Diskutiert wird dabei über einen unfertigen Film, der Schwächen hat, wie jeder unfertige Film. Es ist zu vermuten, dass auch „Titanic“ nicht mit 11 Oscars ausgezeichnet worden wäre, hätte man den Rohschnitt in die Kinos gebracht. Eigentlich sind Redaktionen, in diesem Fall die von Arte und des WDR, dazu da, mit den Macher_innen an solchen Schwächen zu arbeiten. In „Auserwählt und ausgegrenzt“ sind das einige unklare Fakten, fehlende Konfrontationen bei einigen Angeschuldigten und einige Gesprächspartner, die zu leicht angreifbar sind. Normal wäre ein Austausch zwischen Redaktion und Filmemachern gewesen, um diese Schwächen zu beseitigen. Jörg Schönenborn, Fernsehdirektor des WDR, der im Dreier-Gespräch mit dem Historiker Michael Wolfssohn und Sandra Maischberger Stellung zum Umgang des Senders mit dem Film nehmen sollte, beantwortete kaum, warum diese Weiterarbeit nicht geschah. Laut Wolffsohn – und den Filmemacher_innen selbst, die allerdings nicht eingeladen wurden – soll die Dokumentation dem WDR und Arte seit sechs Monaten in der jetzigen Form vorgelegen haben, ohne dass sich Redakteure an die Filmemacher gewendet hätten, um über Probleme oder Änderungen zu sprechen.
Die Runde bei „Maischberger“ besteht auf Seite der Fürsprecher – aus dem Historiker Michael Wolffsohn, der die Doku als „klügste und historisch tiefste“ zum Thema bezeichnet und dem Psychologen Ahmad Mansour, der an dem Film mitgearbeitet hat. Wolfssohn ist ein angesehener und mehrfach ausgezeichneter Antisemitismus-Experte. Mansour ist renommierter Islamismus-Experte und beschäftigt sich unter anderem mit muslimischem Antisemitismus, einem der wichtigsten Themenfelder der Doku. Die Gegenseite war dagegen mit gleich drei Gästen vertreten. Norbert Blüm, der ehemalige Arbeitsminister, der für den ersten Teil der Runde Israel durchgängig als „Palästina“ bezeichnete, Gemma Pörzgen, eine Journalistin, die dem Film eine „klare propagandistische“ Linie attestierte, und der jüdische Psychologieprofessor Rolf Verleger, der findet, dass jüdische Gemeinden in Deutschland Judenhass durch Solidarität für Israel „geradezu herausfordern„.
Die Fronten der Runde sind also klar, dementsprechend vorhersagbar ist die Diskussion. Pörzgen, die im Vorfeld kritisiert hatte, dass der Film ein zu großes Gewicht auf Israel und Gaza legt, scheint den Zusammenhang der Situation im Nahen Osten mit Judenhass in Europa dabei nicht wahrnehmen zu wollen. Gleichzeitig betont sie immer wieder, dass auch das „palästinensische Narrativ“ erzählt werden müsse. Den Besuch von KZ-Gedenkstätten mit muslimischen Jugendlichen findet sie dabei nur bedingt sinnvoll. Pörzgens Meinung zum Thema des „palästinensischen Narrativs“ hat sie dabei schon vor einigen Jahren klar gemacht. Als einer der wenigen Rezensent_innen fand sie lobende Worte für ein Hamas-freundliches Buch der Politologin Helga Baumgarten. Börzgen empfahl das Buch, das in der „Süddeutschen Zeitung“ als „Verteidigungsschrift für die Hamas“ bezeichnet wird, „Lesern, die sich ein differenziertes Bild von der Hamas machen möchten, als es in den Medien verbreitet wird“.
Eine der nachvollziehbaren Thesen der Dokumentation lautet, dass der Nahost-Konflikt im Westen bzw. Europa dazu genutzt wird, Antisemitismus in muslimischen Communitys zu schüren. Dieser Antisemitismus wirkt sich in Übergriffen auf Jüdinnen und Juden in Deutschland oder Frankreich aus. Auf Menschen also, die keineswegs Israelis sind. Juden in Europa werden so zu legitimen Zielen im Kampf gegen den „Zionismus“ – eine der offensichtlichen Ausprägungen von modernem Antisemitismus. Diesen Schritt wollen aber bei „Maischberger“ nicht alle gehen. Besonders Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied des Zentralrates der Juden, bewies Verständnisprobleme und verlangte, dass Juden Israels Politik kritisieren müssten. Auf Ahmad Mansours Frage, warum sich Juden für die israelische Politik verantworten müssten, antwortet er: „Der Zentralrat der Juden kritisiert nie Israel.“ Mansour antwortete mit der Gegenfrage, „Warum sollte er das tun?“ Der Journalist Alan Posener fasst diesen Schlagabtausch in der „Welt“ zusammen: „Dass ein deutscher Palästinenser einen deutschen Juden darauf hinweisen muss, dass es keine Kollektivschuld der Juden gibt für die vermeintlichen oder wirklichen Untaten Israels, das gehörte zu den erhellenden Momenten dieses Abends.“
Norbert Blüm ist währenddessen hauptsächlich empört und erzählt dramatische Anekdoten von seinen Besuchen in „Palästina“. Einmal will er einen israelischen Soldaten beiseite genommen und gefragt haben, ob der sich denn nicht für das Verhalten des Staates gegenüber den Palästinenser_innen schäme, was von dem Soldaten bejaht worden sei. Blüm will dabei offenbar nicht erkennen, dass es aber einen Unterschied gibt zwischen der Gewalt des von Palästinenserführern gepredigten eliminatorischen Antisemitismus der Israel und damit auch alle Israelis von der Landkarte tilgen will, und der Reaktion Israels genau darauf.. Man hört förmlich die Ausrufezeichen, wenn Blüm behauptet: „Jeder der Israel kritisiert, ist gleich ein Antisemit.“ Eine Feststellung, die gerade in Deutschland nicht stimmt. Die Berliner Linguistin Monika Schwarz-Friesel hat die Berichterstattung in deutschen Medien in Sachen Israel untersucht und kommt zum Schluss, dass kein Land hierzulande so stark kritisiert wird wie Israel: „Wir haben die Berichterstattung über den Nahen Osten mit Artikeln über die Lage der Menschenrechte und Konflikte in anderen Ländern verglichen, wie Russland, China, Saudi-Arabien und Nordkorea. Kaum eines der Länder schnitt so schlecht ab. In den Artikeln finden sich ungewöhnlich viele NS-Vergleiche, es gibt ein sehr negatives Bild des Landes.“
Ansonsten behauptet Blüm, dass die Dokumentation „nicht dem Frieden“ diene und stattdessen „an der Spirale des Hasses“ drehe und der „Logik der Rache“ folge. Eine interessante Wortwahl, kann doch der Begriff der „Rache“ oder „Blutrache“ historisch und oft auch aktuell antisemitisch aufgeladen sein. Sandra Maischbergers Frage, ob er unter Umständen von christlichem Antijudaismus beeinflusst sein könnte, beantwortet der Ex-Minister dann auch gar nicht, sondern stellt lieber in den Raum, dass „Jesus ein Semit“ gewesen sei.
Das eigentlich Problem, dass sich auch durch die eigenartige Präsentation der Doku und den begleitenden sogenannten „Faktencheck“ äußerte, riss Michael Wolffsohn nur kurz an. Zu den Merkmalen von Antisemitismus gehört eben auch der „Doppelstandard„. Geht es um Juden oder Israel, werden Maßstäbe angelegt, die um einiges strikter sind als bei allen anderen Ländern. Auf Wolffsohns Nachfrage an den WDR-Fernsehdirektor, warum andere Filme, die weitaus größere Mängel aufweisen, weit weniger genau analysiert und niemals in der Form präsentiert werden, wie „Auserwählt und ausgegrenzt“, erhielt er schließlich auch keine Antwort.