Mit Frank, einem der Seeed-Jungs bin ich im Scheunenviertel verabredet. Gleich hinter dem Rosa-Luxemburg-Platz fängt es an, zwischen Torstraße und Münzstraße geht es bis hinüber zur Neuen Schönhauser. Mein Vater ist hier aufgewachsen. Damals war seine Straße der Mittelpunkt der Chassidischen Welt in Berlin. Hier wohnten die Juden aus Osteuropa, arme Leute, kleine Händler, Schneider, Schuhmacher und jede Menge Rabbiner – in jedem dritten Haus war eine Betstube. Und Kinder natürlich, die auf der Straße tobten oder wie Trauben an der Hand ihrer Väter hingen, wenn sie noch klein waren. In der Grenadierstraße war kein Durchkommen: Die Leute verkauften Obst direkt von den Karren, Fuhrwerke machten sich mit der Produktion aus der Senffabrik auf den Weg zu den Märkten. Autos hupten. In der Mulackstraße warteten die Mädchen mitten im Trubel auf Kundschaft. 80.000 Menschen lebten hier, meist auf der Straße, denn in den Häusern war es eng. Es war laut, elend, lustig. Als mein Vater 13 wurde, fuhr er mit anderen jüdischen Burschen absichtlich am Schabbat Straßenbahn! Mitten durch die Nachbarschaft der schwarzen Kaftane, orthodoxen Regeln und schreienden Kinder. Hätte es den Stinkefinger als Zeichen schon gegeben, sie hätten ihn dieser Welt gezeigt – auf dem Weg zum Bülowplatz, heute Rosa-Luxemburg-Platz, wo sich die jungen Leute trafen: Sie wollten zu den Kommunisten, Wandervögeln oder den Anarcho-Zionisten, statt Thora und Talmud zu büffeln.
„To die for“
Im Vergleich dazu wirkt die Gegend jetzt kühl und starr. Die Armut von damals ist das Teure von heute. Im Fenster eines coolen Modeladens an der Ecke stehen Hunderte alter Nähmaschinen, genau solche, wie sie die meisten Leute hier vor den Deportationen hatten. Gegenüber in rohem Schick die feinen Anzüge von Hugo Boss, der mit der Produktion von Uniformen für die HJ, SA, SS und Wehrmacht reich wurde. Ein anderes Geschäft für Schuhe und Klamotten hat völlig ironiefrei den Spruch „To die for“ auf die Scheiben gedruckt. Und die Damen nebenan beim Hot-Yoga sind so kühl, dass ihnen schon ein aufgewecktes ‚Hallo‘ als unangemessener Übergriff vorkommt. Das Café, in dem ich warte, ist voller Architekten, Galeristen, Lektoren und Dot-Com-Menschen. Der Kellner kommt aus Rostock, er serviert Espresso-Macchiato. Mir fehlen die vielen Juden, die Neunmalklugen, die Theaterleute, Feuilletonisten, die lauten Frauen. Ohne den Holocaust säße hier an jedem Tisch ein Broder oder Levy.
So mag ich Berlin
Frank kommt herein. Er ist groß, schwarz, elegant und trägt ein riesiges Bündel Dreadlocks auf den Schultern. Wir reden über Glück, seine Familie, über Ghana, Musik, das neue Album und über die Gegend hier. Er strahlt, sein Blick folgt meinem Finger, mit dem ich die alte Route der Straßenbahn markiere. Die zischende Kaffeemaschine, Erinnerung an Kinderlärm, abgeblätterte Koscherzeichen an den Häusern. Es riecht nach Senf. Es klingt nach Reggae. Beim Reden mit Frank mischt sich die untergegangene Welt mit der des jungen Musikers. So mag ich Berlin.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).