documenta fifteen
Schon im Januar 2022 wurde davor gewarnt, dass es auf der documenta fifteen zu antisemitischen Vorfällen kommen könne. Als Begründung wurde die Nähe einiger Künstler*innen zur BDS-Kampagne angeführt sowie das Fehlen jüdischer oder israelischer Künstler*innen. Zudem wurde mit Sorge auf das palästinensische Kollektiv The Question of Funding geschaut, das in Ramallah in einem kulturellen Zentrum beheimatet ist, das nach Khalil Sakakini, einem pan-arabischen Nationalisten und Reformpädagogen, benannt ist.
Die Sorgen wurden nicht nur vom Bündnis gegen Antisemitismus Kassel geäußert, sondern auch vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der Jüdischen Gemeinde Kassel und dem Sara Nussbaum Zentrum für Jüdisches Leben in Statements, Briefen und Gesprächen artikuliert. Noch bei der Eröffnung der documenta fifteen wurden die Sorgen als Alarmismus, wenn nicht gar als Rassismus bezeichnet und abgewunken. Man beteuerte, es werde keinen Antismitismus geben. Es kam anders.
Die Sorgen drehten sich darum, dass Künstler*innen eine Ausstellung dominieren, die Antisemitismus als „Israelkritik“ tarnen, und dass die „Kritik“ zu antisemitischen Vorfällen führt. Volker Beck, der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, sagte später zugespitzt: „Wer BDS einlädt, holt sich eben Antisemitismus ins Haus.“
Erst als es zu spät war, folgte eine Entschuldigung. In einer Pressemitteilung schrieb die mittlerweile zurückgetretene Generaldirektorin Sabine Schormann: „Allen Beteiligten, das möchte ich nochmal ausdrücklich betonen, tat und tut es außerordentlich leid, Grenzenüberschritten und Gefühle verletzt zu haben.“ Das Kurator*innen-Kollektiv ruangrupa ergänzte: „Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, Scham, Frustration, den Verrat und den Schock.“
Das Sarah Nussbaum Zentrum und die Jüdische Gemeinde Kassel antworteten: „In der aktuellen Debatte wird Hass gegen Jüdinnen und Juden allzu oft als eine jüdische Befindlichkeit wahrgenommen. Dies stört uns massiv. Wir wehren uns entschieden gegen Positionen, die die Bedeutung und die Auswirkungen des Antisemitismus herunterspielen und als kulturelle bzw. traditionelle Eigenart verklären.“ Denn zur Entschuldigung des zugestandenen Antisemitismus gehörte der Verweis auf die kulturelle Herkunft der Künstler*innen. Damit sollte der Antisemitismus relativiert werden.
Antisemitismus ist aber universal. Der kulturelle Kontext kann diskutiert werden, doch hat er keinen Einfluss auf antisemitische Tatsachen. Bilder, Aussagen und Meinungen können nicht in dem einen Land antisemitisch sein, in dem anderen nicht. Weder Intention noch Bewusstsein, die hinter antisemitischer Kunst stehen, machen diese mehr oder weniger antisemitisch. Was sie tun, ist, aktiv zur Reproduktion antisemitischer Ressentiments beizutragen.
Die kulturelle Unabhängigkeit des Antisemitismus spiegelt sich auch in der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wieder. Die Debatte steht aber stellvertretend für viele, in denen Jüdinnen*Juden, und damit die Perspektive der Betroffenen von Antisemitismus, keine Rolle spielen. „Jews don’t count“ – so nannte der englische jüdische Comedian David Baddiel sein 2021 erschienenes Buch.
Dem Zentralrat der Juden in Deutschland Alarmismus vorzuwerfen, ist perfide. Denn die Perspektive jüdischer Organisationen und Gemeinden ist die Perspektive derer, die unmittelbar und jeden Tag von Antisemitismus betroffen sind. Nicht zuletzt die generationenübergreifende Erfahrung der Shoah führt dazu, dass Antisemitismus viel früher als in der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wird. Das gilt umso mehr, wenn es um Antisemitismus geht, der sich auf Israel bezieht. Jüdische Organisationen haben eine „feine Sensorik für Antisemitismus“, schrieb die Journalistin Nele Pollatschek mit Blick auf den Umgang mit dem Zentralrat in der documenta-Debatte und fuhr fort: „Man kann über den Zentralrat der Juden denken, was man will, aber diese Kompetenz hat er. Und natürlich ist er alarmistisch, das ist seine Aufgabe! Er ist ein Inte–
ressenverband. Eines der größten Interessen deutscher Juden ist es, nicht ermordet zu werden.“
Bezogen auf die documenta fifteen wäre es wichtig gewesen, die Sorgen wirklich ernst zu nehmen und zu überlegen, wie man damit umgeht, was ein adäquater Umgang mit den antisemitischen Vorfällen sein kann. Nach Wochen wurde ein Expertengremium zur Beratung eingesetzt, unter anderem mit Marina Chernivsky und Prof. Dr. Julia Bernstein und damit mit zwei verdienten, jüdischen Antisemitismusforscherinnen besetzt. Ob das rückwirkend noch irgendetwas bringt, steht auf einem anderen Blatt.
An der Stadtkirche Wittenberg (Sachsen-Anhalt) wurde um 1290 ein judenfeindliches Sandsteinrelief angebracht. 1570 wurde das Relief an die südliche Außenfassade der Stadtkirche versetzt. Das Relief zeigt ein Schwein. Zwei Juden trinken an den Zitzen der Sau, ein Rabbiner blickt ihr in den After. Schweine gelten im Judentum als unrein. Das Relief wurde um die Inschrift „Rabini SchemHaMphoras“ ergänzt. Die Inschrift erinnert an die judenfeindliche Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ (1543) von Martin Luther. Die Stadtkirche Wittenberg war seit 1517 der Predigtort Luthers.
1988 wurde eine quadratische Gedenkplatte mit einer Inschrift unterhalb des Reliefs in den Boden eingelassen. Die Inschrift lautet: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen.“ Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte die Inschrift mit den Worten: „Was eine Einordnung sein könnte, benötigt selbst eine Infor–
mationstafel.“ Die Gedenkplatte wurde durch eine Infotafel und eine Zederpflanze ergänzt.
Die „Judensau“
Ein zweites Beispiel für diese Beobachtung liefert die gesellschaftspolitische und juristische Debatte um ein antisemitisches Relief an der Stadtkirche Wittenberg (Sachsen-Anhalt): die „Judensau“. Der Kläger: Der 79-jährige Michael Düllmann aus Bonn (Nordrhein-Westfalen), der vor 45 Jahren zum Judentum konvertierte, ist Mitglied einer jüdischen Gemeinde in Deutschland. Er klagte im Reformationsjahr 2017, denn er sah im Relief eine Beleidigung und eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Im Reformationsjahr wurde die Stadtkirche samt Relief saniert, sodass die antisemitische Darstellung allseits sichtbar und in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt wurde. Das Ziel der Klage war die Entfernung des Reliefs. Die „Judensau“ solle, so lautete die Forderung Düllmanns, in ein Museum. Das Relief könne lediglich im Museum ein Mahnmal sein. Solange das Relief die Kirche ziere, sei die Darstellung ein Teil kirchlicher Verkündigung. Die Angeklagte: Die Stadtkirche Wittenberg wollte das Relief nicht entfernen lassen. Das Relief verschmähe Jüdinnen*Juden, allerdings werde es durch eine bronzene Gedenkplatte und eine Infotafel kontextualisiert. Der Pfarrer der Wittenberger Gemeinde, Matthias Keilholz, sagte: „Wenn diese Skulptur verschwinden würde, würde dieses Erinnern, dieses Mahnen mit der Zeit auch verschwinden.
Drei Instanzen entschieden. Erste Instanz: Das Landgericht Dessau urteilte im Mai 2019, das Relief müsse nicht entfernt werden. Zweite Instanz: Das Oberlandesgericht Naumburg bestätigte das Urteil im Februar 2020. Der Tenor der ersten und zweiten Instanz lautete: Das Relief hat einen beleidigenden Charakter. Da das Relief aber in ein Gedenkensemble eingebettet ist, ist eine Distanzierung vom beleidigenden Charakter erfolgt. Dritte Instanz: Der Bundesgerichtshof bestätigte die Urteile im Juni 202242. Der Vorsitzende Richter stellte fest, das Relief sei antisemitisch. Dennoch könne der Kläger nicht die Entfernung des Reliefs verlangen. Schließlich fehle eine Rechtsverletzung. Denn die Rechtsverletzung sei durch die Gedenkplatte und die Infotafel beseitigt worden.
Der Oberbürgermeister der Stadt Wittenberg, Torsten Zugehör, war laut MDR „erleichtert“ und „froh“ über das Urteil. Zugehör sagte: „Ich glaube, den Dreiklang […] kann man in der Vermittlung verbessern. […] Vom Abmachen […] halte ich nichts.“ Die Evangelische Kirche begrüßte das Urteil, Teile der Kirche regten an, den Ort neu zu gestalten oder weiterzuentwickeln. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hingegen übte Kritik am Urteil. Die Dachorganisation jüdischer Gemeinden und Landesverbände schrieb in einer Pressemitteilung, sie hätte sich „eine deutlichere Positionierung des Bundesgerichtshofs gewünscht“. Der Präsident des Zentralrats, Dr. Josef Schuster, erklärte: Zwar sei das Urteil „nachvollziehbar“. Jedoch enthalte „weder die Bodenplatte noch der erläuternde Schrägaufsteller eine unzweideutige Verurteilung des judenfeindlichen Bildwerks“. Die Kirche müsse die eigene Schuld eingestehen und den Judenhass deutlich verurteilen. Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein, forderte, das Relief entfernen zu lassen und in ein Museum zu bringen. Bereits 2017 stellte der jüdische Schriftsteller Dmitrij Kapitelman fest: Nicht die christliche, sondern die jüdische Bevölkerung müsse die antisemitische Darstellung aushalten. Das zeige: „Wenn das Schwein bleibt, ist es eine Machtdemonstration dafür, wer in diesem Land die Schmerzgrenzen zieht.“
Kein guter Umgang
Im Fall der Debatte um die „Judensau“ wird deutlich: Jüdische Perspektiven werden durchaus gehört. Aber: Sie werden nicht berücksichtigt. Sie zählen nicht, werden nicht ernstgenommen. Die Debatte um die documenta fifteen bestätigt diese Beobachtung. Diese Dynamik zeigte sich auch viel zu lang im Umgang mit den Angehörigen des Olympia-Attentats. Zur Erinnerung: Während der Olympischen Spiele 1972 in München nahmen palästinensische Terroristen die israelischen Sportler als Geiseln; u. a. um politische Gefangene freizupressen. Die deutsche Polizei war maßlos überfordert. Am Ende wurden elf Israelis ermordet. Die Angehörigen verlangten bis heute, also 50 Jahre lang, nicht nur eine Entschädigung, sondern vor allem auch eine Entschuldigung und Aufklärung über das Geschehene. Die Aufklärung des Versagens wurde von Anfang an behindert und nicht vorangetrieben. Deutschland hat sich nie offiziell entschuldigt, obwohl das Attentat auf deutschem Boden passierte, der deutsche Krisenstab bei jeglichen Befreiungsversuchen versagte und das deutsche Sicherheitskonzept schwach war. Bis kurz vor dem 50. Jahrestag verhallten die Forderungen der Angehörigen. Im August kündigten sie schließlich an, von der offiziellen Gedenkfeier fernzubleiben. Soweit kam es dann doch nicht.
In der Vergangenheit gab es zweimal ungenügende Entschädigungen. Zunächst vom Roten Kreuz, um ein Schuldeingeständnis Deutschlands zu vermeiden. Im Jahr 2002 gab es ca. 27.000€ pro Angehörige*r. Zum Vergleich: Beim Bombenanschlag von Lockerbie auf ein Flugzeug der US-amerikanischen Fluglinie Pan American World erhielt jedes Opfer 10 Millionen US-Dollar. „Wir wollen keine Milliarden – aber Geld, das einen Unterschied im Leben unserer Kinder macht“, sagte Ankie Spitzer, Ehefrau des ermordeten Fechttrainers Andrei Spitzer.
In der Woche vor dem Jahrestag kam es nun zu einer neuen Entschädigungszahlung: Bund, Land und die Stadt München zahlen den Hinterbliebenen nun insgesamt 28 Millionen Euro. Auch soll im Rahmen der Gedenkveranstaltung politisch Verantwortung übernommen werden. Zudem werden geschlossene Akten zugänglich gemacht und eine Kommission deutscher und israelischer Historiker*innen soll das Attentat aufarbeiten. Es wird nun von einer „historischen Verpflichtung gegenüber den Opfern und deren Hinterbliebenen“ gesprochen, der die Regierung nachkommen will. 50 Jahre hat es dafür gebraucht.
Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass diese Gesellschaft keinen adäquaten Umgang mit Antisemitismus gefunden hat; bis heute nicht. Irgendwo zwischen Abwehr, Einfallslosigkeit und Überforderung pendeln sich diese Debatten um die documenta und die sogenannte Judensau ein, deren Ausgangspunkt war, zu klären, wie mit diesem oder jenem Antisemitismus umzugehen ist.
Der israelische Soziologe Natan Sznaider sagte im Interview unseres Lagebildes, Jüdinnen*Juden könnten sich auf die nicht-jüdische Mehrheit in Deutschland nicht verlassen. Ein untragbarer Zustand. Ein Gefühl, das auch durch die Art ausgelöst wird, wie in diesen Debatten die Sorgen von jüdischen Organisationen und Verbänden Beachtung finden.
Dieser Artikel erschien zuerst im Lagebild Antisemitismus 2022 der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung.
Aktionwochen gegen Antisemitismus
Das Programm der Bildungs- und Aktionswochen 2022 finden sie hier:
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Artikel aus dem Lagebild Antisemitismus auf Belltower.News
- Interview Nathan Sznaider: „Vorher waren es Rechte, die antisemitisch waren, jetzt Teile des linken Milieus“
- Aktionswochen gegen Antisemitismus starten mit zivilgesellschaftlichem Lagebild
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