Am zweiten Christopher Street Day (CSD) in Bautzen nahmen 1.000 Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche, agender, nichtbinäre, queere Menschen (LSBTIAQ+) und ihre Unterstützer*innen teil und demonstrierten für Selbstbestimmung, Freiheit und die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Ihnen standen rund 700 Rechtsextreme gegenüber: Jugendliche aus dem Umfeld der Partei „Die Heimat“ (vormals NPD), Mitglieder der Freien Sachsen und weitere rechtsextreme Gruppen aus dem gesamten Bundesgebiet. In Sicht- und Hörweite liefen die Rechtsextremen dem CSD hinterher, das Polizeiaufgebot war trotz der gefährlichen Situation niedrig.
Es kam zu Beleidigungen und Angriffen, zahlreiche verfassungswidrige Symbole waren sichtbar. Als das rassistische „Sylt-Lied“ angestimmt wurde, schritt die Polizei nicht ein. Nach den Demonstrationen versuchten Rechtsextreme, am Bahnhof die Regenbogenfahne zu verbrennen. Im Vorfeld hatte es eindeutige Drohungen und massive körperliche Angriffe gegen das ehrenamtliche Organisationsteam des CSDs gegeben. Die Afterparty musste abgesagt werden, da die Polizei die Sicherheit der Teilnehmenden nicht garantieren konnte. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) äußerte sich zunächst nicht und verurteilte die rechtsextremen Bedrohungen erst auf Nachfrage. Die CSD-Kundgebung bezeichnete Kretschmer als eine „Party… dieser Leute“.
So viele CSDs wie nie, so viele rechtsextreme Angriffe wie nie
Das massive Nazi-Aufgebot in Bautzen ist trauriger Höhepunkt des CSD-Jahres, doch queerfeindliche Gewalt ist nicht nur in Ostsachsen verbreitet. Rechtsextrem motivierte Angriffe begleiten öffentliche queere Kundgebungen und LSBTIAQ+-Events seit jeher. 2024 ist, dennoch und deswegen, ein Jahr des CSD-Booms. Über 200 Kundgebungen haben bundesweit stattgefunden, die meisten davon in kleinen und mittelgroßen Städten, strukturschwachen und ländlichen Regionen.
Nie zuvor hat es mehr Kundgebungen für queere Sichtbarkeit gegeben. Allein in den ostdeutschen Bundesländern wurde mindestens 56 Mal zur Teilnahme an CSDs und damit zum Bekenntnis für gesellschaftliche Vielfalt aufgerufen. In den vergangenen Jahren ist einerseits ein neues queeres Selbstbewusstsein abseits der Metropolen entstanden. Andererseits zeigen die vielen Forderungen der CSDs, dass Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen für viele LSBTIAQ+ zum Alltag gehören und gleichberechtigte Teilhabe für viele kaum vorhanden ist. Es erfordert Mut, in kleinen Orten mit der Regenbogen- oder der Transfahne in der Hand auf die Straße zu gehen, sich öffentlich zu outen und ein Ende der Ausgrenzung zu fordern.
Queerfeindliche Angriffe nicht nur in Ostdeutschland
Von Mai bis Juli kam es bei Pride-Veranstaltungen zu rechtsextrem motivierten Störungen, digitalen Hasskampagnen, Körperverletzungen und Einschüchterungsversuchen, etwa in Flensburg, Aurich, Hannover, Paderborn, Dresden, Leverkusen, Pinneberg, Bayreuth, Neustrelitz, Emden, Ravensburg, Brandenburg an der Havel, Gifhorn, Stollberg, Überlingen, Bernau, Weimar, Köln, Berlin, Köthen, Mannheim, Braunschweig oder in Essen.
Dennoch markiert der 10. August 2024 eine Zäsur. Nicht die Forderungen der Bautzner CSD-Teilnehmenden gingen medial um die Welt, sondern Bilder von 700 jungen organisierten, aggressiven Rechtsextremen, die ihren rassistischen und queerfeindlichen Hass ganz offen zeigten. Diese Bilder sind kalkulierter Teil rechtsextremer Machtdemonstration und wirken motivierend: Seit Bautzen ist ein Anstieg der Zahlen rechtsextremer Gegendemonstrant*innen bei CSDs bundesweit empirisch nachweisbar. So wurden am 17. August 2024 fast 400 Rechtextreme, darunter viele Minderjährige, von der Polizei im Leipziger Hauptbahnhof festgesetzt und daran gehindert, ihre geplante Gegenkundgebung unter dem Motto „weiß, normal, hetero“ zum CSD in der Leipziger Innenstadt abzuhalten. Es folgten organisierte und teils bundesweit mobilisierende Gegendemonstrationen rechtsextremer Parteien und Gruppen in Magdeburg, Zeitz, Zwickau, Döbeln, Görlitz, Plauen, Dortmund, Ketsch (Rhein-Neckar-Kreis), Minden, Winsen (Luhe), Burgdorf, Wismar, Remscheid, Halle (Saale), Eisenach, Freiberg, Oranienburg, Oberhavel, Landshutund weiteren Orten, teils mit mehreren hundert Teilnehmenden.
Rechtsextremer Hass auf sexuelle und geschlechtliche Vielfalt professionell organisiert
Organisierte rechtsextreme Gegendemonstrationen, die sich explizit und abwertend auf LSBTIAQ+ beziehen, sind ein relativ junges Phänomen. Gezielte antifeministische Kampagnen mit CSD-Bezügen sowie queerfeindliche, insbesondere transfeindliche Statements und Ziele in Wahlprogrammen und Erklärungen rechtsextremer Parteien treten seit 2021/2022 gehäuft auf. Sie wurden und werden unter anderem durch rechtsextreme Blogger*innen und Influencer*innen befeuert, die gezielt CSDs oder Pride-Veranstaltungen besuchen, um vor allem trans und nicht-binäre Teilnehmende in Streams bloßzustellen und als „krank“ zu markieren. Seit 2023 vereint die Kampagne zum „Stolzmonat“ unterschiedliche rechtsextreme Strömungen und Gruppen.
Mit Erfolg: Unverhohlene Angriff auf eine demokratische Gesellschaft der Diversität und Offenheit sind bis weit in die bürgerliche „Mitte“ anschlussfähig. Der Hass auf LSBTIAQ+ hat in den letzten Jahren bundesweit zugenommen. Insbesondere trans Personen (vor allem trans Frauen) werden zur Zielscheibe von Diffamierungen und Gewalt. Das ist kein Zufall: Rechtsextreme und rechtskonservative Gruppen haben Antifeminismus und Queerfeindlichkeit längst zu ihren politischen Kernanliegen neben Rassismus und Antisemitismus gemacht. Sie lehnen Geschlechtergerechtigkeit, Feminismus sowie geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung ebenso entschieden ab wie die Gleichberechtigung von LSBTIAQ+. Ihre menschenverachtenden Ideologien gründen auf der naturwissenschaftlich längst widerlegten Annahme, es gäbe nur zwei Geschlechter, die sich klar und unveränderbar voneinander unterscheiden. Heterosexualität und die Vorstellung der „traditionellen Kernfamilie“ werden als biologisch „natürlich“ und damit alternativlos angesehen. Jede Abweichung gilt als „Zersetzung des Volkskörpers“.
Brückenideologie Queerfeindlichkeit
Queerfeindlichkeit und insbesondere Transfeindlichkeit dienen als Brückenideologien: Sie verbinden Gruppen, die sonst kaum Schnittmengen haben, auch weit über rechtsextreme Szenen hinaus. Weltweit verbreitet sich die falsche Ansicht, Trans-Sein sei ein „Trend“, der von „woken“ Radikalen in westlichen Gesellschaften propagiert werde und die heterosexuelle Kleinfamilie gefährde. Wurden vor 20 Jahren (und teils auch heute noch) Ängste geschürt, indem schwulen Männern ein Hang zur Pädophilie unterstellt wurde, wird mit diesem Mythos heute gegen trans Menschen gehetzt. Aufklärung über Geschlechtervielfalt führe, vorangetrieben durch eine mafiaähnliche „Translobby“, angeblich zu einer Gefährdung von Kindern.
Verbindungen zwischen Queerfeindlichkeit und antisemitischen Verschwörungserzählungen sind offensichtlich: Einer Minderheit wird unterstellt, eine übermäßig große Macht ausüben zu können, die eine Gefahr darstellt. Rechtsextreme Kampfbegriffe wie „Gendersprache“ oder „Genderideologie“ werden medial übernommen und breit normalisiert, im Sinne der vorgeblichen Sorgen der Bevölkerung. Die Landesregierungen von Bayern, Hessen, Schleswig-Holstein und Sachsen haben bereits Verbote geschlechterinklusiver Sprache an Schulen und in anderen Kontexten beschlossen – ohne AfD-Beteiligung. In Thüringen haben CDU und AfD dazu einen gemeinsamen Beschluss gefasst. Auch gegen das am 1. November 2024 in Kraft tretende Selbstbestimmungsgesetz, das die rechtliche Änderung von Namen und Personenstand für trans und inter Personen weniger restriktiv gestalten soll, wird aus bürgerlich-konservativen, rechtsextremen und nationalchauvinistischen Kreisen gleichermaßen polemisiert.
Angriffe auf CSDs sind Angriffe auf die demokratische Gesellschaft
Antifeministische und queerfeindliche Desinformationskampagnen haben ganz reale Folgen: Straftaten gegen queere Menschen nehmen bundesweit zu, die Dunkelziffer ist hoch. CSDs sind weder „Partys“ noch „bunte Paraden“, wie sie gern in der Presse benannt werden. Pride-Kundgebungen sind politische Demonstrationen, die auf Ausschlüsse, Diskriminierung, Ungleichbehandlung und Gewalt aufmerksam machen. Der Ursprung der Christopfer Street Days sind die Stonewall-Aufstände 1969 in der New Yorker Christopher Street. Es waren trans Sexworker*innen of Color, Drag Queens, Lesben und Schwule, die sich gegen restriktive und diskriminierende Polizeieinsätze wehrten und für Menschenrechte und Akzeptanz kämpften. Ein Kampf, der bis heute in Metropolen, Kleinstädten und Dörfern fortgeführt wird.
Heute können aus Prides breite progressive zivilgesellschaftliche Allianzen der Solidarität entstehen. Insbesondere die CSDs in kleinen Orten der rechtsextremen Hegemonie werden im kommenden Jahr noch mehr Unterstützung benötigen, sowohl finanziell als auch vor Ort. In Köln oder Berlin können sich CSD-Teilnehmende darauf verlassen, dass Hunderttausende Zuschauer*innen am Straßenrand stehen, jubeln und ihnen das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein. In Kleinstädten und ländlichen Räumen sieht das anders aus: Häufig finden CSDs dort unter prekären Bedingungen in fast menschenleeren Innenstädten statt, Anwohner*innen beschweren sich teils über die „Unruhe“, die die CSDs angeblich mit sich bringen.
In Sachsen, Thüringen und Brandenburg werden queere Initiativen, Vereine und Gruppen weiter unter Druck geraten. Es reicht nicht aus, den Schutz queerer Menschen allein der Polizei zu überlassen. Rechtsextreme, antifeministische und queerfeindliche Mobilisierungen müssen wir als das verstehen, was sie sind: Angriffe auf die demokratische Gesellschaft, in der alle in Freiheit leben können. Nötig sind starke überregionale Unterstützungsnetzwerke und Bündnisse, die LSBTIAQ+ und ihre Verbündeten aus den Metropolen mit denen aus der Peripherie auf Augenhöhe zusammenbringen und verhindern, dass die vielen kleinen CSDs in die Defensive geraten. Finanzielle, solidarische Unterstützung und konkrete Hilfe vor Ort sollten sich dabei nicht auf die Pride-Saison beschränken.