse in der Erinnerung an den Nationalsozialismus in den Blick und ergänzt die aktuell geführte Antisemitismuskritik um eine spezifisch deutsche Facette: Jede Art von Antisemitismus in diesem Land bringt auch einen Ruf nach einem Schlussstrich mit sich.

Das gesamte Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus #12: Angriffe auf die Erinnerung finden Sie hier.

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