Die Gegner*innen der modernen, liberalen Gesellschaft haben in Leipzig nicht zwangsläufig schwarz getragen. Sie hatten mehrheitlich auch keine Reichsflaggen in der Hand. Und die wenigsten von ihnen haben aktiv auf Polizist*innen eingeprügelt. Die Realität, die sich am Samstag, dem 7. November 2020 in Leipzig gezeigt hat, ist viel komplexer und beängstigender: Menschen, die die liberale und offene Gesellschaft ablehnen, sind nicht nur vermummte Neonazis, sondern genauso Hippies mit Rasta-Mützen, Studierende („Studenten stehen auf!“), Unternehmer*innen („Unternehmer stehen auf!“), Umweltschützer*innen, Eltern („Eltern stehen auf!“) und Gläubige, sie sind Rentner*innen und Arbeitnehmer*innen, Frauen wie Männer, weiße wie POCs. Dass der Protest so vielfältig daherkommt, darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er einen demokratiefeindlichen, regressiven und antisemitischen Konsens teilt.
Der demokratiefeindliche Konsens
Dieses Denken drückt sich vor allem in den folgenden vier Positionen aus:
- Sie teilen ein dystopisches, apokalyptisches Weltbild. Das heißt sie blicken voller Angst und ohne Hoffnung in die Zukunft und wähnen sich bereits am Rand einer Diktatur oder eines dritten Weltkrieges. Dieser behaupteten Apokalypse stellen sie ein romantisches, regressives Bild von Gesellschaft entgegen, dass wahlweise einen Sehnsuchtsort im Mittelalter, in der Zeit des Nationalismus des 19. Jahrhundert oder einer indigenen Kultur in Südamerika sucht.
- Sie betrachten die Welt nach einem einfachen Muster des ewigen Kampfes der guten gegen die bösen Mächte. Symbolisch drückt dies das Wort „Menschheitsfamilie“ aus, welches vom Schweizer Verschwörungsideologen Daniele Ganser stammt. Demnach seien 99% der Menschen gut bzw. aufrichtig, während es aber ein globales 1% gebe, dass die „Bösen“ meint. Diese „1%“ sind wahlweise Satanisten, Jüdinnen und Juden oder schlicht „Die da Oben“. Dieser Blick auf die Welt war und ist seit jeher anschlussfähig für antisemitische und demokratiefeindliche Positionen.
- Errungenschaften der Moderne, wie beispielsweise Expert*innenwissen durch Arbeitsteilung oder vermittelte anstelle von persönlicher Herrschaft lehnen viele ab. Sie stellen dem gegenüber, dass das eigene Gefühl und die eigene Beobachtung stets mehr zählt als die durch Wissenschaft gewonnene Erkenntnis. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen aus diesem Milieu zu Esoterik, Aberglaube und Parawissenschaften neigen.
- Der Begriff der „Freiheit“ erlangt in dem Milieu eine große Bedeutung. Jedoch wird unter Freiheit nicht die größtmögliche Freiheit für alle verstanden, sondern ausschließlich die Freiheit der eigenen Person bzw. der eigenen Gruppe. Dies wird deutlich am Umgang mit dem Themen Impfen oder Infektionsschutz. Entgegen der Annahme der Querdenker*innen ist dies kein persönliches, sondern ein gesellschaftliches Thema. Es ist eben keine private Entscheidung, ob man in einer Millionengesellschaft einen solidarischen Beitrag leistet. Die Freiheit der einen (z.B. derjenigen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können) hängt von der Freiheit der anderen ab.
Verschwörungserzählungen sind anschlussfähig
Ein Redner der Demonstration am 7. November 2020. in Leipzig bezeichnete die Demonstrierenden als „Mitte der Gesellschaft“. Auch wenn dies auf einige befremdlich wirken mag, können empirische Studien durchaus zeigen, dass die „Querdenken“-Ideologie durchaus anschlussfähig an die Mehrheitsgesellschaft ist: Bis zu 30% der Bevölkerung in Deutschland stimmt in Umfragen etwa der Aussage zu, das Land werde von geheimen Mächten kontrolliert (vgl. Konrad-Adenauer-Stiftung, S. 4). Diese geheimen Mächte werden wahlweise in einer „Impflobby“ gewähnt, in der WHO (World Health Organization), in einer „neuen Weltordnung“ oder bei „den Rothschilds“. In solchen verschwörungsideologischen Narrativen manifestiert sich eine Vorstellung von der Welt, die im Kern unvereinbar ist mit der freien Gesellschaft, in der wir leben: komplexe, vermittelte Prozesse werden auf einzelne Personen oder Personengruppen heruntergebrochen. Die Coronavirus-Pandemie – und die gemeinsame Anstrengung der Suche nach einem gesamtgesellschaftlich angemessenen Umgang mit ihren Folgen – werden zu „Diktatur“ karikiert.
Vielfältig undemokratisch
Es waren nicht die vermummten Neonazis, die in Leipzigs Straßen „Frieden, Freiheit, keine Diktatur!“ und „Corona ist vorbei – wir sind jetzt frei!“ skandierten. Es war der bunte, vielfältige Protest, der sich darauf eingelassen hat, sich in einer der größten Krisen jüngster Zeit maximal menschenfeindlich und undemokratisch aufzustellen. Es sind die benannten Arbeitnehmer*innen, Studierende und Unternehmer*innen, die sich Professor Christian Drosten auf ihren Plakaten im Gefängnis wünschen dafür, dass er seine Arbeit macht. Sie sind es, die Gegendemonstrant*innen zurufen, sie wären früher an die Wand gestellt worden, oder die „Okkupiert die Machtzentren ARD und ZDF“ mit bunter Kreide auf die Straße schreiben. Dass die Gefängnisgittern, hinter denen Drostens Name steht, dabei mit Plüschhandschellen und rosa Herzchen geschmückt sind, macht die Aussage nicht weniger faschistisch, aber absolut grotesk.
Nivellierung und Sinnentleerung aller Widersprüche
Herzchen-Luftballons, Regenbogenfahnen, Plakate mit Mahatma Gandhi, Sophie Scholl und Bertolt Brecht, aber auch: „Ich bin Covidjud“-Schilder und prügelnde Neonazis: Die Teilnehmenden der Querdenken-Kundgebung nivellieren alle Widersprüche, indem Begriffe und Konzepte willkürlich umgedeutet und sinnentleert werden. Nur so kann das homogene Kollektive der „Menschheitsfamilie“ oder der „Systemkritiker*innen“ entstehen, dessen Selbstbild unverrückbar ist: wenn sie sich selbst als offen und demokratisch beschreiben, dann wird alles, was sie tun und denken, als offen und demokratisch gedeutet. Die Gewalt von hunderten von Neonazis und das Risiko, das durch die Kundgebung für das Coronavirus-Infektionsgeschehen in Deutschland in die Höhe getrieben wird, werden unter diesen Vorzeichen zu „Frieden und Liebe“. „Antifaschismus“ sei es, sagte Ralf Ludwig, Anwalt und einer der Köpfe von „Querdenken“, wenn Nazis in ihren Reihen mitmarschierten, denn „wir sind für Frieden, für Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit, und wenn die NPD sich genau dem anschließt, dann ist es ein Erfolg von uns […]“ (vgl. Volksverpetzer). Nicht das Selbstbild wird hier kritisch gegen die Verhältnisse überprüft, sondern die Verhältnisse dem Selbstbild angepasst: Neonazis in der „Querdenken“-Demo werden zu Demokrat*innen. Selbstkritik findet nicht statt.
Wiederauferstehung von 1989?
Grotesk erscheinen die zahlreichen Verweise auf die friedliche Revolution von 1989. Leipzig wurde am 7. November 2020 bewusst für den Protest ausgesucht, da man mit Videos und anderen Propagandamitteln darauf hinwirken wollte, die „Ring-Demonstrationen“ von 1989 erneut zum Leben zu erwecken. Verkannt wird dabei, dass die Menschen 1989 tatsächlich gegen ein System von Unfreiheit und Diktatur auf die Straße gingen und dass die damalige Oppositionsbewegung vielfältig in der DDR-Bevölkerung verankert war. 2020 gibt es weder eine Diktatur, noch gilt für den „Querdenken“-Protest, dass dieser eine Mehrheit unter den in Deutschland lebenden Menschen hat. Ähnlich verhält es sich mit gängigen Vergleichen zwischen Methoden der Staatssicherheit in der DDR und Maßnahmen zum Infektionsschutz heute. Bewusst wird von „Querdenken“ verkannt, dass es heute um den Schutz von Menschenleben geht und damals um die Aufrechterhaltung einer Diktatur.
Neonazis und rechtsextreme Hooligans
Aber kommen wir nochmal zurück auf die zahlreichen Gruppen von Neonazis und rechtsextremen Hooligans, die an der Demonstration teilgenommen haben. Im Gegensatz zu der Demonstration am 29. August 2020 in Berlin, in der Neonazis ihre Symbole wie die Reichsflagge stolz zur Schau getragen haben, war die Strategie der Neonazis in Leipzig anders. Sich mit Symbolen zurückhaltend, haben sie der enthemmten Querfront den Weg durch halbherzig aufgestellte Polizeiketten freigeprügelt. Das Beunruhigende an den Ereignissen in Leipzig sind nicht die Bilder der prügelnden Neonazis alleine. Beunruhigend werden sie besonders im fatalen Zusammenspiel verschiedener gesellschaftlicher Kräfte, weil hier für einen kurzen Augenblick der Kampf der rechtsextremen Reaktion um die Köpfe, ihr Kampf um die Parlamente und um die Straßen in Leipzig gewonnen scheint: Eine bürgerliche Bewegung, die mit antisemitischen und demokratiefeindlichen Narrativen mobilisiert, ein militanter gewaltbereiter Neonazi-Mob, der ihr den Weg freiprügelt – und die Polizei, die bereitwillig auf ihr Gewaltmonopol verzichtet und Regelverstöße zulässt.
Dazu ein Innenminister Roland Wöller und ein Ministerpräsident Michael Kretschmer, die sogar im Nachhinein jegliche Kritik von sich weisen: Auf ihrer Pressekonferenz via YouTube kritisieren beide lediglich den Beschluss des OVG Bautzen, die Demonstration in der Innenstadt von Leipzig zu erlauben. Kritik am Einsatzkonzept der Polizei wird hingegen zurückgewiesen. Wöller und Kretschmer müssen sich zumindest den Vorwurf gefallen lassen, dass sie am 7. November 2020 nicht ernstzunehmend versucht haben, die Corona-Schutz-Verordnung und damit den Schutz der Leben und der Gesundheit der Menschen in Sachsen umzusetzen. Es mag zwar stimmen, dass am Augustusplatz und an vielen anderen Orten der Stadt zu wenige Beamt*innen waren, um eine effektive Kontrolle von Mund- und Nasenbedeckung sowie das Einhalten der Mindestabstände zu gewährleisten. Zugleich zeigen aber viele Aufnahmen im Netz und auch die Berichte von Demobeobachter*innen, dass an vielen Stellen nicht mal der Versuch dazu unternommen wurde. Ebenso fragwürdig erscheint erneut die Kompetenz des sächsischen Verfassungsschutzes. Für viele zivilgesellschaftliche Beobachter*innen der Neonazi-Szene und der Szene der sogenannten „Neuen Rechte“ war längst klar, dass ein Großteil der Gruppen nach Leipzig mobilisiert. Die Aufrufe gingen nicht selten mit Umsturzphantasien einher. Ein Verfassungsschutz, der eine solche Bedrohungslage nicht erkennt oder ignoriert, wird seinem Verfassungsauftrag nicht gerecht.
Um dem „Querdenken“-Phänomen in Zukunft angemessen gegenüber treten zu können, sollte sich die demokratische, offene und liberale Gesellschaft trauen, nicht nur die Kumpanei von Neonazis und „Querdenken“ zu thematisieren, sondern ebenso die „Querdenken“-Ideologie als solche zu problematisieren. Es ist das gute Recht der Querdenker*innen ihre Positionen und Weltanschauungen zu vertreten. In einer Demokratie müssen sie allerdings immer mit Widerspruch und Kritik rechnen. Davon braucht es in Zukunft reichlich.