Zum siebten Mal wurden gestern die Ergebnisse des jährlichen Berichtes „Deutsche Zustände“ des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld vorgestellt. Die Langzeituntersuchung zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland, wurde 2002 als zehnjähriges Projekt konzipiert. Sie untersucht Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. 20 Jahre nach dem Fall der Mauer stellten sich die Wissenschaftler der Frage: „Lebt Deutschland noch immer in zwei Gesellschaften?“ Die Antwort kam gestern klar und deutlich: Ja, das ist so. Und ja, das hat fatale Folgen für die hier lebenden Minderheiten. Denn je stärker die soziale Spaltung wahrgenommen wird, desto mehr wirkt sich das auf den Umgang mit Minderheiten aus: Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus und Homophobie verstärken sich.
Doch es gab ? wenn auch wenig – Erfreuliches zu berichten an diesem Morgen im Berliner Bundespressehaus: Denn insgesamt geht die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland leicht zurück. Und Ost und West gleichen sich hier an. Das wiederum sei weniger erfreulich, wie Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) sogleich kommentierte: „Dass es jetzt in Bayern auch so schlimm ist wie in Sachsen-Anhalt ist wahrlich kein Trost.“
Auch der Antisemitismus entwickelt sich parallel und ist leicht rückläufig. Hier fallen die Werte in Westdeutschland nach wie vor höher aus als im Osten. Die Abwertung des Islams entwickelt sich in beiden Landesteilen dagegen sehr unterschiedlich. Während sie in den neuen Ländern zunimmt – weitgehend ohne Anwesenheit von Muslimen und ihrer Symbole“, wie Heitmeyer anmerkt – geht sie im Westen zurück. Die Abwertung von Obdachlosen scheint sich in Ost- und Westdeutschland dagegen unterschiedlich zu entwickeln. Sie sei im Osten höher und nehme im Westen ab.
Mangelnde Zivilcourage gegen Rechtsextremismus?
Erstmals untersuchten die Forscher auch die Frage nach mangelnder Zivilcourage gegen Rechtsextremismus. „Zivilcourage“, erläutert Beate Küpper, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Dresden, „ist der staatsbürgerliche Mut, der sich nicht allein auf die konkrete Situation rechtsextremer Überfälle beschränkt, sondern sich in Widerspruch, Widerstand, Protest oder aktivem Engagement in Bürgerinitiativen erweist.“ Den Ergebnissen nach finden es 92 Prozent der Befragten in der ganzen Republik bedrohlich, „wenn der Rechtsextremismus zunimmt“. Allerdings ? und das ist verblüffend ? empfinden weniger Ost- als Westdeutsche Rechtsextremismus als Bedrohung, obwohl dort beispielsweise rechtsextreme Straftaten erheblich höher sind.
Trotz des Problembewusstseins sind mehr als die Hälfte der Befragten der Meinung, das Thema werde in den Medien „hochgekocht“. Mehr als ein Drittel finden, „es wird zu viel geredet über den Rechtsextremismus“. Vielleicht deshalb meinen über 50 Prozent der Befragten, dass sich „Experten mit dem Thema befassen sollten“ – und weisen eine eigene Verantwortung zurück.
Beim Thema „Eingreifen“ zeigt sich ein tiefer Riss durch die Öffentlichkeit: Mehr als ein Drittel der Befragten sind der Ansicht, es sei am besten, Rechtsextreme „gar nicht zu beachten“. Welche Folgen diese Nicht-Strategie haben kann, zeigt sich bei der so genannten Wortergreifungsstrategie. Wenn Neonazis bei Veranstaltungen auftauchen, die sie nicht selbst organisiert haben, geht es ihnen meistens nur um eins: Mit allen Mitteln zu Wort zu kommen. Gelingt ihnen das nicht, werden sie oft bedrohlich und gewalttätig. Dort, wo man ihnen das Wort überlässt, geht es ihnen nicht um einen Austausch von Argumenten, sondern um die ungehinderte Verbreitung ihrer Propaganda.
Während also ein Drittel der Befragten auf die Strategie des Ignorieren setzt, sagt ein weiteres Drittel, sie wüssten nicht „was man gegen den Rechtsextremismus überhaupt tun sollte“. Dieser Befund ist sicher auch als Aufforderung zu sehen, die vielfältigen Gegenstrategien bekannter zu machen, als es bisher geschah.
Besonderes Augenmerk legten die Wissenschaftler auf Regionen, in denen die NPD jüngst Wahlerfolge verzeichnen konnte. Hier sind die Befragten auffällig oft der Meinung, Rechtsextreme sollten ignoriert werden. Das liege weniger daran, dass sich die Befragten hier eher bedroht fühlten, so Beate Küpper, sondern daran, dass die NPD als „normale Partei“ wahrgenommen werde. Sie gelte nicht mehr als Teil des Problems.
Je jünger die Befragten seien und je stärker sie sich politisch links positionierten, so die Studie, desto eher seien sie selbst auch zu tatsächlichem Engagement gegen Rechtsextremismus bereit. Gerade junge, gut gebildete Befragte aus den ostdeutschen Bundesländern zeigten demnach höchste Sensibilität für das Problem des Rechtsextremismus und seien mehr als andere bereit, sich selbst dagegen einzusetzen. ?Die pauschale Unterstellung, Ostdeutsche seien weniger bereits, couragiert gegen Rechtsextremismus zu handeln, können wir nicht bestätigen, betonte Küpper.
Erst kürzlich hatte die Studie „Bewegung in der Mitte“ der Universität Leipzig untersucht, wie weit rechtsextremes Denken in der Gesellschaft verbreitet ist ? und betont, unter Älteren sei dies sogar weiter verbreitet als unter der oft als Problem wahrgenommenen Jugend. Auch Wilhelm Heitmeyer wünscht sich auch deshalb mehr Aufmerksamkeit gegenüber der älteren Generation: „Hier findet der Rechtsextremismus hinter den Gardinen statt. Das heißt aber nicht, dass man ihn ignorieren darf.?
Zum Thema:
?Ein Land ? zwei Gesellschaften? Artikel von Wilhelm Heitmeyer in Die Zeit vom 4.Dezember 2008