Die COVID-19-Pandemie macht die weitreichende Verbreitung von – in Teilen stark antisemitischen – Verschwörungsmythen sichtbar. Die Behauptung, eine mächtige, reiche Elite habe das Corona-Virus erfunden, um eine Diktatur zu errichten, erreicht im digitalen Raum ein Millionenpublikum. Während die Pandemie einen Anlass bietet, um in aller Öffentlichkeit zu behaupten, eine geheime Elite ziehe die Strippen, münden die strukturell antisemitischen Verschwörungsmythen in konkrete Gewalt gegen Jüdinnen und Juden. Gerade im Netz macht sich die Gewalt bemerkbar. Die Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, stellt fest: „In der Corona-Krise bricht sich der antisemitische Hass Bahn. Der Antisemitismus ist ohne Zweifel das Betriebssystem jedes verschwörungsideologischen Programms.“
Das Bundesland Rheinland-Pfalz verzeichnete bereits vor Ausbruch der Pandemie einen Anstieg von antisemitisch motivierten Straftaten. Im Jahr 2019 erfassten die polizeilichen Behörden etwa 50 Fälle. Das ist ein deutlicher Anstieg im Laufe der vergangenen Jahre (2017: 21, 2018: 32). Der Beauftragte der Ministerpräsidentin für jüdisches Leben und Antisemitismusfragen in Rheinland-Pfalz, Dieter Burgard, stellt fest: „Die Kindergärten und Schulen, Gemeindehäuser und Synagogen von Jüdinnen und Juden sind gefährdet. Das zeigt nicht zuletzt der Versuch des Attentäters vom 9. Oktober 2019, die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale mit Waffengewalt zu stürmen.“ Burgard ist seit Mitte 2018 der Ansprechpartner der Jüdinnen und Juden in Rheinland-Pfalz und zugleich der zentrale Koordinator aller Bemühungen zur Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus.
Die Amadeu Antonio Stiftung veranstaltete ein landesweites Netzwerktreffen gegen Antisemitismus, um zu ermitteln, welche Formen des Antisemitismus in Rheinland-Pfalz von besonderer Relevanz sind. Das Netzwerktreffen fand in Kooperation mit Dieter Burgard und dem Demokratiezentrum Rheinland-Pfalz statt. Nun veröffentlicht die Stiftung ein zivilgesellschaftliches Lagebild zum Antisemitismus in Rheinland-Pfalz, das die Erkenntnisse der Veranstaltung zusammenfasst und Forderungen zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen Strukturen im Kampf gegen Antisemitismus formuliert. Das Lagebild liefert konkrete Zahlen. Rolf Knieper („m*power – Mobile Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Rheinland-Pfalz“) schlüsselt die antisemitisch motivierten Delikte auf und erläutert die Vorfälle, die in der 2018 eingerichteten Beratungsstelle gemeldet wurden. Zudem gibt das Lagebild einen exemplarischen Einblick in die in Rheinland-Pfalz relevanten Erscheinungsformen des Antisemitismus.
Michael Müller beleuchtet die Bedeutung von Verschwörungsmythen. Er erklärt, welche Verbindung zwischen Antisemitismus und Verschwörungsmythen besteht und in welcher Form sich antisemitische Verschwörungsmythen in Rheinland-Pfalz äußern. Außerdem schreiben Andreas Portugall und Florian Eisheuer über die Funktion und Rolle des israelbezogenen Antisemitismus, der sich über politische Spektren hinweg erstreckt. Neben fundierten Texten enthält das Lagebild zwei Gespräche mit dem Vorsitzenden des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, Avadislav Avadiev, sowie mit dem Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Mainz, Aharon Ran Vernikovsky. Der obsessive Antizionismus ist ein Schwerpunkt des Gesprächs mit Avadiev. Er stellt fest: „Wer heutzutage gegen Israel polemisiert, meint ‚die‘ Juden.“
Die Gespräche und Texte des Lagebildes werden durch Forderungen ergänzt, die zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen Strukturen im Kampf gegen Antisemitismus notwendig sind.
Das Lagebild ist als PDF-Datei unter www.amadeu-antonio-stiftung.de abrufbar. Um das Lagebild als kostenlose Print-Ausgabe zu erhalten, schreiben Sie bitte eine Mail an: aktionswochen@amadeu-antonio-stiftung.de
Anlässlich der zunehmenden Verschwörungserzählungen rund um das Corona-Virus veranstaltete die Amadeu Antonio Stiftung am 15. Mai einen „Digitalen Aktionstag gegen Verschwörungsmythen und Antisemitismus“. Der Aktionstag bildete den Auftakt der Aktionswochen gegen Antisemitismus. Alle Veranstaltungen finden Sie hier (Programm wird fortlaufend aktualisiert).
Foto: Wikimedia / Manuel Herz Architects / CC BY-SA 3.0