Prof. Dr. Naika Foroutan ist Co-Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim-Institut), leitet das „Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung“ und ist Professorin für „Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Das Interview führten Fabian Bechtle und Leon Kahane vom „Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst“ der Amadeu Antonio Stiftung.
Forum: Uns interessiert vor allem die Rezeption in den Feuilletons nach der Ankündigung Ihrer Studie im Mai 2018. Haben sie sich z.B. von Jana Hensels Artikel „Willkommen im Club“ in der ZEIT verstanden gefühlt?
Naika Foroutan: Ich habe verstanden, was Jana Hensel sagen wollte. Gleichzeitig habe ich mich aus den weiteren Debatten, die im Feuilleton folgten, herausgehalten. Ich hatte den Eindruck, eine Debatte, die unter ostdeutschen Expert*innen geführt wird, sollte nicht als die meine verstanden werden. Ich bin Migrationsforscherin und Ostdeutschlandforschung ist nicht mein eigentliches Forschungsgebiet. Gleichzeitig denke ich, dass wir als Migrationsforscher*innen Werkzeuge haben, die helfen können, die Debatten über Ostdeutschland besser zu verstehen. Dieses Thema wird bisher stark mit den Mitteln der Ungleichheitsforschung untersucht – man schaut also auf strukturelle, ökonomische und soziale Ungleichheit. Die Migrationsforschung nimmt zusätzlich die kulturelle und identifikative Ungleichheit – also emotionale, identitäre und symbolische Fragen der Ungleichbehandlung in den Blick.
Wenn man Ostdeutschland verstehen will, braucht es breitere Blickwinkel, denn das Reduzieren auf ökonomische Ungleichheit lässt uns den gesamten Komplex nicht ausreichend verstehen. Es gibt das Gefühl, kulturell und affektiv nicht genügend im gesamtdeutschen Narrativ wahrgenommen und adressiert zu werden – die Kinderbuchautor*innen oder die Pop-Songs aus der DDR kennen nur wenige Westdeutsche. Darüber hinaus ist der gesamte Wissenskanon in Deutschland sehr stark westdeutsch geprägt. Es gibt also eine strukturelle, soziale, aber auch kulturelle und identifikative Diskrepanz. Gerade letzteres untersuchen wir üblicherweise nur in Bezug auf Migrant*innen, mit Fragen wie: Fühlen Sie sich in Deutschland zuhause, haben sie Sehnsucht nach ihrem Herkunftsland, fühlen sie sich als gleichwertig anerkannt oder empfinden sie sich als Bürger*innen zweiter Klasse. Hier haben wir uns gefragt, ob man diese Fragen auch Ostdeutschen stellen könnte. Das ist nicht absolut neu, aber es ging darum zu fragen, ob wir mit Hilfe der Mittel der Migrationsforschung eine Art von affektivem Gemütszustand der Ostdeutschen auffangen können.
Wir nehmen es so wahr, dass Ihre Grundfrage, nämlich die nach der Vergleichbarkeit von Erfahrungen Ostdeutscher und Migrant*innen, sich im öffentlichen Diskurs in einen rein ostdeutschen bzw. deutsch-deutschen Diskurs verschoben hat. Dieser Diskurs klammert die Perspektive der Migrant*innen aus. Gleichzeitig erweiterte sich die Debatte insofern, als das gefühlte Kränkungen der Ostdeutschen als Erklärung für z.B. Rassismus genutzt werden. Wir lesen z.B. bei Jana Hensel heraus, dass Ihre These dazu führt, dass sie sich als Ostdeutsche das erste Mal erkannt und verstanden fühlt – gerade in Hinblick auf eine gefühlte Abwertung.
Ja, ich muss sagen das hat mich überrascht, dass die Thematik schnell von der Migrationsfrage entkoppelt wurde und eher Anlass dafür gab, sehr ausführlich über Ungleichheitserfahrungen von Ostdeutschen zu sprechen – allerdings erkläre ich mir das so, dass die Ungleichbehandlung von Migrant*innen und ihren Nachkommen den meisten Menschen zumindest als schlechtes Gewissen bewusst ist, während über die ungleichen Positionen der Ostdeutschen jetzt erst offensiver gesprochen wird. Schon vor 10 Jahren wurde darüber zwar von ostdeutschen Kollegen Thomas Ahbe, Raj Kollmorgen oder Lars Vogel geschrieben. Aber jetzt erst – knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung findet das einen gesellschaftlichen Widerhall. Entweder war damals die Zeit noch nicht reif für diese Debatte oder es gab einen solchen Effekt, weil ich von Außen, als migrantische und muslimische Autorin so etwas beschrieben habe.
Damit entsteht dann vermeintlich so ein Moment von Legitimität, wenn das eine Person schreibt, der man nicht vorwerfen kann, sie tue das aus einer Opferperspektive heraus – was übrigens ein Vorwurf ist, der oft gegenüber Migrant*innen gemacht wird, wenn sie Ungleichheit beklagen. Aber wie gesagt, das hat sich alles ganz schnell von mir entkoppelt. Es wurde vor allem eine Debatte innerhalb ostdeutscher Zirkel – aber natürlich mit dem Ziel, gesamtdeutsch gehört zu werden. Allerdings bedeutete das auch, dass die Idee der strategischen Allianzen, die ein Kernargument des Artikels waren, nicht weitergesponnen wurde. Es ging ja genau darum, darauf aufmerksam zu machen, dass es große Ungleichheiten gibt, die unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft betreffen und wenn man erkennt, dass zwei gänzlich unterschiedliche soziale Gruppen von vergleichbaren Ungleichheiten betroffen sind, dann muss man aufhören, dies den Gruppen in die Schuhe zu schieben, sondern muss zusammenkommen, um auf Systemfehler hinweisen zu können. Diese Art von Allianzen haben immer einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Das sehen wir bei #unteilbar oder Anti-Pegida-Demonstrationen. Also, wäre die Debatte in diesem Sinne konsequent weitergeführt worden, hätte man viel enger an der Frage bleiben müssen, wo Migranten und Ostdeutsche in Dialog treten und kooperieren können.
Folgen wir Ihrer Idee des kleinsten gemeinsamen Nenners. Welcher wäre das?
Das Eine ist die Thematisierung von Ungleichheit. Wenn wir uns z.B. das Civil Rights Movement in den USA anschauen, sehen wir, dass es sich aus ganz unterschiedlichen Positionen heraus entwickelte – Black Power, feministische Bewegungen, Gay rights movement etc. So wurde eine ganze Bürgerbewegung in den USA in Gang gesetzt und das obwohl die Gruppen sehr unterschiedlich waren. Aber sie hatten einen gemeinsamen Nenner: den Kampf um Repräsentation und Anerkennung. Im Moment wird so getan, als sei Identitätspolitik etwas, bei dem man sich nur mit den Interessen der eigenen Gruppe beschäftigt. Wer das so darstellt, versteht Identitätspolitik falsch, aus Unwissenheit oder völlig absichtlich. Gerade dadurch werden wichtige Interessen einzelner Gruppen – die eigentlich allgemeine Interessen sind – als unwichtige Partikularinteressen abgetan. So wird das Gemeinsame behindert.
Aber gerade die Emanzipationsstrategien einzelner Gruppen weisen auf bestehende systemische Ungleichheiten hin und die Behebung von Ungleichheit liegt wiederum im Interesse der Gesamtgesellschaft. Im Grunde genommen verfolgt diese Identitätspolitik ein immer gleiches Ziel, nämlich das Erreichen von struktureller, ökonomischer und symbolischer Gleichheit in der Gesellschaft. Derzeit wird so getan, als ginge das nur auf Kosten anderer Gruppen. Aber die Erfahrung des Civil Rights Movements zeigt: Man kann das auch zusammenbündeln und dann gesellschaftliche Reformen mit mehr Druck einfordern. Die Allianz funktioniert ganz gut, wenn man ganz unterschiedliche Gruppen auf diese Ungleichheitsverhältnisse hinweist. Dann kann man nämlich feststellen, dass es de facto eine emotionale, affektive und auch empirisch nachweisbare Benachteiligung von gänzlich unterschiedlichen Gruppen gibt! Wie lange wollen wir dann diese Benachteiligungen immer wieder über das Fehlverhalten dieser Gruppen erklären?
Mit der Devianz der Gruppe wird also erklärt, warum das System ungleich ist?
Ja, und das kann man nur durchbrechen, wenn man sich stark unterscheidende Gruppen nebeneinander stellt. Generell – aber natürlich auch in Bezug auf Migrant*innen und Ostdeutsche – bedeutet das also nicht, dass beide Akteursgruppen gleich sind. Sie sind unterschiedlich in ihren Rassismuserfahrungen, in ihrer strukturellen Benachteiligung. Wir brauchen aber den Vergleich, um von der Akteursebene auf die Systemebene zu zoomen. Eine Analogie herzustellen heißt zu vergleichen, aber nicht gleich zu machen. Das kann eine nach innen gerichtete Diskussion innerhalb der Akteursgruppen anstoßen und das halte ich für sehr legitim.
Auf diesen Punkt möchten wir auch hinaus. Die Ostdeutschen sind weder nicht-weiss, noch nicht-deutsch. Sie kommen aus einem anderen politischen System. Sie haben vielleicht einen Staat verloren und das betrifft vor allem die, die sich mit dem Staat identifiziert haben. Die anderen haben Freiheit und Bürgerrechte gewonnen. Die Idee, Staat und Identität zu mischen, ist sehr eng mit dem Begriff Heimat verknüpft – ein Begriff, der nach Ansicht mancher zurückgeholt werden soll, um nicht von rechts vereinnahmt zu werden. Gerade in Bezug auf Ostdeutschland sehen wir den Heimatbegriff von allen Seiten in Gebrauch. Aber vor allem die AfD nutzt diesen Begriff und verknüpft ihn gleichzeitig mit einer Selbstinszenierung als Opfergruppe …
…da muss ich Ihnen widersprechen. Wir müssen die Perspektive „Opfer“ fairerweise definieren, damit das nicht als illegitimes Jammern hier stehen bleibt. Wenn wir die symbolische Ungleichheit verlassen und uns auf eine empirische Betrachtung einlassen, sehen wir, dass noch immer fast 80% aller Eliteposten im Osten von Westdeutschen besetzt sind. Das Ungleichgewicht an Repräsentation lässt sich an Universitätsposten, an Armutsquoten oder an der Möglichkeit Vermögen zu vererben klar an Zahlen ablesen. Bezeichnen wir das nun herablassend als „Opfer“ von Antriebslosigkeit oder mit dem Ziel eines Empowerments als „Opfer“ von Ungleichheit? Man kann darüber sprechen, aber de facto sind die Ungleichheiten nicht wegzuleugnen. Der massive Verlust von Jobs in der Nachwendezeit ist keine gefühlte Konstruktion.
Wir wissen nicht wie schnell sich solche Veränderungen in der Gesellschaft üblicherweise abzeichnen. Aber empirische Studien werden natürlich auch politisch ausgelegt. In Verbindung mit z.B. einem Heimatdiskurs. Es gibt eine Verbindung zwischen Zahlen aus der Forschung und ihrer politischen Deutung. Das Missverständnis was Sie vorhin andeuteten, also das Analogien Vergleiche sind und keine Gleichsetzung, wird hier deutlich.
Ja, ich verstehe was Sie meinen. Aber wir müssen lernen, das ganze in seiner Komplexität zu verstehen. Ich sitze hier und spreche auch als Muslimin. Meinen Sie, ich bin mir nicht darüber bewusst, wie stark in dieser Gruppe auch Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit vertreten sind? Trotzdem kann ich gleichzeitig auch klar und deutlich sagen, wir haben in diesem Land ein großes Problem mit anti-muslimischem Rassismus und dieser ist in einer Kontinuität etablierter rassistischer Strukturen zu lesen. Das eine schließt doch das andere nicht aus. Man kann nicht einen Systemfehler mit einem Akteursfehler erklären. Rassismus erfüllt eine systemstützende Funktion, nämlich etablierte Privilegien zu legitimieren und die Opfer des Rassismus selbst dafür verantwortlich zu machen, dass sie nicht auf der gleichen Ebene sind. Nach dem Motto: Ihr seid nicht dort wo wir sind, weil Ihr es nicht wert seid, denn Ihr seid homophob, frauenfeindlich und antisemitisch. Es könnte aber auch heißen, Ihr seid homophob, antisemitisch und frauenfeindlich, weil wir Euch nicht nach oben lassen und Ihr deswegen gegen andere, aus Eurer Sicht noch marginalisiertere oder bevorzugte Gruppen rebelliert und die Erfahrung des Rassismus weitergebt. Das legitimiert die menschenfeindlichen Positionen der anderen nicht – es gibt nur einen Hinweis, wie evtl. dagegen vorgegangen werden könnte.
Meine Rolle als Wissenschaftlerin ist es nicht, Devianz unsichtbar zu machen oder zu leugnen. Aber ich muss verstehen, woher sie kommt, welche Funktion sie einnimmt und wie sie von den Akteuren, die übrigens gleichzeitig Opfer und Täter sein können, verarbeitet wird. Wenn ich das neue „Ost-Erwachen“ und die Auseinandersetzung mit der 30-jährigen Unsichtbarkeit, Demütigung oder Devianz thematisiere, kommt oft die Unterstellung, dass dies ein Ablenkungsdiskurs vom vorhandenen rassistischen Potential in Ostdeutschland sei. Ich kann Ihnen zu den Zahlen zu Ostdeutschland sagen, es ist erschreckend, wie hoch dort die rassistischen Einstellungen sind.Aber wir fangen erst an dafür Erklärungen zu finden. Mit der Plattitüde „das kommt alles durch soziale Ungleichheit“ kommen wir nicht weiter. Das macht es uns so schwer die angesprochenen Allianzen zu bilden! Nehmen sie die Muslime als Folie, um es besser zu verstehen.
Das ist natürlich nachvollziehbar – man kann das eine sagen und das andere ist deshalb nicht entschuldet. Wenn man das aber explizit in eine Erklärung umdeutet, dass sich daraus eine Wut auf den Kapitalismus lesen lässt, dass das am Ende sogar als Erklärung für Pogrome respektive den NSU herhalten soll, dann ist das schon eine konkrete Umdeutung der Studie. Daher verstehen wir aber auch, dass Sie sich von dem Diskurs ferngehalten haben.
Ich beteilige mich gerne am Diskurs, wenn ich etwas dazu beitragen kann. Und ich kann de facto sagen, die spannendsten, interessantesten und herausforderndsten Debatten führe ich seit geraumer Zeit mit Menschen aus dem Osten. Erstens, weil es dort plötzlich eine gemeinsame Verstehensebene gibt und damit bestimmte verbindende Positionen. Zweitens interessiert mich, woher der nächste treibende utopische Gedanke kommen wird. Ich würde vermuten, er kommt aus Ostdeutschland. Denn dort gibt es verschüttete Utopien, die in Westdeutschland noch nicht mal zum kollektiven Wissen gehören. Also eine Idee, die heute anachronistisch klingt, weil sie gescheitert ist – wie die DDR-Utopie einer Gesellschaft ohne Geld – so etwas wird im Westen nicht einmal gedacht, um überhaupt daran scheitern zu können.
Es gab die nicht-funktionierende DDR, mit ihrem existierenden Vigilantismus und Rassismus. Gleichzeitig existierte im Westen auch eine virtuelle Vorstellung von einem utopischen Kommunismus. Auch wenn dieser dort nie existierte, funktionierte die Utopie doch als ein Korrektiv für das, was im Westen passierte. Heute gibt es das nicht mehr, wenn man aber nach diesem Korrektiv heute graben will, dann wohl wieder im Osten. Das kann uns helfen, vieles von dem was wir jetzt neu denken müssen, wie etwa Kapitalismuskritik, radikale Utopie, Kollektivgüter oder sogar Klimaschutzmaßnahmen , besser zu entwickeln und in diverseren Aktionsformen anzugehen.
Wenn es eine nichtfunktionierende Utopie wie die, in der die Leute in der DDR oder der Sowjetunion gelebt haben braucht, um eine westliche, kapitalistische und weitestgehend funktionierende Gesellschaftsordnung besser funktionieren zu lassen, dann würde uns das sehr leid tun.
Wir müssen ja nicht über das defekte System reden. Wir müssen nach den Ideen graben.
Wir verstehen das. Sie haben aber gerade gesagt, dass es quasi eine antithetische Bindung gibt zwischen den beiden Systemen. Wenn man auf dieses Korrektiv angewiesen ist, bedeutet das aber auch, dass eine Seite verlieren muss. Dann könnte man sagen “okay, die haben die Utopie, aber die funktioniert nicht, aber dafür entwickelt sich, aus der Bindung heraus, eine stärkere soziale Marktwirtschaft und nicht eine völlig enthemmte.” Ist das nicht eine problematische Eigendynamik?
Ja, aber wir stehen im Moment an Sollbruchstellen in der Gesellschaft. Es gibt bestimmte Dinge, von denen wissen wir, die werden nicht mehr weiter funktionieren. Neulich sagte Ulrich Schneider vom paritätischen Wohlfahrtsverband, dass 800.000 Menschen im Moment Wohnungslos sind. Andere sprechen von 3.000.000. Wir wissen, dass 32.000 Menschen in Berlin wohnungslos sind. Wir wissen gleichzeitig, dass in anderen gescheiterten kommunistischen Ländern im Zuge der Wende Staatswohnungen auf die Menschen überschrieben wurden – also in das Eigentum derjenigen übergingen, die sie auch eigentlich über ihre Steuern finanziert hatten. Nicht so in der Bundesrepublik, Hier gingen die großen Wohnblöcke der DDR, die als Volkseigentum gebaut worden waren, in Staatseigentum und Verwaltungseigentum der Wohnungsbauunternehmen über und von dort teilweise in Privateigentum von Hedgefonds. Warum diskutieren wir eigentlich nicht darüber ob Wohnbesitz, Mobilität, Transport eigentlich umsonst sein sollte – so wie Bildung und Gesundheit auch? Ich glaube, dass das Potential für solche existentiellen Debatten wie z.B. das Recht auf Stadt aus dem Osten kommen könnte, weil es im Westen kaum jemanden gibt, der die Möglichkeit denken könnte, dass man Wohnungen auf die Bevölkerung überschreibt. Damit meine ich nicht, dass es Ostdeutsche geben muss, die jetzt plötzlich Enteignung von Großkapitalisten fordern, das nicht. Aber wenn diese Denkbarriere des legitimen Eigentums oder legitimen Kapitals nicht angegriffen wird – obwohl wir wissen, dass die großen Kapitalvermögen zu großen Teilen nicht durch Arbeit entstanden sind, sondern durch Erbschaften – dann wird sich auch daran nichts ändern.
Ich weiß gar nicht, wie sich das so lange halten kann, dass irgendwann mal ein Herrscher einem Adeligen Ländereien, Wälder und Schlösser geschenkt hat und die Verwandten heute glauben, das stünde ihnen legitimerweise zu? Privilegien müssen infrage gestellt werden – dann können die mit den besseren Argumenten ja Besitz und Anspruch behalten, wenn sie Recht haben sollten. Aber das Ganze nicht einmal in Frage zu stellen verfestigt etablierte Ungleichheiten über Jahrzehnte. Ich glaube, diese Forderungen können nicht aus dem Westen kommen, sondern von dort, wo jemand diesen Versuch einer utopischen neuen Welt gemacht hat und gescheitert ist, um es heute in Kenntnis der fatalen Fehler besser zu machen
Wir nehmen es nicht so wahr, dass der Osten ein Labor für etwas Progressives und Utopisches ist – die Erhaltung des Status Quo oder aber das Reaktionäre sind dort doch sehr sichtbar. Auch deshalb ist es ein Labor für AfD und Co.
Davon bin ich überzeugt und das lässt sich auch nicht leugnen. Aber ich hätte Ihnen auch sagen können, die progressivsten Denker*innen und radikalsten Reformer*innen finden sie derzeit in der muslimischen Welt. Warum? Weil dort der Leidensdruck besonders hoch ist. Radikalisierung, Korruption, Unwissenheit – und dazwischen die, die wirklich ein Anliegen haben, das ändern zu wollen. Aber ich versuche es mal mit einem anderen Bild. Im Film Matrix gibt es diesen Moment wo der Protagonist Neo als Retter aufgesucht wird, als jemand, der den Leuten die Augen öffnen soll. Wenn ich jetzt Neo suchen würde, würde ich ihn im Osten suchen.
Wirklich? Matrix ist ein interessantes Beispiel, denn Matrix ist der Einsteigerfilm für jeden Verschwörungstheoretiker. Blaue Pille, rote Pille, will ich die Wahrheit wissen oder lieber nicht. Star Trek wäre vielleicht interessanter, man sollte nach Jean-Luc Picard suchen…
…es ist vielleicht etwas übertrieben, aber ich meine, da kommt plötzlich jemand wie Friedrich Merz, umgeben vom Feinstaub der alten Bundesrepublik – er ist der Prototyp der stagnierenden Elite Westdeutschlands. Selbst auf irgendwelchen eher abseitigen Bürgerdialogen im Osten, erscheint mir das, was die Leute dort sagen auf eine suchende, aber reflektierende Art und Weise oft neu. Nicht was meinen Bereich, also Migration, betrifft, denn da irritiert mich oft das ganze nicht-vorhandene Vokabular, die Sprache ist oft sehr rassistisch. Aber hier sehe ich meine Aufgabe und auch einen Auftrag, nämlich genau dazu das Data Mining zu machen.
Wie bekomme ich das Gesagte aus dem Kontext der rassistischen Sprache entblättert und wie kriege ich die tiefen Vorstellungen und Sehnsüchte von Gleichheit, Gleichwertigkeit, Zugänglichkeit gepackt, die ich dort höre aber die noch nicht koalieren mit der Migrationsfrage? Die Ostdeutschlandfrage und die Migrationsfrage – sie sind die sozialen Fragen unserer Zeit. Durch sie und über sie werden viel existentiellere Fragen verhandelt, wie die, was Gleichheit bedeutet und welchen Wert Anerkennung hat.
Kommen wir zurück zu unserem anfänglichen Beispiel. Wir hatten Jana Hensel erwähnt und wir denken, es steckt viel Potential für die Ideologieelemente der Querfront in der Rezeption Ihrer mit der Studie verbundenen These. Das geht soweit, dass von einigen ein postkolonialer Diskurs für das Ostdeutschland der Nachwendezeit gefordert wird.
Ich verstehe, was Sie sagen wollen, aber ich möchte nochmal darauf aufmerksam machen, dass der Vorwurf gegen Jana Hensel ganz ähnlich gegen Personen gemacht wird, die über Islamophobie forschen. Und zwar ist das der Vorwurf, dass man im Grunde genommen, wenn man über Islamophobie forscht, unsichtbar machen möchte, wie frauenverachtend, homophob und antisemitisch Teile der muslimischen Gesellschaft sind. Oder im Falle von Jana Hensel, dass sie den Rassismus in Ostdeutschland verharmlose, wenn sie ihn über gefühlte Deprivation erklärt. Das ist natürlich absurd – wie ich oben schon erklärt habe, relativiert eine Erklärung nicht eine Tat. Wenn man feststellt, dass die meisten Alkoholiker selbst aus Alkoholikerfamilien kommen, dass Schläger meist selbst als Kind geschlagen wurden – dann relativiert das nicht die Tat des Schlagens. Aber es erklärt sie und wendet den Hinweis in Richtung eines Systemfehlers.
Menschen, die in Armut aufwachsen, sind nicht automatisch großzügig, wenn sie reich werden, Opfer von Rassismus nicht automatisch mitfühlend mit anderen Menschen. Im Gegenteil, viele dieser systemischen und strukturellen Ungleichheiten zementieren weitere Ungleichheiten, weil die Akteure sie reproduzieren. Das macht ihre Taten nicht weniger drastisch oder abstoßend. Aber es erlaubt darüber nachzudenken, wo man anfangen müsste, wenn man gegensteuern will. Das heißt nicht, dass man nur aus der „Opferperspektive“ da rangeht. Es müssen auch Geschlechterfragen, Moral, Religion – oder auch Religions- oder Gottlosigkeit – und natürlich als Basis ökonomische Fragen, Netzwerke, Stadt-Land Verhältnisse etc. herangezogen werden. Das ist nur eine zusätzliche Perspektive.
Okay – Können Sie anhand der von Ihnen zuvor beschriebenen Analogien auch Prognosen in Bezug auf das Selbstverständnis der Ostdeutschen wagen?
Ja, es wird passieren, dass sich mehr Menschen als Ostdeutsche bezeichnen. Umso diverser diese Gruppe wird, je mehr sie sich ausweitet, desto mehr Stimmen wird es geben, die extrem neu und emanzipatorisch für die Ostdeutschen sprechen. Unterschiedliche nicht-dominante, lange unsichtbare Gruppen werden derzeit sichtbarer. Diese Gruppen zu verknüpfen, die eigentlich an vielen Punkten nicht zusammen gehören, das wäre die eigentliche Strategie. Darin sehe ich Potenzial für systemische Veränderungen. Das nennen wir postmigrantische Perspektiven. Also Zusammenschlüsse, die über die Migrationsfrage hinauszeigen und Probleme adressieren, die uns alle als Gesellschaft betreffen.
Das Interview erschien zuerst bei „Forum Democratic Culture and Contemporary Art“. Mit freundlicher Genehmigung.
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