Im Krieg gegen die Ukraine werden die Gräuel des Nationalsozialismus relativiert. Die NS-Relativierungen sind in Russland, in der Ukraine und auch in Deutschland zu beobachten.
NS-Relativierung: Hitler-Putin-Vergleiche
In deutschen Kontexten wurde dies insbesondere in der Gleichsetzung und den Vergleichen zwischen Adolf Hitler und Wladimir Putin bzw. dem Angriffskrieg gegen die Ukraine und dem NS-Vernichtungskrieg deutlich. Der Spiegel schrieb über „erstaunliche Parallelen zwischen damals und heute“. Die ZEIT titelte „Was Putin mit Hitler verbindet”, Die Rheinpfalz titelte sogar „Putin ist ein zweiter Hitler“. Auch auf Demonstrationen in Deutschland fand dieses Narrativ Verbreitung, ein Schild auf einer Demonstration am Rosenmontag in Köln etwa zeigte Putin als Hitlerkarikatur. Eine den gleichen Zusammenhang herstellende Karikatur war auch vor der Botschaft der russischen Föderation in Berlin zu sehen. Auch die Formel „Putin = Hitler“ war wiederholt auf Protestschildern zu sehen.
Auch werden die Zerstörungen in der Ukraine mit den Zerstörungen im Nationalsozialismus gleichgesetzt. Ein drastisches Beispiel lieferte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst in seiner Rede im israelischen Parlament: „Hört darauf, was jetzt in Moskau gesagt wird: ‚Endlösung‘, aber jetzt bereits in Bezug auf die ukrainische Frage.“ Die Formulierung suggeriert eine Gleichsetzung mit der Shoah. Der Vergleich zur Shoah wurde u.a. von der israelischen Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem kritisiert.
Die Gleichsetzungen Putins mit Hitler und des russischen Angriffskriegs mit der industriellen Vernichtung von Jüdinnen:Juden im Nationalsozialismus sind geschichtsverklärend. Die NS-Vernichtungsmaschinerie ist in ihrer Dimension singulär. Hitler-Vergleiche dieser Art sowie sprachliche Anlehnungen an den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten sind Shoah-relativierend und damit antisemitisch.
Der russische Präsident Wladimir Putin instrumentalisierte den NS zur Legitimation des Angriffskriegs („Sonder-Militäroperation“). Er behauptete, die Ukraine verübe im Osten des Landes einen Völkermord an der russischsprachigen Bevölkerung und er selbst strebe die „Entnazifizierung“ der Ukraine an. Russlands Außenminister Sergej Lawrow verglich Äußerungen europäischer Politiker:innen zum Ukraine-Krieg mit Äußerungen Adolf Hitlers. Mit Blick auf die westlichen Wirtschaftssanktionen sprach er vom „totalen hybriden Krieg“. Lawrow verglich Selenskyj mit Hitler. Er behauptete, auch Hitler habe „jüdisches Blut“ gehabt. Die von der russischen Regierung verwendete Sprache wurde verurteilt. Zum Beispiel schrieb Yad Vashem in einer offiziellen Stellungnahme, man verurteile die „komplett falschen“ Vergleiche mit der NS-Ideologie sowie die „Trivialisierung und Verzerrung“ der historischen Fakten der Shoah.
Gleichsetzungen: Ukraine und Palästina
Auch in anderen Kontexten wurde der Ukraine-Krieg für die eigene Agenda instrumentalisiert. Pro-palästinensische Aktivist:innen setzten die Invasion der Ukraine in den Sozialen Netzwerken mit dem Nahostkonflikt bzw. dem Umgang Israels mit Palästina gleich. Der Vorwurf lautet: Was den Ukrainer:innen passiert, würden Palästinenser:innen seit Jahrzehnten erleiden. In den Sozialen Netzwerken häuften sich, gerade in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch, Postings und Kommentare, die von einem israelischen Angriffskrieg auf Palästina sprachen oder forderten, den Nahostkonflikt genauso wie das russische Vorgehen als Terror zu bezeichnen und als entsprechend illegitim zu bewerten. „Der eine Russe hat unrechtmäßig Ukraine und die Israelische Nation unrechtmäßig Palestina [sic!] eingenommen“, schrieb etwa ein User.
Gleichzeitig wurde die fehlende westliche Aufmerksamkeit für die Situation der Palästiner:innen angemahnt. Während der Krieg in der Ukraine einstimmig und medienwirksam verurteilt werden würde, fehle jegliche Solidarität für den palästinensischen Widerstand gegen den vermeintlichen Aggressor Israel. Während der Westen das Völkerrecht in der Ukraine verteidige, würde er die Menschenrechtsverletzungen in Palästina aktiv unterstützen.
Diese Erzählung wurde etwa in einem TikTok-Trend aufgegriffen. Bilder aus verschiedenen Kriegsgebieten, etwa aus Jemen, Syrien und auch Palästina wurden mit einem symbolischen Zuhalten der Augen quittiert. Bei der Einblendung eines Bildes aus der Ukraine erfolgte dann durch Mimik dargestellt der Aufschrei, um die Bestürzung der westlichen Welt auszudrücken. So sollte die unterschiedliche Aufmerksamkeit für bewaffnete Konflikte kritisiert werden. Die Sozialen Netzwerke spielen eine immer größere Rolle in der Verbreitung antisemitischer Ressentiments. Besonders deutlich wurde das im Mai 2021. Die erneute Eskalation im Nahostkonflikt wurde zum Anlass genommen, um Antisemitismus über die Sozialen Medien zu verbreiten. Influencer:innen streuten antisemitische Narrative, sodass insbesondere jüngere Nutzer:innen mit israelbezogenem Antisemitismus in Kontakt kamen.
Vorangetrieben wurde diese Darstellung des Krieges vor allem auch von BDS-Gruppen (steht für: Boycott, Divestment, Sanctions; deutsch: Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), die in einem Statement von einer westlichen Doppelmoral schrieben, die für Menschen im globalen Süden, vor allem für Palästinenser:innen, schmerzhaft sei: „After all, Israel’s decades-old regime of military occupation, settler-colonialism and apartheid is not only ‚Made in the West‘, but is still armed, funded and shielded from accountability by that same deeply colonial and racist West“. In dem Statement werden altbekannte, den Staat Israel delegitimierende Parolen mit scheinbaren Solidaritätsbekundungen für die Ukraine kombiniert, um ihnen dadurch mehr Gewicht zu verleihen. Bei BDS handelt es sich um eine internationale Kampagne ohne feste Organisation, die seit 2005 unter dem Deckmantel des Einsatzes für die Menschenrechte der Palästinenser:innen gegen Jüdinnen:Juden und Israelis agiert.
Von dieser Gleichsetzung der Ukraine und Palästina profitiert weder die ukrainische noch die palästinensische Bevölkerung. Israel ist einer tatsächlichen permanenten existenziellen Bedrohungssituation ausgesetzt und reagiert in der Regel verteidigungspolitisch auf die Angriffe. Zudem versuchte die ukrainische Regierung, anders als die radikalislamistischen Kräfte im Westjordanland und dem Gazastreifen, eine Eskalation zu vermeiden und erfuhr und erfährt trotzdem Gewalt von russischer Seite. Eine Gleichsetzung ist entsprechend inhaltlich falsch.
Das Lagebild und die sich daraus ableitenden Einschätzungen beziehen sich zwar auf den deutschen Kontext, aber die Gleichsetzung von der Ukraine mit Palästina lässt sich gerade in den Sozialen Netzwerken international beobachten.
Neue Verbindungen: Antisemitismus, Corona und Ukraine
Der Antisemitismus im „Querdenken“-Milieu während der Covid-19-Pandemie ist weiterhin aktuell und tritt in unterschiedlichen Facetten in Erscheinung. Antisemitismus beginnt dort mit der Relativierung des Nationalsozialismus und der Shoah. Ein Beispiel lieferte die prominente Ärztin Dr. Carola Javid-Kistel (Niedersachsen) im Rahmen einer Demonstration vom 08. Januar 2022 in Magdeburg (Sachsen-Anhalt). Sie behauptete, die Impfkampagne sei der „größte Genozid aller Zeiten“. Ein weiteres Beispiel ist das Tragen der „Ungeimpft“-Sterne, gelbe Sterne mit der Aufschrift „ungeimpft“, die optisch an jenen Stern angelehnt sind, den Juden in NS-Deutschland ab 1941 tragen mussten.
Im Kontext des Angriffskrieges gegen die Ukraine werden Motive des „Querdenken“-Milieus mit Motiven des Pro-Putin-Milieus vermischt und angebliche Verbindungen zwischen Covid-19-Pandemie und der Situation in der Ukraine hergestellt. So fand am 03. April 2022 ein Pro-Putin-Autokorso in Berlin statt. Auf dem Auto des Korso-Leiters war ein Schild mit einem „Judenstern“ zu stehen. Die Inschrift des Sterns lautete: „Russe“. Neben dem Schild stand die Frage: „Bald auch wir?“ Im „Querdenken“-Milieu ist die Pro-Putin-Haltung besonders stark. Nicht zuletzt, weil viele Querdenker:innen ihre Informationen aus dem deutschsprachigen Telegram-Kanal des russischen Staatssenders Russia Today beziehen.
Die Covid-19-Pandemie wird mit der Situation in der Ukraine verknüpft, um den antisemitischen Verschwörungsmythos vom „Great Reset“ zu nähren. Der Code „Great Reset“ steht hier für eine Verschwörungserzählung, nach der es vermeintliche Weltherrschaftspläne einer mächtigen Finanz- und Politikelite gebe, die hinter der Pandemie stecke und diese für ihre unheilvollen Ziele nutzen würde. Schon im November 2021 veröffentlichte das „Querdenken“-Milieu einen „Neuen Krefelder Appell“. Unter den Erstunterzeichner:innen des Appells ist Michael Ballweg, der Gründer der ersten „Querdenker“-Gruppe „Querdenken 711“. Es heißt im Appell, „die gegen Russland und China gerichteten Manöver werden immer aggressiver“. Und: „Aber die Machthaber dieser Welt führen Kriege auch an neuen, andersartigen Fronten. Unter dem Deckmantel der Pandemie-Bekämpfung wird das Leben von Milliarden Menschen gefährdet.“ Das Fazit lautet: „Es sind die gleichen Kräfte, die hinter den verschiedenen Formen von Krieg stehen.“ Im Appell wird deutlich, wer die „Kräfte“ sind: die Amerikaner. Das Ziel sei der „Neustart“, der „Great Reset“. Der Appell ist nicht nur antiamerikanisch, sondern auch strukturell antisemitisch.
Ein weiteres Beispiel für die Integration des Ukraine-Kriegs in die antisemitischen Verschwörungsmythen im Kontext der Covid-19-Pandemie lieferte Björn Höcke (AfD-Fraktionsvorsitzender Thüringen) im Rahmen einer Veranstaltung des AfD-Kreisverbandes Uckermark vom 29. Februar 2022 in Prenzlau (Brandenburg). Höcke nutzte eine Reihe antisemitischer Codes, um die Hintergründe einer angeblichen „Plandemie“ zu erklären.
Er behauptete, „globalistische Eliten“ wollten eine „Neue Weltordnung“, eine „Weltregierung“ schaffen. Der US-amerikanische Jude „George Soros und die anderen Superreichen“ würden „mit ihren Stiftungen“ die Souveränität der Nationalstaaten „unterwandern“. Über die Politiker:innen der Bundesregierung sagte Höcke in antisemitischer Manier: „Diese Menschen, die uns regieren, liebe Freunde, das sind keine deutschen Patrioten, das sind globalistische Sprechpuppen“. Mit Blick auf die Covid-19-Pandemie und den Ukraine-Krieg sagte er: „Das hängt alles miteinander zusammen.“ Diese neue Verbindung ist ein Versuch, den antisemitischen Verschwörungsmythos um den Ukraine-Krieg zu erweitern.
Das verschwörungsideologische Compact-Magazin nimmt in der Verquickung von Covid-19-Pandemie und Ukraine-Krieg eine Vorreiterrolle ein. Das Magazin schrieb: „Während mediale Kriegshetze die Bürger in Atem hält, droht hinter den Kulissen die Durchsetzung der allgemeinen Zwangsimpfung.“ Die Lage in der Ukraine wird als Ablenkungsmanöver und Inszenierung einer mächtigen Elite dargestellt.
Krieg der Erinnerung: Angriff gegen die Shoah-Gedenkstätte Babyn Jar
Auch im Hinblick auf die Erinnerungskultur der Shoah hat der Ukraine-Krieg dramatische Folgen: Babyn Jar, eine Schlucht in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wurde am 01. März 2022 durch russische Raketen und Granaten attackiert. In der Schlucht wurden am 29./30. September 1941 mehr als 30.000 Juden und Jüdinnen von den Nazis ermordet. Über den russischen Angriff sagte Natan Sharansky vom Babyn Yar Holocaust Memorial Centre, der Putins Missbrauch der Shoah zur Legitimierung der Invasion eines demokratischen und souveränen Staates sei „absolut verabscheuungswürdig”. Die Bombardierung von Babyn Yar habe einen symbolischen Charakter. Andriy Yermak aus dem ukrainischen Präsidialamt schrieb via Twitter, „diese Barbaren” töteten die Opfer der Shoah „noch einmal”.
Auch in Deutschland wurde Kritik an dem Angriff laut. Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee erklärte: „Für Überlebende des Holocaust in aller Welt ist die Beschädigung der Holocaust Gedenkstätte Babyn Jar durch russische Bomben ein weiteres entsetzliches Sinnbild dieses verbrecherischen Krieges. Ihre Gedanken und Gebete sind bei den 10.000 Überlebenden des Holocaust, die in der Ukraine beheimatet sind. Sie werden in diesen bitteren Stunden und Tagen von ihren Traumata eingeholt und müssen erneut um ihr Leben und das ihrer Mitmenschen fürchten.“ Noch im Oktober 2021 hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Massenmorde von Babyn Jar besucht. In seiner Rede sagte Steinmeier: „Als Deutscher und als deutscher Bundespräsident ist es ein schwerer Weg, hierher, nach Babyn Jar. Aber zugleich bin ich dankbar, hier zu sein.“ Und: „Der deutsche Angriffs- und Vernichtungskrieg war eine mörderische Barbarei. Millionen fielen ihm zum Opfer. Sie wurden getötet, ermordet, in die Zwangsarbeit versklavt, verschleppt: Menschen, die den Nationalsozialisten nicht als Menschen galten. Hier in der Ukraine sollten ganze Landstriche – so heißt es in den Befehlen – systematisch ‚gesäubert‘ und Kiew dem Erdboden gleichgemacht werden.“
Flucht und Rettung: Shoah-Überlebende aus der Ukraine
Inzwischen sind zehntausende Menschen (Soldat:innen und Zivilist:innen, darunter hunderte Kinder) im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestorben. Das berichtet die UN Human Rights Monitoring Mission in Ukraine. Das russische Militär hat, wie Human Rights Watch im Bericht vom 03. April 2022 schildert, Kriegsverbrechen begangen. In der Stadt Butscha wurde ein Massaker verübt. Es wurden über 400 Menschen ermordet und unzählige Menschen verschleppt.
Unter den zehntausenden Menschen, die bereits im Krieg gegen die Ukraine gestorben sind, sind Shoah-Überlebende. So starb der 96-jährige Boris Romantschenko am 18. März 2022 durch einen russischen Bombenangriff in Charkiw. Im Nationalsozialismus hatte Romantschenko die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebt. Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora veröffentlichte eine Stellungnahme zum Tod des Shoah-Überlebenden: „Mit Entsetzen müssen wir vom gewaltsamen Tod von Boris Romantschenko im Krieg in der Ukraine berichten. […] Der entsetzliche Tod von Boris Romantschenko zeigt, wie bedrohlich der Krieg in der Ukraine auch für die KZ-Überlebenden ist.“ Im Deutschen Bundestag fand ein offizielles Gedenken statt.
Laut UN Refugee Agency sind seit Kriegsbeginn mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet (Stand: 04.04.2022). In Deutschland sind mehr als 300.000 Menschen angekommen (Stand: 05.04.2022). Unter den Geflüchteten sind auch Shoah-Überlebende. Die ehemalige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hatte in einer Rede im Deutschen Bundestag erklärt, sie wolle Shoah-Überlebenden einen „sicheren Hafen“ in Deutschland bieten. Zur Rettung von Holocaustüberlebenden vor dem Kriegsgeschehen gründete die Jewish Claims Conference am 09. März 2022 ein Netzwerk, zu dem unter anderem die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) und das Auswärtige Amt gehören. Transporte aus der Ukraine und die Unterbringung der Pflegebedürftigen in Deutschland wurden in enger Zusammenarbeit mit dem Joint Distribution Commitee (JDC) sowie mit Unterstützung von Trägern der freien Wohlfahrtspflege organisiert. In den Evakuierungen konnten bislang mehr als 70 Shoah-Überlebende gerettet werden. Insgesamt arbeitet das Netzwerk an der Evakuierung von mehr als 500 Menschen.
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