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Nahostkonflikt „Die Angst ist der Feind, den es auf beiden Seiten zu besiegen gilt“

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Begegnung gegen Ängste und Hass: Ali erzählt seine Geschichte. (Quelle: M. Bacanji)

 

 

Ali stammt aus einem palästinensischen Flüchtlingslager. Seine Mutter war PLO-Aktivistin und wurde vom israelischen Inlandsgeheimdienst verhaftet, als er zehn Jahre alt war. Die Militärherrschaft, unter der er aufwuchs, hat Verzweiflung und Frust in ihm gestiftet, erzählt Ali. Er warf Steine und wurde 1990 verhaftet. Als sein Anliegen, seine Mutter zu sehen, die in einem anderen Gefängnis saß, mehrfach abgewiesen wurde, traten beide in einen siebzehntägigen Hungerstreik. Dies, so sagt Ali, war seine erste Erfahrung mit gewaltlosem Widerstand. Als er 1994 entlassen wurde, regierten sich die Palästinenser selbst, weshalb er Gewalt nicht mehr als legalen Widerstand begriff. Ali rekrutierte sich für die Polizeikräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde und verhaftete und verhörte Palästinenser, die weiter gewaltsam gegen die Israelis vorgingen. Mit der Zeit hat er aber angefangen, an seiner Tätigkeit zu zweifeln, erinnert sich Ali. Auf der einen Seite habe er bei der Unterdrückung palästinensischer Gewalt mitgewirkt, auf der anderen Seite jedoch auch keine Lockerung der Besatzung gespürt.

Während der Zweiten Intifada wurde Ali von einem Siedler ins Knie geschossen. Als er zur Behandlung in Saudi-Arabien war, wurde sein Bruder an einem Checkpoint getötet. Nach vorliegenden Protokollen forderte Alis Bruder eine Reihe palästinensischer Kinder an einem Checkpoint auf, keine Steine zu werfen. Ein Soldat, der sich durch die Einmischung provoziert fühlte, geriet mit Alis Bruder in eine Auseinandersetzung, die damit endete, dass er ihn aus nächster Nähe erschoss. Ali verspürte zunächst schwere Rachegedanken, doch er wollte nicht töten. Er wollte nichts mehr sehen und hören, sagt er, und beschreibt den Schmerz, trotzdem jeden Tag mit israelischen Soldaten zu tun haben zu müssen.

Alon Shvut – Gush Etzion Als seine Familie von einer israelischen Initiative kontaktiert wurde, die Trauernde beider Seiten zusammenbringt und seine Mutter einem Treffen zusagte, wurden die Weichen für Alis weiteres Leben gestellt. Er war davon überzeugt, dass Juden keine Gefühle haben, aber als er seine Mutter zusammen mit einer israelischen Mutter weinen sah, brach sein Weltbild zusammen. Er wurde selbst bei der Initiative aktiv und außerdem Mitbegründer der innerpalästinensischen Bewegung „Al Tariq“ (Der Weg), die sich für Gewaltverzicht einsetzt.

Ali wurde schnell unter israelischen Menschenrechtlern populär, sah aber, dass diese nichts ändern und nichts bewegen konnten. Um etwas zu bewegen, wandte er sich von Konferenzen mit linken Friedensaktivisten ab und den jüdischen Siedlern vor seiner Haustür zu. Von den Bewohnern des Siedlungsblocks Gush Ezion habe er gelernt, was Judäa und Samaria den Juden bedeute und dass es eine Utopie sei, anzunehmen, diese würden irgendwann verschwinden. Er hat begriffen, erklärt er, dass die Herausforderung darin besteht, sich das Land zu teilen.

 

Die Initiative „Roots“ schafft Begegnungen

Es geht nicht darum, sich das Land zu teilen, sondern auch gemeinsam in diesem Land zu leben, sagt Myron Joshua. Der Roots-Aktivist erklärt, dass der politische Diskurs rückwärtsgewandt ist und nach der Schuld in der Vergangenheit sucht, statt um sich zu schauen und zu sehen, dass es genügend Platz für alle gibt. Nicht auf dem Boden sei es eng, sondern in den Herzen.

Ende der 1990er Jahre brachte Myron einen trampenden Araber zu Musa, dessen Haus gut sichtbar am Eingang zum palästinensischen Dorf Khirbet Zakharia mitten im Siedlungsblock liegt. Musa war Hausmeister der Schule von Gush Ezion und sein Sohn hatte kürzlich geheiratet, weshalb er mehr Platz für die Familie brauchte. Nachdem Myron erfuhr, dass Musa sich vergeblich um eine Genehmigung für einen Anbau bemüht hatte, setzte er sich bei der Militärverwaltung für dessen Gesuch ein. Dabei begann er die Situation der Palästinenser mit anderen Augen zu sehen. Jahre später fasste er sich ein Herz und besuchte Khirbet Zakharia erneut. Er hörte von unzähligen abgelehnten Bauanträgen, sah eine halbfertige Moschee, die nicht weitergebaut werden durfte und eine Straße, die ohne Genehmigung geteert und deshalb vom israelischen Militär wieder aufgerissen wurde.

 

Hosh Jasmin Bethlehem

 

Anfang 2010 nahm Myron an einer Begegnung zwischen Siedlern aus Gush Ezion und Bewohnern von Khirbet Zakharia teil. Organisiert wurde das Treffen von Schülern von Rabbi Fruman, der stets forderte, dass die Siedler die fünf Finger der zum Frieden ausgestreckten Hand bilden sollten. Der 2013 verstorbene Rabbi ist der geistige Mentor von Roots.

Wenn der Siedler mit der Kippa durch Khirbet Zakharia fährt, wird er unzählige Male von palästinensischen Dorfbewohnern angehalten und nach seinem Wohlergehen gefragt. Es geht ihm gut, erwidert er jedes Mal und fährt damit fort, dass ihn einzig die nicht erteilten Baugenehmigungen schmerzen. Musa wartet seit mehr als 20 Jahren auf seine Baugenehmigung und hat einen Balkon abgedeckt, um etwas zusätzlichen Wohnraum zu schaffen.

Hanan Schlesinger versteht die Renaissance des jüdischen Lebens in der Wiege des jüdischen Volkes als neuzeitliches Wunder. Er sieht die jüdische Präsenz in Judäa und Samaria in einer Kontinuität mit den biblischen Geschichten der Genesis, der Bücher Joshua, der Könige und Richter. Er sagt, dass er die biblischen Ereignisse spüren und sehen kann, wenn er in das Land schaut.  Palästinenser kannte er nur als Gärtner, Installateure und Elektriker oder von Festnahmen in der Armee. Als Bewohner benachbarter palästinensischer Dörfer habe er sie schlicht übersehen.

Nachdem er von Myrons Aktivität hörte, begann die Neugier an ihm zu nagen. Im Frühjahr 2014 wagte er sich zu einer kleinen Versammlung auf den Hof von Ali Abu Awwad. Hanan erzählt, dass es das erste Mal gewesen ist, dass er Palästinensern auf gleicher Augenhöhe getroffen hat und sie jenseits seiner Vorurteile als Menschen wahrgenommen hat. Ein fremdes Narrativ zu hören, das gleichsam Geltung fordert, hat ihn überwältigt, sagt Hanan. So hörte er, dass sich palästinensische Kinder vor Siedlern fürchten. Ein Gedanke, der Hanan nie in den Kopf gekommen wäre. Und: Er hörte an diesem Tag zum ersten Mal das Wort Besatzung ohne dies als linke Propaganda ignorieren zu können. Als er dann die Geschichte von Ali Abu Awwad hörte, habe sich in ihm etwas vollzogen, was er mit dem Betrachten jener Illustrationen vergleichen könne, in denen allein durch eine Änderung des Blickwinkels ein neues Bild erscheine.

 

Ängste auf beiden Seiten

Der Roots Aktivist Noor A’wat aus Bethlehem hat ähnliches aus der anderen Perspektive erlebt, erzählt er. Die meisten Palästinenser seien überrascht gewesen, zu erfahren, dass Israelis Angst vor ihnen haben. Die Angst, so sagt Ali, ist der Feind, den es auf beiden Seiten zu besiegen gilt. Der Weg zur Freiheit für die Palästinenser gehe durch die jüdischen Herzen.

Im Sommer 2014 setzte Ali ein eindrucksvolles Zeichen der Verständigung, als er mit Jamal, einem weiteren Aktivisten von Roots, die trauernde Familie eines Jugendlichen aufsuchte, der zusammen mit zwei andere israelischen Jugendlichen erst entführt und dann ermordet wurde.

Roots organisiert Zusammentreffen zwischen Ali und Siedlern in deren Häusern. Oft finden sich an solchen Abenden Duzende Zuhörer ein. Ali stiftet stets viel Verwirrung. Die Geschichte von Ali zeigt ihm ein Dilemma auf, das er immer ignoriert hat, erklärt ein Siedler mit gestrickter Kippa auf einem dieser Zusammentreffen. Auf der einen Seite stehe er voll hinter „Großisrael“ und dem Siedlungswerk, auf der anderen Seite aber wolle er nicht Komplize der Ungleichbehandlung sein. Die Geschichte von Ali zu hören, hat ihn geschmerzt, gibt er zu und dass er sich wünscht, dass Palästinenser und Juden gleiche Rechte haben, ohne dass die Juden deshalb aus den Siedlungen weichen müssen.Der von Roots initiierte Dialog habe inzwischen mehr als Tausend Israelis aus Gush Ezion erreicht, erzählt Hanan und verweist darauf, dass dies immer noch nur ein Bruchteil der Bewohner des Siedlungsblocks sei. Roots arbeitet des Weiteren mit militärischen Vorbereitungsakademien zusammen und organisiert Treffen von jungen Rekruten mit Palästinensern. Ali gibt den jungen Israelis mit auf den Weg, dass sie während ihres Militärdienstes für das Bild Israels in den Augen der Palästinenser prägen werden.

 

Myron (rechts) im Gespräch mit einem Palästinenser

 

Bei Roots engagieren sich deutlich mehr Siedler als Palästinenser, denn Treffen mit Siedlern betrachtet die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) als Kollaboration mit der Besatzung, erklärt Hanan. Myron erzählt eine Geschichte, um die Dimension des Problems mit der PA zu verdeutlichen. Der Bruder des Mukhtars von Khirbet Zakharia vermittelte einst Siedler an einen Palästinenser in Bethlehem, der ihnen Stühle für eine Feier zum Laubhüttenfest lieh. Für die Feier wurde ein Stück Land von einem weiteren Palästinenser gemietet. Die PA nahm daraufhin alle drei fest und steckte sie ins Gefängnis.

Der Ansatz von Roots ist lokal, bestätigt Hanan. Trotzdem soll aus den Begegnungen eine Bewegung mit politischer Wirkungsmacht entstehen. Denn die Ungerechtigkeit lasse sich letztlich nur politisch beseitigen. Der spirituellen Transformation soll eine politische folgen. 

 

Gemeinsam leben mit gleichen Rechten

Tatsächlich beginnt sich die israelische Öffentlichkeit, die den Glauben an die Zwei-Staaten-Lösung verloren hat, für Initiativen wie Roots zu interessieren. Vor einem Monat wurde in den Hauptnachrichten ein Bericht über das Friedenszentrum von Roots ausgestrahlt. Das Friedenszentrum wurde auf dem Hof von Ali errichtet und sah bisher schon mehr als 15.000 Besucher. Noor A’wat aus Bethlehem gehört zu den säkularen Palästinensern, die sich bei Roots engagieren. Für ein Treffen bevorzugt er die palästinensische Bar Hosh Jasmin, die sich gerade zu einem total informellen Treffpunkt zwischen säkularen Palästinensern und Israelis  entwickelt.

In der Bar mit atemberaubendem Blick auf die judäischen Berge, erklärt Noor, dass er mit dem Bericht über Roots in den israelischen Hauptnachrichten nicht zufrieden war. Noor befürchtet, dass die von Roots initiierte Begegnung zwischen Siedlern und Palästinensern Gefahr läuft, den status quo zu affirmieren. Seiner Meinung nach müssen die Aktivitäten sich mit der Besatzung und ihrer Ungerechtigkeit, wie der stark eingeschränkten Bewegungsfreiheit der Palästinenser auseinandersetzen. Seine Ansichten sind dezidiert Antizionistisch. Er propagiert den gewaltlosen Widerstand gegen die Besatzung. Allerdings, so sagt Noor, hätten die Begegnungen mit den Siedlern ihm klar gemacht, dass deren Anspruch auf das Land so gültig sei wie der palästinensische Anspruch. 

Neben seinem Mitwirken bei Roots hat sich Noor mit anderen Palästinensern und Israelis der Initiative Bayit (Haus) angeschlossen. Bayit promotet die Suche nach einer politischen Lösung, die Israelis und Palästinensern gleiche Rechte garantiert.  Wie Noor ist auch Chaya Tal auf der Suche nach einer Initiative, in der sie sich für Begegnung, gegenseitiges Verständnis und politische Änderung engagieren kann. Für die Siedlerin Chaya Tal ist die Zwei-Staaten-Lösung ein Hirngespinst. Sie ist überzeugte Siedlerin und verweist auf die weit zurückreichende jüdische Präsenz im biblischen Kernland der Juden. Chaya lernt Arabisch und pflegt freundschaftliche Beziehungen zu manchen ihrer palästinensischen Nachbarn.Dass die Bewohnerin von Gush Ezion von Bento vor zwei Jahren als Friedenshindernis porträtiert wurde, zeigt, wie sehr die Betrachtung des Konflikts noch von überholten Zuschreibungen geprägt ist. Roots und Bayt, das Hosh und die Freundschaft zwischen Noor und Chaya zeigen auf, dass eine Änderung des status quo nicht bei Zusammenkünften von Friedensaktivisten in Tel Aviv erreicht werden kann, sondern bei Zusammentreffen von Siedlern und deren palästinensischen Nachbarn.

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