Manchmal genügt ein einzelner Mensch, um eine Propagandainszenierung platzen zu lassen. Montagabend in Leipzig: Auf einer weiträumig von der Polizei abgesperrten Straßenkreuzung im Stadtteil Reudnitz versammeln sich fast 300 Rechtsextremisten. Keine Glatzen sind zu sehen, stattdessen schwarze Kapuzenpullis mit Aufschriften wie „Nationaler Sozialismus jetzt?, „Odin? oder „Thor Steinar?, Sonnenbrillen, Turnschuhe ? der neue Look der Nazis.
Auftritt mit NPD-Landtagsfraktion
Vor zwei Wochen ist im Leipziger Stadttteil Reudnitz Michelle ermordet worden, ein achtjähriges Mädchen, der Täter wurde noch nicht gefasst. Seither fordern Sachsens Neonazis ? wieder einmal ? die „Todesstrafe für Kinderschänder?. Aus Dresden ist an diesem Abend die halbe NPD-Landtagsfraktion angereist. Fraktionschef Holger Apfel schreit „Abscheu und Verachtung? gegen „dieses Irrenhaus BRD? heraus, dass es von den Häuserwänden zurückhallt. „Jedes Mittel? sei erlaubt im „Kampf gegen Perversion und sexuelle Degeneration?.
Da tritt Hans Tschirner vor, ein älterer Herr mit Sandalen, kariertem Hemd, Weste und Rucksack. Er würde gern auch was sagen, nämlich dass er hier in der Gegend wohne, dass er ein engagierter Christ sei und das auch wirklich schlimm finde mit dem Mord. „Aber das ist hier ein bisschen zu einfach!? Die Rechtsextremen sind verblüfft. Tschirner hat keine ausgefeilte Rede parat, er ist aufgeregt, aber irgendwie versucht er, den jungen Neonazis ins Gewissen zu reden. „Derjenige, der den Mörder umbringt, wird doch dann selbst zum Mörder!? Schweigen.
Am Anfang liefen die Bürger hinter den Neonazis her
Es ist die dritte Woche nach einem Mord, der die ganze Stadt bewegt. Die lokale Springer-Presse druckt wieder und wieder das Foto des Opfers und spekuliert wild über den Täter. Gleich nach dem Verschwinden des Mädchens hatten sich Bürger zusammengefunden, die der Polizei helfen wollten. Auch die rechtsextreme Kameradschaftsszene kam, die in der Nachbarschaft von Michelles Elternhaus sehr aktiv ist; zufälligerweise ist ihr Onkel einer der führenden Kader. Sie druckten Tausende von Handzetteln, durchkämmten Parks bis tief in die Nacht. Als dann die Leiche gefunden wurde und Wut und Trauer die Anwohner auf die Straße trieb, waren die Rechtsextremisten die ersten, die eine Demonstration organisierten. Mit Fackeln und Transparenten setzten sie sich an die Spitze, und die Bürger marschierten hinterher. Am Montag darauf waren es schon Hunderte von Menschen. Der Volkszorn kochte, forderte schärfere Gesetze ? und mittendrin die Neonazis, die ?das System? stürzen wollen, das ?Kinderschänder? frei herumlaufen lasse. Sie radikalisierten die verbreitete Wut auf ?die da oben?. Symbolträchtig kündigten sie regelmäßige ?Montagsdemonstrationen? an.
Die Menschen sind wütend ? und die NPD füllte ein Vakuum
Der Osten der Stadt ist Welten entfernt von der Boomtown Leipzig. Hier gibt es noch unsanierte Häuser, und in den sanierten stehen viele Läden leer. Sportwetten werden noch angeboten, Secondhand-Handys und Bodybuildingpräparate. Die Hälfte der Menschen hier bezieht Arbeitslosengeld I oder II. Man fühlt sich abgehängt und liest in der Bild-Zeitung, wie milde der Staat umgehe mit Sexualstraftätern und dass die Knäste Luxushotels seien. Das bürgerliche und das offizielle Leipzig schwiegen nach dem Mord, dem Oberbürgermeister fiel außer der Einrichtung eines Spendenkontos zunächst nichts ein. Niemand nahm die verbreitete Wut auf. Einzig der örtliche Pastor öffnete seine Kirche. Aber auf der Straße herrschte ein Vakuum, und lokale Neonazis und die NPD waren die Ersten, die es füllten.
Wo immer sich ein Fall von Kindesmissbrauch ereignet, tauchen die Rechtsextremisten auf: vor zehn Jahren im mecklenburgischen Malchin, vor zwei Jahren in Dresden oder im letzten Jahr in Bremen. In Berlin-Neukölln versuchte die NPD durch ?Kiezstreifen gegen Kindermörder? auf sich aufmerksam zu machen. Vor ein paar Monaten erst machte sie in Bochum gegen den Aufbau einer Therapieeinrichtung für Sexualstraftäter mobil. Für die Partei ist das die konsequente Umsetzung ihrer Ideologie. Denn für die NPD ist der Schutz deutscher Kinder ein Mittel zum vermeintlichen „Rassenerhalt“. Im Grundsatzprogramm der NPD steht: ?Die Familie ist Träger des biologischen Erbes.?
Auf Flugblättern, die von Neonazi-?Kameradschaften? seit Tagen in und um Leipzig verteilt werden, heißt es: ?Kinder müssen wieder das höchste Gut unseres Volkes werden, ihr Schutz und ihr behütetes Aufwachsen sollen zur heiligen Aufgabe aller deutschen Menschen werden. Kranke, die sich an ihnen vergehen, sind aus dieser Gemeinschaft zu entfernen, da sie eine Gefahr darstellen.? Es stehe ?unwiderrufbar fest, dass es für diese Subjekte keine andere Strafe geben kann als die Todesstrafe. Im Knast liegen diese Perversen dem schaffenden Volk nur auf der Tasche?. Für die Neonazis sind Sexualdelikte ? obwohl die Fallzahlen laut Kriminalstatistiken seit Jahren zurückgehen ? eine Bestätigung für ihr verqueres Bild einer verderbten Welt: ?Kinderschänderringe, Kinderpornografie, Sex-Tourismus gehören in diese ?freie Gesellschaft? wie Coca Cola und McDonalds. Es zählt heute nur mehr das Geld und der niedere Trieb. Systematisch wird ?Toleranz? für alles und jeden, ja für alle Abartigkeiten propagiert ? vor allem auf Kosten der Kleinsten und Schwächsten?. Der Satz ?Unsere Kinder sind unsere Zukunft? bekommt jedenfalls eine besondere Bedeutung, wenn die NPD oder andere völkische Rechtsextremisten ihn in den Mund nehmen. Doch die Verkäuferin im Pizza-Imbiss in Leipzig-Reudnitz sagt einfach: ?Ist doch wahr!?
?Demokratie und Rechtstaat sind die Grundlage für den Schutz unserer Kinder?
Zehn Tage dauerte es, dann wachte der Rest der Stadt auf ? und zeigte, wie man Neonazis in einem Fall wie diesem das Heft des Handelns aus der Hand nehmen kann. Antifa und Linkspartei schlugen Alarm. Eine lokale Bürgerinitiative setzte einen klugen Offenen Brief auf, der Verständnis für den Ruf nach härteren Strafen zeigte, aber die Rechtsextremen verurteilte. ?Demokratie und freiheitlicher Rechtstaat sind und bleiben die Grundlage für den Schutz unserer Kinder und der gerechten Bestrafung von Menschen, die ihnen Leid antun.? Alle Stadtratsparteien unterschrieben. An diesem Montag wurde auf dem zentralen Augustusplatz eine Bühne aufgebaut, Bands spielten, der Oberbürgermeister sprach und ein Professor von der Universität. Die Antifa demonstrierte unter dem Motto ?Nazis sind keine Kinderfreunde ? Nazis sind Menschenfeinde?. Vor allem aber hatte die Polizei die Anwohner draußen in Reudnitz überredet, diese Woche nicht zu demonstrieren. Zwar meldeten die Rechtsextremen flugs eine eigene Kundgebung an ? aber sie hatten ihren Resonanzboden verloren.
Kinderschutz ohne Nazis
Zwei Stunden vor der Nazi-Demo stehen sechzehn Frauen und Männer in einem kleinen Kreis vor der früheren Schule des Opfers. Sie halten eine Schweigeminute, auf ihren weißen T-Shirts steht ?Kinderschutzgruppe?, die haben sie am Samstag gegründet. Ein bulliger Mann, gelernter Koch, der gerade eine Umschulung zum Wachschützer absolviert, ist ihr Pressesprecher. Keiner von ihnen war vorher je politisch aktiv, nie haben sie für irgendwas Unterschriften gesammelt. Aber jetzt sind sie wütend, jetzt möchten sie etwas tun ? ?für die Kinder?. Eine Videoüberwachung von Spielplätzen und Schulen fordern sie und für Sexualmörder schon nach der ersten Tat Sicherungsverwahrung. Sie wollen ein Büro aufmachen und Begleitschutz für Kinder organisieren. Die Todesstrafe fordern sie nicht, ?da steht das Grundgesetz gegen?, sagt ihr Sprecher. Die Nazis, sagt ihre Vorsitzende, fänden sie alle ?beschissen?. Dann gehen sie still in die nahe gelegene Kirche, weg von der NPD-Demo, die ein paar Straßen weiter beginnt.
Nur wenige Anwohner kommen dorthin, und wer sich durch die Polizeisperren getraut hat, der schüttelt den Kopf über die Propagandareden vom ?gerechten Volksstaat?. Die Neonazis sprechen nicht mehr zur Bevölkerung, nur noch zu sich selbst. Und auch dies entgleist am Ende, als Hans Tschirner, der Christ, auftritt. Nach einigen Minuten allgemeiner Verblüffung fällt ihm dann doch ein Kamerad ins Wort. Sage nicht die Bibel ?Auge um Auge, Zahn um Zahn?? Ja, antwortet der ältere Herr ruhig und leicht entrückt, aber nur im Alten Testament ? danach kam doch Jesus und sein ?Liebe Deinen Nächsten!?. Nein, brüllt nun ein Nazi, Kindermörder gehörten ?eingeschläfert wie tollwütige Hunde?. Der Versammlungsleiter beendet die peinliche Situation mit einem ?Wir danken für den Redebeitrag?. Dann schiebt
die Polizei die Rechtsextremen zum nächsten S-Bahnhof.
Sie werden wiederkommen, spätestens in der nächsten Stadt beim nächsten ermordeten oder missbrauchten Kind.