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Letzte Chance

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Iwan Demjanjuk war ? wenn man Zeugenaussagen glaubt ? ein besonders grausamer NS-Verbrecher. Als SS-Wachmann im Vernichtungslager Sobibor soll er an der Ermordung von 29.000 Juden beteiligt gewesen sein. Die Generalstaatsanwaltschaft München hat die Akten jetzt aber an die Zentrale Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg zurückgeschickt, weil sie ihre Zuständigkeit aus formalen Gründen bezweifelt. Nun muss der Bundesgerichtshof klären, welche Anklagebehörde den Prozess führen soll. Die Zeit drängt. Denn Demjanjuk, der in den USA lebt, ist 88 Jahre alt.

Für Kurt Schrimm, Leiter der Zentralstelle, die heute ihr 50-jähriges Bestehen begeht, ist die Anklage gegen Demjanjuk eine der letzten Gelegenheiten, noch ein Urteil gegen einen NS-Täter zu erreichen. Wer bei Kriegsende strafmündig war, ist heute über 80. Die meisten Offiziere und Nazi-Funktionäre sind längst tot. Alois Brunner etwa, die rechte Hand Adolf Eichmanns, wäre heute 96 Jahre alt. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hat ihn von seiner Liste der zehn meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher gestrichen, weil er seit 2001 nicht mehr gesehen wurde. Weil es auch kaum noch Zeugen gibt, hat das Wiesenthal-Zentrum die „Operation Letzte Chance“ ausgerufen.

Die deutsche Zentralstelle, die am 6. November 1958 gegründet wurde, konnte vor 16 Jahren ihren letzten großen Erfolg verzeichnen: 1992 wurde SS-Oberscharführer Josef Schwammberger wegen Mordes und Beihilfe zum Mord in mehr als 650 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt. Er starb 2004 im Gefängnis.

Für Schrimm, der die Zentralstelle seit 2000 leitet, ist Demjanjuk, Nummer zwei auf der Wiesenthal-Liste, deshalb „eine ganz große Nummer“. Die Ludwigsburger Nazi-Jäger ermittelten in der Ukraine, in Polen, den USA und Israel, wo der SS-Wachmann schon einmal vor Gericht stand: Die USA hatten ihn 1981 abgeschoben, er wurde 1988 in Jerusalem zum Tode verurteilt. Damals ging es aber um andere Vorwürfe: Demjanjuk sollte als „Iwan der Schreckliche“ im Lager Treblinka Häftlinge misshandelt haben. Das Urteil wurde 1993 vom Obersten Gerichtshof Israels aufgehoben, weil die Identität nicht nachgewiesen sei.

Dichte der Dokumentation „einzigartig“

Mehrere US-Gerichte haben aber seitdem Demjanjuks Tätigkeit als Wachmann in Sobibor für erwiesen erklärt und ihm deshalb die Staatsbürgerschaft aberkannt, die er seit 1958 besaß. Im Mai bestätigte der Supreme Court seine Ausbürgerung, die US-Behörden wiesen Deutschland darauf hin, dass sie den nunmehr Staatenlosen gern loswürden. Da die Ukraine den dort geborenen Demjanjuk nicht aufnehmen wolle, käme auch Deutschland infrage.

Damit begann für die Ludwigsburger Stelle ein Endspurt. Sie gab Anfang November 140 Seiten Beweise an die Münchener Anklagebehörde weiter, darunter Zeugenaussagen und Listen über Häftlingstransporte. Schrimm bezeichnet die Dichte der Dokumentation als „einzigartig“. Demjanjuk sei nachweislich von März bis September 1943 Wachmann in Sobibor gewesen, in dieser Zeit seien dort mindestens 29.000 Juden ermordet worden. Weil es in Sobibor, anders als etwa in Auschwitz, kein Arbeitslager gab, waren nach Erkenntnissen der Zentralen Stelle alle Aufseher an den Morden beteiligt. Die Anklage müsste daher auf Beihilfe zum Mord in 29.000 Fällen lauten, eine nicht lebenslängliche, aber sehr lange Haftstrafe wäre zu erwarten.

Doch in München biss Schrimm auf Granit. Zwar bestreitet die dortige Generalstaatsanwaltschaft nicht, dass Demjanjuk in Deutschland angeklagt werden kann, obwohl er kein Deutscher ist und die Taten im Ausland begangen wurden, weil unter den in Sobibor ermordeten Juden 1900 Deutsche waren. Während Schrimm aber ein Flüchtlingslager in Bayern für Demjanjuks letzten deutschen Wohnsitz hält und deshalb die dortige Staatsanwaltschaft für zuständig erachtet, macht diese geltend, dass er sich danach unter anderem (ausgerechnet) in Ludwigsburg sowie in Bremen aufhielt, bevor er 1952 in die USA ausreiste. Schrimm hält die Aufenthalte für zu kurz, um eine Zuständigkeit der Behörden dort zu begründen. Die Münchener wollen aber nicht riskieren, dass das Landgericht deshalb eine Anklageerhebung ablehnt.

Nun muss der Bundesgerichtshof den Fall einer Anklagebehörde zuweisen. Eine Klärung sei binnen weniger Wochen möglich, hofft man in München wie in Ludwigsburg.

Aber damit stünde der 88-Jährige noch lange nicht vor Gericht: Zunächst muss die dann zuständige Staatsanwaltschaft in den USA Demjanjuks Auslieferung beantragen. Das gilt zwar als Formsache, kann aber dauern, zumal die US-Behörden womöglich zwischen zwei Anträgen entscheiden müssen: Auch spanische Ermittler sammeln seit August Beweise für eine Anklage. Demjanjuk soll zwischen Oktober 1943 und Dezember 1944 im Konzentrationslager Flossenbürg an der Ermordung von Spaniern beteiligt gewesen sein.

Abzusehen ist, dass Demjanjuk aus Gesundheitsgründen Einspruch gegen seine Abschiebung einlegen wird. Seine Familie in Seven Hills bei Cleveland (Ohio) ließ bereits mitteilen, der 88-Jährige leide an Durchblutungsstörungen und sei zu schwach für weite Reisen. Ein Urteil zu Lebzeiten ist kaum noch wahrscheinlich.

Dieser Artikel erschien am 1. Dezember 2008 auf dem Online-Portal der Zeit. Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung.

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