Ein schwarz bekleideter Männer-Chor brüllt in martialischer Formation in der Hamburger Innenstadt. In straff organisierten Reihen legen am 28. Mai 2021 Dutzende Demoteilnehmer mit gebrandeten Masken und Hoodies den Verkehr im Stadtteil St. Georg lahm. Zwischen ihnen liegen Särge. „Israel ist der Terrorist“, schreit der Anführer. Der fahnenschwenkende Rest antwortet einstimmig, entschlossen, aggressiv. Die nächste Parole: „Israel Kindermörder“, die Menge brüllt zurück. Mehrere Demoteilnehmer schwenken weiße Flaggen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis, der Shahada, in schwarzer Schrift – die Fahne der terroristischen Taliban. Anlass ist der jüngste Eskalation im Nahostkonflikt: Hamas-Raketen hageln auf Israel, die „Israel Defense Forces“ (IDF) antworten mit Angriffen auf Stützpunkten der islamistischen Terroristen im dicht besiedelten Gaza – und Zivilist:innen auf beiden Seiten zahlen den Preis. Doch der schwarze Block in Hamburg hat klare Antworten auf den komplexen Konflikt, den er „die Palästinafrage“ nennt.
Hinter der medienwirksamen Propagandaaktion steckt „Muslim Interaktiv“, eine im März 2020 gegründete islamistische Gruppierung aus Hamburg. Sie will mit Hochglanzvideos und emotionalisierenden Sharepics vor allem junge Muslim:innen im deutschsprachigen Raum erreichen. Ihr Logo, das sie auf Kapuzenpullover und Coronamasken druckt, zeigt einen Blutstropfen mit dem Symbol der Kaaba, dem muslimischen Wallfahrtsort in Mekka. Die Gruppe beschreibt sich selber als einen Zusammenschluss von Muslimen, die den Islam als eine „umfassende Lebensweise“ vorstellen und „zur Praktizierung des Islam in allen Lebensbereichen“ ermutigen wollen. Hanau diente offenbar als Auslöser für ihre Gründung: Mit ihrer ersten Aktion, einem Autokorso mit PS-starken Sportwagen durch die Hamburger Innenstadt, wollte „Muslim Interaktiv“ im vergangenen März den Opfern des rechtsterroristischen Anschlags gedenken. Schuld für den Anschlag sei „die sogenannten Parteien der Mitte“, die „auf die Assimilation der Muslime abgesehen“ hätten.
Aktiv trotz Verbot
„Muslim Interaktiv“, vor allem in der Hansestadt aktiv, ordnet der Hamburger Landesverfassungsschutz dem „Hizb ut-Tahrir“-Umfeld (HuT) zu – eine seit 2003 unter Betätigungsverbot stehende, transnationale islamistische Bewegung, die für die Errichtung eines weltweiten Kalifats nach den Scharia-Gesetzen kämpft. Die HuT wiederum ging aus der „Muslimbruderschaft“ hervor. Auf der „Muslim Interaktiv“-Demonstration gegen Israel in Hamburg waren auch die schwarz-weißen Flaggen der HuT-Bewegung zu sehen. Das Betätigungsverbot der „Hizb ut-Tahrir“ bedeutet, dass die Gruppierung ihre Aktivitäten in Deutschland eigentlich einstellen muss. Doch in der Praxis ist ihr Umfeld weiterhin aktiv: durch Gruppen wie „Generation Islam“ und „Realität Islam“, deren Sprache und Strategie offenbar „Muslim Interaktiv“ als Vorbild dienten. „Assimilationszwang“, „Diffamierung des Islam“, „Wertediktatur“ – so lauten die Schlagwörter der Bewegung.
Laut Verfassungsschutz verbreite die HuT unter anderem antisemitische Hetzpropaganda und rufe zur Tötung von Juden auf (siehe Hamburger Behörde für Inneres und Sport). In einem im Mai 2021 veröffentlichten Beitrag auf der HuT-Webseite heißt es beispielsweise: „Sodann werden die Feinde Allahs uns gegenüber nur noch erniedrigt und unterwürfig dastehen. Nicht nur die Juden, die von vornherein mit Erniedrigung und Erbärmlichkeit beschlagen worden sind, sondern alle Tyrannen dieser Welt, die nach Unheil auf Erden trachten.“ In einem anderen Beitrag, ebenfalls aus Mai 2021, werden „muslimische Armeen“ dazu aufgerufen, „das jüdische Gebilde zu entwurzeln“ und „die Gewalt der Juden zu zerschlagen“. In Hamburg rechnen die Sicherheitsbehörden der HuT-Bewegung 300 Anhänger:innen zu, bundesweit sind es insgesamt 430 Personen. Rund 100 Personen sollen bei „Muslim Interaktiv“ organisiert sein.
„Die ‚Hizb ut-Tahrir‘ ist eine islamistische Organisation mit einer explizit antidemokratischen und antipluralistischen Ideologie, die ihre Mitglieder und Anhänger:innen gezielt radikalisiert“, erklärt Ismail Küpeli, ein Politikwissenschaftler bei der Amadeu Antonio Stiftung, der unter anderem zu den Phänomenen Islamismus und nationalen Ideologien in Minderheitsgesellschaften forscht, gegenüber Belltower.News. „Die Organisation zielt darauf, in den westlichen Ländern wie etwa Deutschland die Muslim:innen für sich zu gewinnen, indem sie die Erfahrungen der Muslim:innen mit Rassismus und sonstigen Formen von gesellschaftlicher Benachteiligung sich zunutze macht“, so Küpeli weiter.
„Muslim Interaktiv“ betont immer wieder, dass antimuslimischer Rassismus nicht nur von Rechtsaußen komme, sondern auch aus der vermeintlichen bürgerlichen Mitte der Gesellschaft – nicht zu unrecht. Häufig zitiert die Gruppe den Innenminister Horst Seehofer (CSU) mit seinen Worten, die Migration sei die Mutter aller Probleme oder der Islam gehöre nicht zu Deutschland. „Muslim Interaktiv“ weist auch auf faschistische Kontinuitäten in der Bundesrepublik. Das rassistische Klima in Deutschland spielt der Gruppe in die Hände: Durch die sehr realen und gefährlichen Diskriminierungen und Bedrohungen, denen Muslim:innen in Europa ausgesetzt sind, kann „Muslim Interaktiv“ vor allem junge Männer für ihre Sache gewinnen – die weltweite Vereinigung der „Umma“, der Gemeinschaft der Muslim:innen. Doch diese Vereinigung muss als gewaltvolle Umsturzfantasie verstanden werden: „Die Herrscher der islamischen Welt sind Teil des Problems und nur durch ihre Beseitigung wird der Weg für eine gerechte Palästina frei!“, schreibt zum Beispiel „Muslim Interaktiv“ auf Facebook. Das Ziel der Gruppe ist offenbar eine globale muslimische Revolution.
Mit Polemik und Polarisierung
Nicht nur der Nahostkonflikt ist Thema auf ihren Social-Media-Kanälen, sondern zum Beispiel auch die Situation der Uiguren, einer größtenteils muslimischen Minderheit im chinesischen autonomen Gebiet Xinjiang, oder die Reaktionen der Staatschefs Emmanuel Macron und Sebastian Kurz auf die jüngsten islamistischen Anschlägen in Paris und Wien. Solche Anschläge instrumentalisiert „Muslim Interaktiv“ immer wieder für ihre eigenen Zwecke – mit polemischen Sprüchen und polarisierenden Schildern.
Im November 2020 protestierten etwa 100 Mitglieder der Gruppe vor der österreichischen Botschaft in Berlin: „Er ist wieder da“ war auf Transparenten zu lesen – ein Bezug auf Hitler. Nachdem ein islamistischer Täter im selben Monat vier Menschen tötete und 23 weitere in der österreichischen Hauptstadt teils schwer verletzte, kündigte der Regierungschef Kurz an, den Tatbestand „Politischer Islam“ einzuführen. „Muslim Interaktiv“ inszenierte sich daraufhin als die „neuen Juden“, die eine ähnliche Verfolgung wie unter Nationalsozialismus erleben würden – und relativierte damit die Shoah. Ein professionell geschnittenes und dramatisiertes Video der Aktion mit dem Titel „#AnschluSS Österreich“, in Anlehnung auf die Schutzstaffel des NS-Regimes, konnte bislang nur rund 6.000 Aufrufe erreichen (Stand: Juni 2021). Im Video heißt es: „Im Jahr 2020 geht es nicht um die Marginalisierung von Juden, sondern der islamischen Glaubensgemeinschaft Österreichs“.
Einen Monat zuvor, im Oktober 2020, führte „Muslim Interaktiv“ eine ähnliche Aktion vor der französischen Botschaft am Brandenburger Tor durch: Etwa 70 Anhänger der Bewegung versammelten sich am Pariser Platz – einen Tag, nachdem drei Menschen in einer mutmaßlich islamistischen Terrorattacke in Nizza mit einem Messer erstochen wurden. Doch um Gedenken ging es „Muslim Interaktiv“ nicht: Auch hier trat die Gruppe uniformiert in militärisch anmutender Formation auf. Anlass war ein rassistischer Messerangriff am 18. Oktober nach einem Streit auf zwei muslimische Frauen in Paris. „Nicht der Islam, sondern Frankreich steckt in der Krise!“ stand auf einem Transparent der Gruppe – in Antwort auf Macrons Aussage, der Islam würde überall auf der Welt in der Krise stecken. Denn kaum zwei Wochen zuvor wurde der Lehrer Samuel Paty nach einer Hetzkampagne gegen ihn von einem islamistischen Täter brutal ermordet. Auch dazu äußerte „Muslim Interaktiv“ nicht. Nach der Aktion folgte prompt das Video „#LaGrandeTyrannie Frankreich“, das inzwischen knapp 10.000 Aufrufe hat (Stand: Juni 2021).
Auch die jüngste Aktion in Hamburg gegen Israel bereitete „Muslim Interaktiv“ medial auf: Mit einer Drohkulisse aus martialischem Trommeln und kriegerischer Rhetorik versucht die Gruppe in einem Instagram-Clip, jegliche Antisemitismusvorwürfe von sich zu weisen. „Deutschland, das Land mit sechs Millionen toten Juden, will uns Muslimen mit erhobener Zeigefinger über Antisemitismus belehren“, heißt es. Und weiter: „Die Umma ist aufgestanden und fordert die Befreiung unserer palästinensischen Geschwister und die Rückkehr der Vertriebenen. Und ich schwöre bei Allah dem Allmächtigen, es wird der Tag kommen, an dem sie befreit werden.“
Athletisch, kämpferisch, männlich
Die Ästhetik von „Muslim Interaktiv“ hat System: „Die martialische Symbolik, die sich bereits im Logo der Gruppe spiegelt, wird in Videoformaten auf TikTok, Instagram und YouTube mit weiteren Bildern unterfüttert“, erklärt Theresa Lehmann vom Projekt „Demokratiktok“ der Amadeu Antonio Stiftung im Gespräch mit Belltower.News. „Man zeigt sich athletisch, kämpferisch und männlich in einheitlichen Outfits.“ In ihrer Argumentation setzt die Gruppe Muslim:innen immer wieder mit Jüd:innen und Juden unter NS-Herrschaft gleich, so Lehmann. „Wie so oft dockt der Verschwörungsglaube und Antisemitismus da an, wo tatsächlich existierende Probleme, wie in diesem Fall rechter Terror und Rassismus, nicht bewältigt werden können.“ Ähnlich wie die rechtsextreme „Identitäre Bewegung“ werde hier ein manichäischer Kulturkampf heraufbeschworen, Kultur oder Religion würden essentialisiert, so Lehmann weiter.
Trotz aufwendig produzierten Videos und Bildern bleibt die Reichweite von „Muslim Interaktiv“ aber bislang eher bescheiden: Die Facebook-Seite der Gruppe hat unter 2000 Likes, auf Twitter hat sie weniger als 300 Follower:innen. Erfolgreicher ist die Gruppe auf Instagram mit über 5000 Follower:innen. Zwei neue Videos, die ersten Teile in einer fiktiven Serie über den Chef der Gruppe, hatten innerhalb einer Woche insgesamt mehr als 30.000 Aufrufe. In den beiden Videos wird der namenlose Chef beim Drehen eines Videos von Sicherheitskräften festgenommen und vor Gericht gestellt – wegen Mitgliedschaft in einer „islamistischen Bewegung“. Ihm wird vorgeworfen, „Jugendliche zu radikalisieren“.
Im Video dreht „Muslim Interaktiv“ den Spieß um: Sie fordern stattdessen, die Medien und Politik auf die Anklagebank zu setzen – wegen des islamfeindlichen Klimas in Deutschland. „Radikalisierte Jugendliche“ will die Gruppe in ihren Reihen nicht sehen, ihre Aktionen seien nur „laut“ und „provokant“, damit sie gehört werden und um Diskussionen anzustoßen. Den Begriff Islamist lehnen sie als „Kampfbegriff“ und „erfundenes Wort“ ab, um „Muslime unter Generalverdacht zu stellen“. Gleichzeitig betonen sie, dass sie „keine Angst vor Konsequenzen“ haben und „das Unrecht“ anprangern werden, „egal um welchen Preis“.
Am erfolgreichsten ist „Muslim Interaktiv“ auf der Plattform TikTok: Aktuell haben sie dort über 7000 Follower (Stand: Juni 2021), ihre Videos wurden insgesamt knapp 200.000 Mal geliked. Gerade während der letzten Eskalation im Nahostkonflikt konnte „Muslim Interaktiv“ 2.000 Follower dazugewinnen, mehrere ihrer Videos gingen auf der Plattform viral mit teilweise über 400.000 Aufrufe. Oft geht es um antimuslimischen Rassismus in Deutschland und Europa, aber auch der Nahostkonflikt wird häufig thematisiert.
In einem Video verteidigt ein Sprecher der Gruppe das islamistische Netzwerk „Ansaar International“, einen salafistischen Verein, der im Mai 2021 vom Innenministerium verboten wurde, weil er mit Spenden Terrororganisationen unterstützt haben soll (siehe Jungle World). Auch auf Facebook und Twitter kritisierte „Muslim Interaktiv“ das Verbot einer „friedfertigen“ und „harmlosen Hilfsorganisation“: „Die BRD schreckt nicht einmal davor zurück, notleidenden Kindern in Kriegsländern den letzten Zugang zur Grundversorgung zu kappen.“ In einem Video wird rhetorisch gefragt, welche Organisation das Bundesinnenministerium als nächstes verbieten wird. Die Antwort: Tatsächlich wurden wenige Wochen später drei Vereine aus dem Umfeld der islamistischen „Hisbollah“ verboten, deren Miliz als Terrororganisation gilt.
Trotz Betätigungsverbot agiert das „Hizb ut-Tahrir“-Netzwerk allerdings weiter. Und als „Muslim Interaktiv“ erreicht die Gruppe viele junge Menschen auf Social Media: Sie inszeniert sich als Verteidiger des Islams in Deutschland und macht eine islamistische Ideologie zum Lifestyle-Trend. Doch ihr Ziel ist und bleibt das Kalifat.
Auf eine Anfrage von Belltower.News für diesen Artikel reagierte „Muslim Interaktiv“ nicht.