Die Demonstration wird vom „Bundesverband für Lebensrecht“ veranstaltet und trifft mit der Forderung nach Inklusion vor der Geburt einen anschlussfähigen Punkt. Auch be_hinderte Menschen kämpfen seit Jahrzehnten für mehr gesellschaftliche Partizipation. Es geht den Abtreibungsgegner:innen jedoch nicht um weniger Diskriminierung in der Gesellschaft. Vielmehr missbraucht der „Lebensschutz“ das Thema Inklusion, um mehr Kontrolle über Schwangere zu gewinnen.
(CN: Nennung sexualisierter Gewalt im vorletzten Absatz)
Ein Ziel des Marsches, Abtreibungsregelungen weiter zu verschärfen, vereinte vor einer Woche wieder fundamentalistische Katholik:innen, Evangelikale und Orthodoxe mit AfD-Anhänger:innen und Mitgliedern der „Christdemokraten für das Leben“. Auch schwarz-weiß-rote Flaggen waren zu sehen. Die Teilnehmenden wollen Abtreibungen weitgehend verbieten und wieder unter Strafe stellen und auch Informationsmöglichkeiten weiter einschränken. Mit ihren Forderungen stellen die „Lebensschützer:innen“ Embryonen über die Selbstbestimmung und die Gesundheit von Schwangeren.
Abtreibungsregelungen
Aktuell sind laut Paragraf 218 StGB Schwangerschaftsabbrüche verboten, werden aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht strafrechtlich verfolgt. Eine der Bedingungen ist ein Abbruch innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen mit Nachweis einer Beratung. Andererseits gibt es in Deutschland die Sonderregelung, dass jene Föten bis zur Geburt abgetrieben werden können, bei denen Abweichungen zur angenommenen körperlichen Norm, wie Trisomie 21 festgestellt werden. Dies regelt die sogenannte medizinische Indikation.
Die Kritik der Fundamentalist:innen an Pränataldiagnostik weist auf das gesellschaftliche Problem der Be_hindertenfeindlichkeit hin. Doch darum geht es ihnen gar nicht. Betroffene kamen auf dem „Marsch fürs Leben“ nicht zu Wort. Dabei ist sowohl das Recht auf Leben als auch auf Selbstbestimmung schon lange ein Thema von Be_hindertenrechts-Bewegungen. Aktivist:innen aus der „Krüppelfrauengruppe“ positionierten sich bereits in den 1970er Jahren für mehr Selbstbestimmung und für die Fristenregelungen des Abtreibungsparagrafen 218. Die selektiven Früherkennungsmaßnahmen von sogenannten „Normabweichung“ dagegen kritisierten sie, ebenso wie es das Gen-Ethische Netzwerk auch dieses Jahr wieder auf den Gegenprotesten tat. Soziolog*in Kirsten Achtelik sagte in einem Gespräch mit der österreichischen Tageszeitung Standard: „Wir müssen darüber diskutieren, warum diese Tests gemacht werden und warum es gesellschaftlich so schwierig gemacht wird, ein Kind mit Behinderung zu bekommen“. Die selbsternannten „Lebensschützer:innen“ gehen auf diese Fragen nicht ein, ihre Inklusionsforderungen enden großenteils mit der Geburt. Damit lassen sie Schwangere allein mit der Verantwortung.
Recht auf Abtreibung, Be_hinderung und Krankheit
Der „Arbeitskreis mit ohne Behinderung“ kritisierte bereits 2010 in einem Artikel, dass Spätabtreibungen von „Lebensschützer:innen“ instrumentalisiert werden. „Wir wollen nicht, dass [Schwangere] zu Entscheidungen für oder gegen Abtreibungen gedrängt und hinterher für ein gesellschaftliches Problem (die Diskriminierung und gesellschaftliche Abwertung behinderter Menschen) zur Verantwortung gezogen werden.“. Stattdessen fordert die Gruppe Informationen für Schwangere und Eltern über Lebensrealitäten von Be_hinderten, in denen Betroffene zu Wort kommen, und mehr finanzielle Unterstützung.
Sonderwelten
Tatsächlich blieb die Lebensqualität be_hinderter Personen auf dem Marsch unkommentiert. Dass auch Be_hinderte von Rassismus, Homo- und Queerfeindlichkeit, Klassismus und Sexismus betroffen sind, interessiert die Fundamentalist:innen wenig. Und auch die AfD, die offen den „Marsch für das Leben“ angekündigte, hat sich in Vergangenheit nicht besonders für ihre Inklusionsbestrebungen bekannt gemacht. Trotzdem warf Helmut Matthies, der ehemalige Chefredakteur des evangelikalen Nachrichtenportals IDEA, von der Kundgebungsbühne aus „allen Parteien im Parlament außer der CDU, CSU und AfD“ vor, ihre Parteiprogramme beinhalteten keinen „Lebensschutz“.
Die Journalist:innen vom Podcast „Die Neue Norm“ zeigen dagegen, dass AfD und CDU kaum Verbesserungen für die Lebensqualität be_hinderter Personen versprechen. Beide halten in ihren Parteiprogrammen am Modell der Werkstätten fest, was für be_hinderte Menschen weiterhin den Ausschluss aus dem ersten Arbeitsmarkt und keinen Zugang zu Arbeitnehmenden-Rechten bedeutet. Dies läuft entgegen der UN-Behinderten-Konvention, die unterzeichnende Staaten dazu verpflichtet, Werkstätten abzubauen. Der AfD zufolge sollen jedoch auch Förder- und Sonderschulen erhalten bleiben, die Partei ist gegen eine Inklusion „um jeden Preis“. Zudem fragten sie in den letzten Jahren mehrmals in „Kleinen Anfragen“ in Landesparlamenten nach den Kosten und der Notwendigkeit von Inklusion, wie 2018 in Landtag Sachsen und 2016 in Thüringen. 2018 stellte sie eine „Kleine Anfrage“ im Bundestag zum Zusammenhang von Migrationshintergrund und Be_hinderungen. Mit welchen Intentionen die Anfragen gestellt wurden, ist unsicher, mit Blick auf die sonstige Parteilinie jedoch eher beunruhigend. Im AfD-Parteiprogramm wird außerdem mit keinem Wort Barrierefreiheit thematisiert. Die CDU gibt sich Inklusionsfreundlicher und verspricht in ihrem Parteiprogramm mehr Mobilität, bessere Arbeitslöhne und Inklusion. Trotzdem hält sie am Isolationsmodell der Werkstätten fest.
Was will der Bundesverband Lebensrecht?
Auf dem Marsch wurde an die Teilnehmenden appelliert, Schwangere zu unterstützen, wenn diese das Gefühl hätten, es allein nicht schaffen zu können. In einem Interview zum diesjährigen Marsch schlug Angelika Doose von der sogenannten „Aktion Lebensrecht Für Alle“ (ALfA) vor, Schwangere zu Vorsorgeuntersuchung zu begleiten, beim Einrichten des Kinderzimmers oder durch ein langes Gespräch zu unterstützen. Das dürfte wenig gegen die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Be_hinderungen und ihrer Eltern ausrichten. Die bürokratischen Hürden, Assistenz zu beantragen, eine passende Wohnung, eine Schule oder einen zumindest mit Mindestlohn bezahlten Arbeitsplatz zu finden, verbrauchen Zeit und Energie, geleistet wird das meist von Eltern. Inklusion bedeutet, Institutionen und nicht das Individuum zu verändern. Und auch die soziale Komponente, die Sorge vor Mobbing, Entmündigung und anderen Diskriminierungsformen wie sie Vanessa Hartmann in der Zeitung „Leben mit Down Syndrom“ beschreibt, beeinflusst die Lebensqualität be_hinderter Menschen. Von übermäßigem Risiko sexualisierter Gewalt an be_hinderten Menschen ganz zu schweigen. All das in den Blick zu nehmen, ist notwendig für ernstzunehmende Inklusionsvorhaben. Diese großen Lücken überraschen kaum bei der Stille um die Missbrauchsvorwürfe in den Bistümern, wie in Köln, von wo Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki jährlich ein Grußwort an den „Marsch für das Leben“ schickt.
Bei den Mitgliedsvereinen des „Bundesverband für Lebensrecht“ lässt sich lange nach Positionen zur Inklusion nach der Geburt suchen. Einzig die „Christdemokraten für das Leben“ forderten in einem Artikel von 2019 eine Bewusstseinskampagne zu „Inklusion vor und nach der Geburt“ von der Bundesregierung. Das Schweigen des Bundesverbandes ist auffällig und verweist darauf, dass das Interesse der selbsternannten „Lebensrechtler:innen“ nicht darauf liegt, die Lebensumstände von (be_hinderten) Menschen zu verbessern.
Dies zeigt auch die sichtbare Präsenz von Impfgegner:innen auf dem diesjährigen „Marsch für das Leben“ und die NS-Relativierung, die sowohl die Veranstaltenden auf Schildern, als auch von Individuen deutlich gemacht wurden. „Lebensschutz“ dient als Instrument und Vorsatz, Kontrolle über schwangere Körper zu erlangen, die Mutterrolle als wichtigste Aufgabe von Frauen darzustellen und die zweigeschlechtliche hetero- und cissexistische Norm zu verfestigen. Queeren Schwangeren und diversen Familienmodellen, Körpern und Lebensentwürfen sprechen die Fundamentalist:innen gar das Existenzrecht ab. Auf zahlreichen Gegenprotesten wurde deswegen Inklusion mit weiteren Gleichberechtigungsforderungen verbunden.