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Nahostkonflikt als Identitätsangebot

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Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen, ging gleich zu Anfang in die Offensive: ?Ich bin im Vorfeld dieser Veranstaltung gefragt worden: Wenn man über Antisemitismus in muslimischen Communities spricht, will man die Muslime mundtot machen? Will man Israelkritik verbieten? Erzeugt das nicht ein neues Feindbild? Ich sage: Nein, umgekehrt ist es richtig! Wenn man nicht über Antisemitismus in muslimisch sozialisierten Communities spricht, dann erzeugt man Feindbilder.? Der Grünen-Spitzenpolitiker saß am Montag, den 23.02.2009, im Festsaal Kreuzberg auf dem Podium mit sechs Expertinnen und Experten aus Initiativen, die gegen Antisemitismus arbeiten. Anlass war die Vorstellung einer neuen Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung mit dem Titel ??Die Juden sind schuld ? Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimische sozialisierter Milieus?.

Unangefochtene Koryphäe in diesem Arbeitsbereich ist die Wissenschaftlerin Claudia Dantschke, die auch die Publikation redaktionell betreute. Sie kann alle Fragen ohne zu zögern beantworten: Ja, es gäbe eine intensiven Ideologietransfer zwischen linken Antizionismus und Islamismus in Bezug auf Antisemitismus. Nein, der Koran ist nicht judenfeindlich, man kann ihn verschieden auslegen, und deshalb sei es wichtig, darauf Einfluss zu nehmen, wer ihn wie in Deutschland lehrt. Sie bedauerte, dass es so wenig wissenschaftliche Forschung zu den 3,5 Millionen Muslimen in Deutschland gibt, denn die seien natürlich keine homogene Gruppe, sondern eine voller verschiedener Ausprägungen wie jede andere auch.

Cem Özdemir stimmte ihr zu, und betonte, dass es ja noch eine recht junge Errungenschaft ist, dass Menschen mit Migrationsgeschichte als Teil der deutschen Gesellschaft gesehen werden. Er wünschte sich andere Schulbücher, die auch die Geschichte der Elternherkunftsländer mit aufnehmen, und die auch vom Judentum noch andere geschichtliche Traditionen berichten als nur über die Shoa. ?Wir dürfen die Bildung muslimischer Jugendlicher nicht dem Fernseher, den Imamen und den Eltern überlassen, die mitunter ein verzerrtes Bild vermitteln. Wir können ihnen etwas anderes erzählen, und wir können das gleich heute tun, da hindert uns niemand dran?, sagte Özdemir, der nach einer Erzieherausbildung Sozialpädagogik studiert hat, leidenschaftlich, ?Wir müssen dem, was wir als falsch empfinden in Kinderhirnen, Sexismus, Rechtsextremismus, Antisemitismus, in der Schule offensiv etwas entgegen setzen.? Er regte an, etwa über die Assimilierungsdebatte unter Juden im 19. Jahrhundert zu informieren, da sähen bestimmt viele Kinder auch Parallelen zu ihrem eigenen Leben.

Auch Claudia Dantschke hielt diesen Ansatz für richtig. In der Schule dürfe nicht am Bosporus schluss sein: ?Es ist auch ein Zeichen der Wertschätzung, wenn die Geschichte der Ländern der Eltern auch im Kurriculum vorkommt.? Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung wies auf einen Wandel in der deutschen Gesellschaft hin: ?Vor ein paar Jahren waren es die ?Ausländer und Türken?, heute werden sie als ?Muslime? bezeichnet, obwohl viele absolut sekular sind. Es ist alles ein Versuch der Abgrenzung.?

Andere Akteure kommen aus der politischen Bildungsarbeit und berichten von ihren Erfahrungen. Thomas Heppener vom Anne Frank Zentrum Berlin erzählt, wie ihn eine Lehrerin ansprach. Schüler hätten ihr nach einem Einkauf bei Aldi geraten: Da könne man doch nicht kaufen, die würden doch große Teile ihres Gewinns nach Israel schicken. Mirko Niehoff von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) berichtete, dass sie bei ihrer Arbeit in Schulen immer wieder auf den Nahostkonflikt kämen, mit dem sich Schüler mit muslimischem Background häufig affektiv-emotional, aber selten wissend beziehen würden, wenn sie Antisemitismus äußern. Hanne Thoma von der AJC Task Force Education on Antisemitism stimmte ihm zu. Oft würden die Schüler den Nahostkonflikt als Kampf gegen die Muslime und als Teil der eigenen Identität begreifen, auf den sie sich beziehen können. ?Das tun sie deshalb, weil sie sich auf das hier und jetzt, auf Berlin, Deutschland nicht beziehen. Sie identifizieren sich nicht mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die ihnen keine Chancen bietet?, so Thoma. Claudia Dantschke bereicherte um einen weiteren Aspekt: Islamistische Gruppierungen böten den Jugendlichen diese abgrenzende Identität aber auch offensiv an, etwa im Religionsunterricht. Cem Özdemir wies auf die Stellvertreterfunktion des Nahostkonfliktes hin, der oft zitiert werde, ohne gemeint zu sein: ?Wenn der Nahostkonflikt gelöst würde, werden Al Quaida und die Hamas trotzdem mit ihrem Terror weitermachen.? Susanna Harms von AMIRA antwortete auf eine Frage zum Einfluss sozioökonomischer Faktoren und Bildungsferne, dass es sicherlich ein Faktor, aber bei weitem nicht der entscheidende: ?Schließlich gibt es auch gebildete Antisemiten. Die verstehen nur besser, ihren Antisemitismus zu verschleiern.?

Alle Podiumsteilnehmer wurden nicht müde zu betonen, dass Antisemitismus bei Jugendlichen in muslimisch sozialisierten Milieus nur ein Teil des gesamtgesellschaftlichen Problems mit Antisemitismus sei. Es sei nicht nur ein Jugendproblem, nicht nur ein Problem unter Muslimen. Auch fand die Frage Zustimmung, dass es sicherlich auch eine Umwegskommunikation der Mehrheitsgesellschaft ist, um von ihrem eigenen Antisemitismus abzulenken. Cem Özdemir betonte, das wir die Grenze zwischen Demokratiefreunden und ?feinden nicht anhand der Religion ziehen dürfen, sondern anhand der Anerkennung der Menschenrechte und Demokratie.

Die Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung

„‚Die Juden sind schuld‘ – Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus. Beispiele, Erfahrungen und Handlungsoptionen aus der pädagogischen und kommunalen Arbeit“

können Sie sich gegen einen Unkostenbeitrag von 5 Euro zuschicken lassen.

| www.amadeu-antonio-stiftung.de

oder hier herunterladen!

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