Die Nachtwölfe machen sich auf den Weg nach Sewastopol auf der Krim. Der Jahrestag von Russlands Einverleibung der Halbinsel rückt näher. An den Maschinen der Biker sind Russlandfahnen befestigt, viele ihrer Motorräder sind mit einem „Z“ geschmückt. Im Hintergrund ertönt zunächst dramatische Klaviermusik, darüber gelegt sind Ausschnitte aus einer Rede von Russlands Präsident Wladimir Putin. Als Nächstes sind wir bei einem Auftritt der russischen Rockmusikern Julia Chicherina. Die Mitglieder des Motorradclubs hören andächtig zu, während Chicherina die „wildeste Division des Donbas“ besingt. Dem Lied nach werde man an der Ukraine Rache üben für jeden Schuss auf ein unschuldiges Haus. Zu solch patriotischen Klängen stellen die Biker Stelen auf für die gefallenen Kommandeure des Sparta-Battalions und weitere „russische Helden“, die bei der „Verteidigung des Donbas“ gefallen sind.
Wer im sozialen Netzwerk VK seit dem 29. März 2022 über diese höchst professionell zusammengeschnittenen Aufnahmen stolpert, mag verwundert sein. Stehen Motorradclubs doch eigentlich für anarchische Werte und einen entschiedenen Abstand zur Obrigkeit. Anders die Nachtwölfe aus Russland. Denn „Putin’s Biker Gang“ (Telegraph) engagiert sich für den großrussischen Nationalismus und ein konservativ-christliches Gesellschaftsideal. Hierzulande kennt man die Biker vor allem wegen ihrer Berlin-Touren zum Jubiläum des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland. Doch Russlands größter und ältester Motorradclub ist auch auf vielfältige Weise im Ukraine-Krieg aktiv. Neben der medial inszenierten Krim-Tour zum Jahrestag der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion und der damit verbundenen Errichtung des Gedenkortes in Sewastopol leisten die 7.000 Mann starken Wölfe momentan laut eigener Angabe humanitäre Hilfe für Menschen aus den selbsternannten Volksrepubliken in Donezk und Luhansk. Damit nicht genug, beteiligt sich zumindest der Ableger aus Luhansk aufseiten der Separatisten schon seit Jahren aktiv am Kriegsgeschehen in der Ostukraine (vgl. Guardian).
Weitere Videos auf VK berichten konsequenterweise, wie sich Kämpfer aus dem Motorradclub auch jetzt in vorderster Reihe an der Front befinden. Dort würden sie bei der Sicherung „befreiter“ – oder eher eroberter – Gebiete helfen. Der Zivilbevölkerung im Donbas evakuieren sie demnach auf russisches Staatsgebiet. Medienwirksame Unterstützung geben ihnen dabei die Kämpfer von Tschetscheniens autokratischem Machthaber Ramsan Kadyrow. Denn Kadyrow ist ebenfalls ein großer Social Media Fan, seit 2014 ist der Vertraute Putins zudem Ehrenmitglied bei den Nachtwölfen (vgl. Moscow Times). Auch Putin wurde diese Ehre bereits zuteil. Doch wieso unterhält ein Motorradclub eine solche Nähe zur russischen Elite?
Motorradfahrer unter Putins Gnade
Ab 1983 organisierten die späteren Nachtwölfe in Moskau illegale Rockkonzerte. 1989 gründete Alexander Soldastanow dann die Nachtwölfe, sie waren der erste offiziell anerkannte Motorradclub der zusammenbrechenden Sowjetunion. Der mittlerweile 59-Jährige Soldastanow hat Medizin studiert, die Arbeit in einer Zahnklinik bescherte dem Heavy Metal Fan den Spitznamen „der Chirurg“. Heute ist Soldastanow der unangefochtene Anführer und Chefideologe der Biker-Gang. In den 1990ern orientierte sich der Club von Harley-Davidson-Liebhabern dabei noch nach Westen, die freiheitsliebenden Hells Angels galten als Vorbild. Die Wölfe eröffneten einen Musikclub und mehrere Tattoo-Studios, mit „Wolf Wear“ starteten sie ein eigene Modelinie.
Als kommunistische Hardliner 1991 den gewaltsamen Sturz von Michael Gorbatschows Reformregierung versuchten, beteiligten sich die Nachtwölfe am zivilen Widerstand gegen den Putschversuch. Soldastanow erhielt dafür eine Auszeichnung von Russlands erstem Präsidenten Boris Jelzin (vgl. military.com). Am 31. März 2022 bezeichnet der Chirurg Gorbatschow und Jelzin in einem VK-Post indessen als Verräter an der Sowjetunion und ihrem Erbe.
Das hier ablesbare politische Umdenken begann in den späten 2000ern. Die Wölfe entdeckten den Russisch-Orthodoxen Glauben, 2008 nahmen sie an einer offiziellen Feier für Russlands neue gewählten Präsidenten Dmitri Medwedew teil. Ein Jahr später traf Soldastanow auf den zwischenzeitig als Premierminister auftretenden Putin. Putin, der sich gerne als starker Mann inszeniert, nahm in den Folgejahren wiederholt an Fahrten mit den Nachtwölfen teil. 2012 ließ er beispielsweise Viktor Janukowitsch, den damaligen pro-russischen Präsidenten der Ukraine, vier Stunden warten. Eine Spritztour über die Krim mit den Wölfen ging vor (vgl. n-tv).
Gleichzeitig begannen die Nachtwölfe, groß angelegte Bike Shows und Neujahrsevents für Kinder zu organisieren, in denen sie Josef Stalin, den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland und den russischen Patriotismus verherrlichten. Die „Stiftung gegen Korruption“ des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny konnte dabei zeigen, dass die Wölfe hierfür vom Kreml stattliche Summen erhielten. 2013 bekam der Chirurg gar einen Orden für seine Verdienste bei der „patriotischen Jugenderziehung“.
Wölfe gegen den Maidan
Soldastanow ist in Sewastopol auf der Krim aufgewachsen. Die Halbinsel nach Russland zurückzuholen, war ihm folglich ein selbsterklärtes Anliegen. Seine Biker gehörten 2014 deshalb zur russischen Speerspitze bei der Annexion. Sie errichteten Straßensperren, laut Angaben der US-Regierung beteiligten sie sich an der Erstürmung eines Gaswerks (vgl. Telegraph). Auch in der Ostukraine kämpften Mitglieder des Motorradclubs schon seit 2014 an der Front.
Gleichzeitig war Soldastanow 2015 Gründungsmitglied einer Organisation mit dem Namen „Anti-Maidan“. Ihr Ziel: Ein ähnliches Aufbegehren gegen die Obrigkeit wie in der Ukraine in Russland verhindern. Dahinter steckt die Vorstellung, die demokratischen Proteste auf dem Kyjiwer Maidan – vom Chirurgen auch mal ableistisch als „Mai-Down“ verunglimpft (vgl. taz) – seien vom Westen orchestriert. Wie für den heutigen russischen Nationalismus typisch erscheinen der Westen und die USA auch für die Nachtwölfe folglich als Hauptfeind. Ein derartiger Antiamerikanismus – Soldastanow spricht auch von der „westlichen Bestie“ und „der Weltreigerung“ – bildet so das Zentralstück des kruden Mosaiks ihrer demokratiefeindlichen Weltanschauung.
Christus, Stalin, Putin
Den Hass auf den Westen rechtfertigt Soldastanow mit Argumenten, die jenen von Alexander Dugin und anderen russischen Rechtsradikalen ähneln. Im Jahr 2015 erklärte er beispielsweise bezüglich der Krim-Annexion: „Zum ersten Mal leisteten wir Widerstand gegen den globalen Satanismus, die wachsende Wildheit Westeuropas, den Konsumrausch, der jegliche Spiritualität verleugnet, die Zerstörung traditioneller Werte, all das homosexuelle Gerede, diese amerikanische Demokratie.“ Die Ablehnung der liberalen Demokratie verbindet sich folglich mit einer ausgeprägten Homophobie. Da Homosexualität unnatürlich sei, könnten solche Menschen nicht Mitglieder des Clubs werden (vgl. Guardian). Der Chirurg schlug für seine Anti-Maidan-Bewegung auch schon mal „Tod den Schwuchteln“ als Alternativbezeichnung vor (vgl. Guardian).
Als positives Gegengewicht zum geistlos-satanisch-homosexuellen Westen firmiert neben Präsident Putin dabei insbesondere die Russische Orthodoxie, die ebenfalls für ihre homophoben Ansichten bekannt ist. Soldastanow gilt als Freund des Patriarichen Kyrill, dem russischen Kirchenoberhaupt schenkte er zu Ostern schon mal ein Motorrad. Die Clubhäuser der Nachtwölfe sind mit christlichen Ikonen geschmückt. 2012 veranstalteten sie eine Motorradtour zur Unterstützung der Kirche und der „traditionellen Werte der russischen Zivilisation“. Das Motto: „Glaube, Kirche, Russland“ und „Russland auf ewig“ (vgl. moto.mail).
Trotz dieses Bezugs auf das Christentum, verherrlichen die Wölfe auch die atheistische Sowjetunion und insbesondere Josef Stalin, der brutal gegen orthodoxe Geistliche vorging. In einem Interview auf diese Widersprüchlichkeit angesprochen, verwies Soldastanow auf einen für den Westen unbegreifbaren, „übermenschlichen Mystizismus“, der im russischen Verhältnis zu Stalin am Werk sei. Stalin sei demnach ein „unübertroffener Führer“, der Russland zum Sieg über die Nazis geführt habe. Dieses Argument ist im heutigen Russland nicht unüblich, in dem eine Organisation, die sich mit der Aufarbeitung des Stalinismus befasste, vom Kreml kurzerhand verboten wird (vgl. taz). Auch der Chirurg gab folglich zu verstehen, der Tag des Sieges über den Faschismus am 9. Mai sei neben dem Osterfest für ihn der wichtigste Feiertag.
Hinter dem Engagement der Nachtwölfe in der Ukraine steht ebenfalls ein großrussischer Nationalismus, der von einer Ukraine und einem Belarus unter russischer Vorherrschaft träumt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der positive Bezug auf einen weiteren slawischen Bruderstaat: Serbien. „Donbass – Russland, Kyjiw – Russland, Kosovo – Serbien”, rufen die Biker in einem Video vom 21. Februar 2022. Putin gab soeben die Anerkennung der Unabhängigkeit der Separatistenrepubliken in der Ostukraine bekannt. Als die Nachtwölfe im März 2022 ihre Stelen in der Krim einweihten, pflanzten sie Bäume als Andenken an die Gefallenen. Mit dabei war auch ein Baum zu Ehren des jugoslawischen Präsidenten und verurteilten Völkermörders Slobodan Milošević, „Serbische Freunde“ spendeten ihn. „Serbien, das wie Russland den Kreuzesweg geht und nach Golgotha aufgestiegen ist, wird so wie Christus unweigerlich auferstehen“, kommentiert der Chirurg auf VK mit gewohntem Pathos. Damit spielt er auf das Bestreben serbischer Nationalist:innen an, sich die im Jugoslawienkrieg verlorenen Gebiete wiederanzueignen.
Die Wölfe heulen auch im deutschsprachigen Raum
Neben dem slawisch-orthodoxen Serbien befindet sich auch Deutschland im Interessensgebiet der Wölfe. Das mag persönliche Gründe haben. Mitte der 1980er zog Soldastanow der Liebe wegen nach Berlin, als Türsteher arbeitete er in der Rock-Kneipe Sexton in der dortigen Winterfeldstraße. Das Klubhaus der Wölfe in Moskau ist bis heute nach diesem Laden benannt.
Im aktuellen Kriegsgeschehen fällt zudem auf, dass Soldastanows „Ansprache an die Europäer“ vom 1. März 2022 nicht ins Englische, sondern ins Deutsche übersetzt ist. „Unterstützt Russland. Lasst uns eine Welt ohne Nazismus, Hass und NATO aufbauen. Eine Welt, die uns vor der Pest rettet, die, wenn sie nicht aufgehalten wird, zu Euch nach Hause kommen wird“, heißt es darin. Dass Soldastanow sich damit gezielt an seine Unterstützer:innen in Deutschland richtet, lässt sich zumindest nicht ausschließen.
Tatsächlich betreibt zumindest der Schweizer Ableger des Motorradclubs seit Kriegsbeginn fleißig Propaganda für den Kreml und verbreitet über Social Media russische Desinformation (vgl. Blick.ch). In Deutschland gibt es hingegen keinen offiziellen Nachtwolf Motorradclub. Dennoch traten Biker, die mit den Nachtwölfen in Verbindung stehen sollen, Anfang März 2022 etwa vor dem russischen Konsulat in Bonn in Erscheinung. Am Vortag ging dort ein Drohbrief mit unbekanntem weißem Pulver ein. Ob die Biker sich deshalb als Wachen aufstellen wollten, ist unklar (Die Zeit). Zu sehen waren solche Motorradfahrer auch bei einem pro-russischen Autokorso in Bonn vom 27. März 2022 (General-Anzeiger).
Daneben gibt es in Deutschland auch noch die „Russlanddeutschen Wölfe“. Dem eingetragenen Verein mit Sitz in Ludwigsburg werden in der Presse deutliche Verbindungen zu den Nachtwölfen nachgesagt. Die „Russlanddeutschen Wölfe“ selbst betonen unterdessen, nicht der deutsche Ableger der Organisation zu sein. In einem Statement vom August 2016 geben sie aber an, „freundschaftliche Verhältnisse“ zu den russischen Nachtwölfen zu pflegen.
Der Verein bezeichnet sich weiterhin als politisch neutral, verbreitet aber seit Kriegsbeginn Nachrichtenmeldungen von Russia Today und vergleichbaren Kreml-treuen Medien. Auf Anfrage von Belltower.News gab der Verein an, „nicht viel“ Zusammenarbeit mit den russischen Nachtwölfen zu haben. Man sei eine „separate und unabhängige Organisation“, unterstütze die russischen Biker aber zumindest bei den „humanitären Hilfsprojekten für Zivilisten im Donbas“. Diese Aktionen würden „beiden Seiten des Konflikts“ zugutekommen. Der Sprecher des Vereins erklärte ferner, dass derartige „Konflikte“ sich fortsetzen würden, solange nicht eine Welt geschaffen ist, in der China und Russland mit NATO und USA gleichberechtigt sind. Dass demnach die USA zumindest eine Teilschuld am russischen Angriffskrieg tragen, entspricht im Übrigen der Weltsicht des Chirurgen und des Kreml.