Seit etwa 1.700 Jahren gibt es Juden auf dem Territorium, das wir heute als Deutschland bezeichnen. In dieser Zeit lebten und verschwanden verschiedene Gruppen und Stämme. Von jetzt aus betrachtet, also aus dem Wunsch, die Anwesenheit der Juden zu feiern, steckt darin auch eine kleine Ironie, denn die Geschichte zeigt uns, dass die Mehrheitsbevölkerung hier keineswegs als deutsch beschrieben werden kann. Die Juden aber bildeten eine Konstante, und konstant war ebenfalls, dass sie nicht dazugehörten. Egal, wer dort gerade herrschte oder lebte. Es gab Phasen eines ruhigen Zusammenlebens und solche, in denen die Juden zu leiden hatten. Diskriminiert waren sie in den jeweiligen Unterdrückungssystemen jedoch immer. Diese sehr lange Tradition der Fremdheit, der Ausgrenzung und der Gewalt fand mit der Shoah ihren Höhepunkt. Nach dem Vernichtungskrieg und dem Zivilisationsbruch der Shoah endete 1945 zwar die rechtliche Diskriminierung und der Antisemitismus galt als geächtet, doch die wenigen übriggebliebenen Juden haben weiterhin Grund zur Sorge. Der Antisemitismus verschwand nicht, er veränderte sich nur. Heute zeigt er sich in vielen Gesichtern, die im „Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus“ beschrieben werden sollen.
Die Frage ist also, was das Gedenken an die lange Präsenz der Juden bedeutet und was bzw. wie es gefeiert werden soll. Angesichts der Kontinuität des Antisemitismus scheint es schwierig, die besonderen Verdienste der Juden in Deutschland über die Jahrhunderte bis heute zu feiern. Denn macht es einen Unterschied, ob sie Verdienste haben oder nicht? Ändert das die Art des Gedenkens oder die Erinnerung an ihre Verfolgung und Ermordung? Die Antwort ist: Ja und Nein. Die Verdienste der Juden hier in Deutschland können sehr wohl wertgeschätzt werden. Doch wiegt die Tatsache dieser Wertschätzung die Geschichte ihrer Verfolgung nicht auf. Das eine mit dem anderen zu verrechnen, darf auf gar keinen Fall zugelassen werden.
Jüdische Perspektive
Aus jüdischer Perspektive waren und sind die Existenz und das Überleben in Deutschland in hohem Maße ambivalent. Juden auf dem Gebiet Deutschlands hatten es mit einer Normalität zu tun, die sich zwischen Verfolgung und Koexistenz hin und her bewegte. Manchmal erschienen sie nützlich oder wurden ob ihrer vermeintlichen Allmacht gefürchtet, meist jedoch waren sie eine verachtete Minderheit, die abgesondert und in Armut lebte. Die meisten der großen Verschwörungserzählungen über das abgrundtief Böse im Wesen und Handeln der Juden sind in Deutschland entstanden oder fanden hier begeisterte Verbreitung. Die Kirchen als Institutionen der Macht und des Staatswesens spielten dabei eine zentrale Rolle. Und dennoch – trotz der vielen Pogrome und Vertreibungen in Richtung Osten – blieben viele Juden in Deutschland und erlebten auch Zeiten der Toleranz und ansetzenden Emanzipation. Die Haskala, die jüdische Aufklärung, hat sich nach Kräften um eine Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft und gegenseitige Öffnung bemüht. Das war eine Zeit der Hoffnung und auch der Anpassung. Viele deutsche Juden ließen ihr Judentum unsichtbar werden oder versuchten, es ganz abzulegen. Wenn heute von einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen wird, wenn von Wurzeln der Gemeinsamkeit geredet wird, ist diese Zeit zwischen dem 18. Jahrhundert bis zur Wahl Hitlers gemeint. Doch auch hier blieben die Juden Fremde, und von Symbiose oder Gemeinsamkeit konnte – außer in Einzelfällen – gesellschaftlich keine Rede sein. Die jüdische Erfahrung nach der Annäherung, die vor allem von den Juden kam und somit einseitig war und schließlich mit der Vernichtung geendet hat, lässt sich nicht aus dem kollektiven Gedächtnis wegwischen. Sie bildet auch heute einen Teil der jüdischen Perspektive ab.
Die Shoah ist erst einige Jahrzehnte her, ein kurzer Zeitraum im Verhältnis zur Wucht dieser Zerstörung und geschichtlich gesehen nur ein Wimpernschlag. Die Überlebenden und ihre Kinder leiden noch immer unter dem Trauma dieser Erfahrung. Die Hoffnung ist dennoch geblieben, dass nach der Shoah ein Zusammenleben in Respekt und Anerkennung möglich sei. Diese Ambivalenz in der jüdischen Perspektive zu kennen und zu verstehen, ist die Voraussetzung für eine gegenseitige Hoffnung in der Gegenwart.
Antisemitismus heute
Antisemitismus hat nie aufgehört zu existieren, auch wenn er in manchen Zeiten weniger präsent erscheint als in anderen. Dem Antisemitismus ist schwer beizukommen, er hält sich hartnäckig, ist tief im kulturellen Gedächtnis verhaftet und scheint gegen Aufklärung relativ resistent zu sein. Er kann überwintern, er kann ruhen in der Gesellschaft, manchmal sogar tief schlafen. Und doch taucht er immer wieder auf, selbst dann, wenn die Welt scheinbar viel offener und mit Minderheiten toleranter geworden ist. Dass über Antisemitismus heute in der Gesellschaft debattiert wird, ist eine gute Nachricht. Denn wenn es eine Chance gibt, ihn wieder einzudämmen oder Menschen davor zu bewahren, Antisemitismus zu internalisieren, dann ist es die Debatte, die öffentliche Auseinandersetzung damit und gesellschaftliche Anstrengungen, sich dem Problem zu stellen. Das geschieht gerade in Deutschland, und das ist gut so. Denn Antisemitismus, der nicht als solcher benannt wird, der unkommentiert bleibt, der verschwiegen oder verleugnet wird, bleibt einfach bestehen und breitet sich ungesehen aus.
Das Internet und Soziale Medien sind die modernen Durchlauferhitzer für antisemitischen Hass. Sie sind wie ein riesiger, lauter und überall zugänglicher Stammtisch, der die alten wie die neuen Parolen des Antisemitismus in die Welt blökt. Gewiss finden dadurch mehr Menschen Zugang zu antisemitischen Parolen, als sie es ohne diese Instrumente täten. Erschwerend hinzu kommt die Eigenschaft der Menschen, einander immer überbieten zu wollen – auch darin, Hass zu verbreiten. Das gleiche gilt für Provokation und die Aufmerksamkeit, die viele dafür bekommen. So entsteht eine Art Strudel, der anfällige Menschen mit sich reißt und schließlich zu Gewalt in der realen Welt führen kann. Genau das ist bei dem Anschlag in Halle geschehen. Der Täter hatte vor, an Jom Kippur in die Synagoge einzudringen und so viele Juden wie möglich zu töten. Er ist ein Beispiel für jemanden, der sich im Netz radikalisierte und schließlich zwei Menschen umbrachte. Diese Tat trug dazu bei, dass Antisemitismus jetzt ein Thema ist.
Hinzu kommt, dass neben den Eskalationen durch das Internet auch Krisen eine Rolle spielen, die Verschwörungserzählungen wieder populär machen. Die Finanzkrise, die Krise im Nahen Osten, der Zuzug von Schutzsuchenden nach Deutschland, die Corona-Krise: Sie alle bieten Verschwörungstheoretiker*innen eine passende Grunderzählung, auf der sie Mythen verbreiten können, an deren Ende immer Juden an allem Bösen schuld sind. Die jüdische Hochfinanz, die jüdischen Volkszerstörer, die jüdischen Kindermörder, die jüdischen Eliten mit der großen Spritze, die das Volk jeweils manipulieren, ausrotten, ausbeuten, betrügen, beherrschen wollen – so lautet das antisemitische Narrativ. Es ist für jedes Milieu etwas dabei, für das linke und das rechte, für das bürgerliche, das ökologische, das spirituelle, für das der Antimodernen aus allen politischen Richtungen. Mit der Verbreitung von Verschwörungsideologien wird der Antisemitismus aktiv. Und auch hier beobachten wir, dass Verschwörungserzählungen als ernsthaftes Problem nur wahrgenommen werden, wenn sie in großen Demonstrationen sichtbar werden. Das jüngste Beispiel: die Corona-Krise, als tausende Men-schen Seite an Seite mit Rechtsextremen und QAnon-Anhängern und Relativierern der Shoah demonstrierten und dabei lauthals jeden Antisemitismus leugneten. Das taten übrigens auch viele Medien. Sie blendeten den antisemitischen Kern der Verschwörungsideologien aus. Antisemitismus selbst ist eine Verschwörungsideologie, vermutlich die älteste, die wir kennen und als Konstante in der christlichen wie in der muslimischen Kultur fest verankert.
Was tun?
Über 80 Prozent der Juden in Deutschland sagen heute, dass der Antisemitismus eine Gefahr ist. Diese Einschätzung bedeutet weit mehr, als dass Juden ein subjektives Gefühl hätten, das nicht unbedingt relevant sein müsse. Eine solche Haltung finden wir leider sehr oft bei Verwaltung, Polizei und Justiz, aber auch in öffentlichen Diskussionen. Juden in Deutschland sind aber keine ängstlichen Kinder, die nur Gespenster sehen, wo eigentlich gar keine sind. Sie leben mit täglichen antisemitischen Erfahrungen, mit Bedrohungen und Gewalt. Es ist eine kleine Gruppe, und dennoch sind die antisemitischen Straftaten auf Rekordhöhe.
Dagegen zu handeln ist schwer und leicht zugleich. Niemand muss Antisemit werden, deshalb ist es wichtig, deutlich zu machen, was Antisemitismus ist und dass er geächtet wird. Seine verschiedenen Facetten zu diskutieren und seine Existenz nicht zu leugnen hilft auch. Ebenso wichtig ist der Respekt vor der jüdischen Kultur, Geschichte und Religion. Gewiss muss man nicht erst persönlich einen jüdischen Menschen treffen, um so in Kontakt zu ko-men mit dem Judentum. Es gibt viel Wissen darüber, viele Gespräche, Literatur und Veranstaltungen. Eine Annäherung an das lebendige Judentum in Deutschland jenseits von Antisemitismus und Erinnerung an die Shoah kann dabei ebenso helfen wie der Abschied von Klischees. Nicht alle Juden tragen Kippa, nicht alle sind fromm, und es wäre schön, das auch in Bildern zu zeigen.
Argumente gegen Verschwörungserzählungen helfen nicht wirklich, wenn jemand schon festgezurrte Vorstellungen darüber hat, dass die Welt so funktioniert, wie es in diesen Ideologien suggeriert wird. Aber was hilft, und zwar immer, ist, sich an jene zu wenden, die noch nicht vollkommen versunken sind in solchen Vorstellungen. Junge Leute haben oft sehr großes Interesse, mehr zu erfahren über Antisemitismus, über das Jüdische und welche Mittel es gibt, den Hass zurückzudrängen. Wer Fragen dazu hat, soll sie unbedingt stellen. Für den Unterricht, die Jugendarbeit, die politische Bildung gibt es viele gute Antworten. Aber Antisemitismus entwickelt sich immer weiter, er geht mit der Zeit. Deswegen braucht es ein jährliches Lagebild und immer neue Antworten auf eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Denn Antimoderne und Antisemitismus sind zwei Seiten einer Medaille und beide bedeuten eine ernsthafte Bedrohung der Demokratie.
Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus
Der Text ist ein Auszug aus dem „Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus“ der Amadeu Antonio Stiftung, dass am 09.11.202 erschienen ist. Es ist eine zivilgesellschaftliche Bestandsaufnahme: Wie ist es 2020 um Antisemitismus in Deutschland bestellt?
Hier als PDF zum Download: