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Mord in Freudenberg Digitale Selbstjustiz

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Videos und Screenshots zur digitalen Selbstjustiz liegen der Redaktion vor, aber wir wollen sie nicht weiter verbreiten, deshalb ein Symbolbild für Trauer. (Quelle: pixabay / NoName_13)

In der 18.000-Einwohner Stadt Freudenberg in Nordrhein-Westfalen geschieht am 13. März 2023 ein spektakulärer, grausamer Mord: Ein 12-jähriges Mädchen wird von ihren 12- und 13-jährigen Freundinnen im Wald brutal mit Messerstichen ermordet, nachdem sie bei ihrer Freundin übernachtet hatte. Nach der Tat kehren die beiden Täterinnen in das Elternhaus der 13-Jährigen zurück, geben sich besorgt, weil ihre Freundin nicht ans Telefon ginge, rufen bei deren Eltern an. Eine postet sogar noch einen Suchaufruf für Luise auf TikTok, taggt sie als Freundin. Am nächsten Tag postet sie ein Tanzvideo. Dann gibt es zu viele Unstimmigkeiten in den Polizeiverhören, die 13-Jährige und die 12-Jährige werden als Täterinnen überführt. Sie sind aber noch nicht strafmündig, weil sie jünger als 14 Jahre sind. Deshalb gilt bei so jungen Täterinnen auch ein besonders harter Persönlichkeitsschutz: Die Polizei gibt praktisch keine Informationen heraus. Die Täterinnen sind ja selbst noch Kinder. Sie sollen sich noch rehabilitieren können, nach einer psychologischen Behandlung die Chance auf einen Neuanfang haben.

Nun zeigt der Fall in Freudenberg: Um dies noch irgendwie zu gewährleisten, hätte die Polizei Digitalkompetenzen gebraucht. Sowohl das Opfer als auch die Täter*innen hatten Social Media Accounts, auf TikTok, teilweise auch auf Instagram. Auch wenn alle Beteiligten offiziell noch zu jung für diese Netzwerke sind, spiegelt das nur die Realität wider. Die Accounts wurden zunächst nicht gesperrt, teilweise bis zum Abend des 17. März nicht. Natürlich wurden sie gefunden. In diesen Netzwerken sind nämlich ebenso aktiv: Die jungen Freund*innen und Mitschüler*innen des Opfers und der Täterinnen. Die posten ihre Trauer um die eine und ihre Wut auf die anderen – und untermalen beides mit Fotos und Videoschnipseln. Das Foto des Opfers wird von Social Media Accounts genommen, es ist überall – vorbei die Zeiten, in denen die Familie darauf noch eine Einflussnahme, in denen es höchstens verpixelte Pressebilder gegeben hätte.

Die Fotos und Videos der 12- und 13-jährigen Täterinnen, ihre Namen und die Namen ihrer Social Media Accounts werden ebenfalls geteilt. Von Menschen, die trauern. Von Menschen, die über die Verrohung der Täterinnen wüten wollen. Von Menschen, die über Motive spekulieren wollen. Von Menschen, die in der Ermordung eines Menschen einen Anlass für die Verbreitung von Rassismus sehen, ohne ernsthafte Kenntnisse der Tatzusammenhänge zu haben. Von Menschen, die sich als Teil eine digitalen „True Crime“-Community verstehen, und sich nun im aktuellsten Mordfall ihres Lebens befinden, dessen spärliche Informationen sie durch unzählige Videos mit klischeehafter Trauermusik wieder und wieder durcharbeiten wollen. Von Menschen, die auf einen solchen Fall aufspringen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es sind Jugendliche, aber es sind auch Erwachsene, die jetzt die Bilder von Opfer und Täterinnen teilen und es zumindest diesen damit schwer machen, wieder in eine Anonymität zurückzukommen, die eine Rehabilitation ermöglichen würde. Das ist Selbstjustiz auf Social Media, meist vorgetragen mit einem Gefühl moralischer Empörung und Überlegenheit, die ganz unangemessen ist, wenn ich Kindern verwehren will, ihre Tat zu verstehen und zu bereuen.

Die Accounts des Opfers und der Täterinnen sind inzwischen gesperrt. Offenbar, weil die Polizei nach eigenen Angaben dann die Netzwerke doch darum ersucht hat. Die Bilder der beteiligten Kinder werden aber nie wieder aus dem Netz verschwinden. Zu viele haben sie kopiert, haben Screenshots gemacht, die Videos gespeichert. Sie werden wieder und wieder hochgeladen und verbreitet unter den einschlägigen Hashtags, die zum Teil die Klarnamen der Betroffenen sind. Natürlich inzwischen auch auf allen Netzwerken, nicht nur auf TikTok und Instagram, auch auf YouTube, Twitter und Telegram. Crossmedialität gehört heute immer dazu, wenn sich Menschen Sorgen machen, dass ihre Inhalte gelöscht werden könnten.

Es ist offensichtlich, dass es zu einem solchen Fall kein offizielles Procedere gibt.

  • Warum hat die Polizei sich nicht sofort auf die Suche nach den Accounts gemacht, sie sperren lassen?
  • Warum haben die Netzwerke die Accounts nicht pro-aktiv gesucht und gesperrt?
  • Warum sind die Hashtags zum Mordfall wie Klarnamen teilweise bis heute nicht gesperrt?
  • Gibt es ein Recht der digitalen Meute auf Kommentierung unter klar identifizierbaren Hashtags, oder wäre hier nicht eine Sperrung sinnvoll? Brauchen wir dazu politische oder juristische Regelungen, weil es um Meinungsfreiheit vs. Persönlichkeitsrechte geht?
  • Die Eltern waren zweifelsohne mit anderem beschäftigt und vielleicht auch nicht im Besitz der Zugangsdaten – aber offenbar sind auch die Eltern der Täterinnen nicht auf die Idee gekommen, ihre Töchter zu bitten, die Accounts zu schließen.

Was ist mit den Eltern und Lehrer*innen der Mitschüler*innen? Spricht jemand mit den Kindern, dass es nicht für die Ermittlungen hilfreich oder menschlich anständig ist, Fotos und Videos des Opfers und der Täterinnen zu teilen? Oder schlägt ihnen jemand vor, dass es eine gute Idee wäre, bereits hochgeladene Videos wieder zu löschen – auch wenn sie so viele Klicks bekommen wie kein Video zuvor? Natürlich müssten dafür die Eltern die Social Media Aktivitäten ihrer Kinder kennen. Viele interessieren sich allerdings nicht wirklich für die digitalen Leben ihrer Kinder. Jetzt wäre ein guter Moment, damit anzufangen.

Hoffentlich sorgen alle beteiligten Strukturen nun zumindest dafür, dass die Täterinnen keinen Zugriff mehr auf ihre Accounts erhalten. Denn diese wurden mit Hass überzogen, mit Aufrufen zur Selbstjustiz, mit Rufen nach einer Wiedereinführung der Todesstrafe. Dies zu lesen, könnte traumatisierend sein. Oder es könnte auch eine Form von Bestätigung liefern: Die Aufmerksamkeit, die nun auch die Täterinnen bekommen, könnte ihnen sogar gefallen, auch wenn es negative Aufmerksamkeit ist. Durch ein Attentat, durch einen Mord aus der Masse herauszutreten, hat schon einige Täter*innen motiviert. Dabei sollte doch im Vordergrund die Trauer stehen, weil ein junger Mensch ermordet wurde, und bei den Täterinnen später hoffentlich eine Reflexion des Mordes, um in einen Moment der Reue zu kommen, damit eine solche Tat nicht wieder geschieht. Dazu gehört natürlich auch, sich nun nicht an Spekulationen über Motivationen zu beteiligen – und das gilt für uns alle.

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