“Hallo ich bin auch ein Roma-Kind, aber ist stehle nicht, ich frage immer vorher, bevor ich was nehme“, so stellte sich am Donnerstag ein junges Romni-Mädchen im Grundschulalter anderen Anwesenden bei einer Veranstaltung in Berlin vor. Wie kommt sie auf diese Idee? Sie hat zuvor den Kinderfilm “Nellys Abenteuer” gesehen – und dabei den Eindruck gewonnen, dass so eine Differenzierung nötig ist.
In diesem Kinderfilm geht es um das deutsche blonde Wohlstands-Teenie-Mädchen Nelly, die mit ihren Eltern nach Rumänien reist. Hier wird sie von kriminellen Roms entführt und in ein unterzivilisiertes Roma-Dorf in den Bergen verschleppt. Letztendlich helfen ihr zwei Roma-Teenies bei der Flucht und Nelly wird wieder mit ihren sie liebenden Eltern vereint.
Abgesehen davon, dass der Film von einer künstlerischen Perspektive nicht besonders gut ist, so ein Vertreter der Berlinale, strotzt er nur so vor rassistischer und antiziganistischer Klischees: Die Roma werden hier ausschließlich als kriminelle Outlaws dargestellt, die nicht so zivilisiert sind wie die deutsche Protagonistin. Welche Auswirkungen das auf die Mehrheitsgesellschaft, auf Betroffene und auf Kinder (siehe Eingangszitat) hat, darüber wurde in Berlin diskutiert.
Ein deutsches Wohlstandskind besänftigt wilde Roma-Taschendiebe indem sie Querflöte spielt
Am Donnerstag, den 14.09.2017, lud der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma daher zu einem Fachgespräch ein. Anlass war, dass der mit über 900.000 Euro staatlich geförderte Kinderfilm, der im vergangenen Jahr in den deutschen Kinos lief, in diesem Herbst im SWR und im Kinderkanal der ARD und des ZDF ausgestrahlt werden soll. Der Vorsitzende des Zentralrats, Romani Rose, bedauerte, dass kein Vertreter der Filmförderung, trotz eines vorausgegangenen Gespräches anwesend war.
Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sieht nach dem Fachgespräch seine Kritik am Film wie an der Filmförderung in Deutschland weitgehend bestätigt. Quelle: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Mit scharfen Worten bemängelte Rose, dass es in der deutschen Gesellschaft ein unzureichendes Problembewusstsein über Antiziganismus gebe. Schließlich wird der Film nicht in einen luftleeren Raum gesendet. Er steht in einer 500 Jahre alten Tradition der Reproduktion eines negativen Bildes von Sinti und Roma.
Fortdauernde Legende: Roma entführen blonde Kinder
Zum Beispiel, als die blonde Nelly vom Roma-Boss (füllig, fettige Haare, Goldzähne und Hut) entführt wird: Das Bild der Kinder stehlenden Sinti und Roma taucht bereits im 17. Jahrhundert in der Literatur auf. In der Erzählung wächst ein entführtes blondes Mädchen unter dunkelhäutigen Roma auf. Während alle um sie herum unehelichen Sex haben, schafft die Entführte es, sich ihre Jungfräulichkeit zu bewahren –auch diese Erzählung wird in „Nellys Abenteuer“ aufgegriffen. Professor Dr. Urs Heftrich von der Universität Heidelberg meint, dass der Kinderfilm damit – zwar nur im Modus der Anspielung – eine gefährliche Grenze überschreitet.
Professor Heftrich: “Wir haben es hier mit rassistischen Archetypen zu tun“
Bis in die 1960er Jahre hinein haben Eltern ihre Kinder mit Hilfe dieser Entführungs-Mär erzogen, “wenn du nicht brav bist, holen dich die Zigeuner“. Die Erzählung ist noch heute Teil des kollektiven Gedächtnisses unserer Gesellschaft, wie wir an der unreflektierten Reproduktion in „Nellys Abenteuer“ sehen.
Pavel Brunßen:“Hängen bleibt das Bild von den kriminellen, unzivilisierten, disziplinlosen und triebgesteuerten Roma, die keine Moral kennen. Vor diesem Hintergrund ist es als besonders kritisch zu bewerten, dass der Film im Fernseh- oder Kinoprogramm aufgenommen wird und als Bildungsmaterial für Kinder und Jugendliche verwendet werden soll.“ Quelle: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
Pavel Brunßen von der Technischen Universität Berlin stellt in seinem Gutachten zum Film fest, dass “Nellys Abenteuer“ den Blick der Mehrheitsgesellschaft auf Roma darstellt, nämlich, dass sie keiner “normalen Arbeit nachgehen, sondern kriminell sind“. Professor Heftrich meint, “Nellys Abenteuer“ diene dazu, dass sich der Deutsche im Verhältnis zu den kriminellen und unterzivilisierten Roma erhaben fühlen könne.
Die Verantwortlichen erkennen offenbar das Problem nicht
Keiner der Anwesenden unterstellt den Filmschaffenden eine böse Absicht. Gerade deswegen ist das Endprodukt des Filmes besonders erschreckend. Im Vorfeld dieses Fachgesprächs suchte der Zentralrat das Gespräch mit den Verantwortlichen des Films. Diese seien sich in keiner Weise einer Schuld bewusst, offenbar erkennen sie nicht mal die rassistischen Stereotype die sie hier verbreiten. Markus End von der Gesellschaft für Antiziganismusforschung spricht von einem Kompetenzdefizit und einem fehlenden Bewusstsein dieses strukturellen Rassismus. In einer Studie der Universität Leipzig von 2016 sagten 49,6 Prozent der Befragten, dass Sinti und Roma aus den Innenstädten verbannt werden sollten. 2014 waren 47,1 Prozent dieser Meinung, denn Sinti und Roma haftet das Bild des kriminell-seins an.
Logischerweise trägt das Verbreiten von antiziganistischen Stereotypen nicht zu deren Abbau bei. Wie das Beispiel “Nelly Abenteuer“ zeigt, werden sie weiterhin unreflektiert verbreitet. Hier besteht ein enormer Nachholbedarf in Sachen Reflektion und Aufarbeitung, wie sie auch nach 1945 bezüglich antisemitischer Stereotype stattgefunden haben.
Wie geeignet ist ein rassistischer Film für Kinder?
Überaus problematisch ist es, dass es sich bei “Nelly Abenteuer“ um einen Kinderfilm handelt. Ob man Kindern diesen Film zumuten kann, wurde unter den Anwesenden des Fachgesprächs durchaus kontrovers diskutiert. Einige sind der Meinung, dass Kinder sehr wohl in der Lage seien zu differenzieren – doch warum sollen wir als Gesellschaft Rassismus im Gewand der künstlerischen Fiktion überhaupt akzeptieren? Das Argument, sich hier auf die Kunstfreiheit fiktiver Filme zu berufen, greift zu kurz, stellt Professor Heftrich fest. Denn sonst wäre jede Form von ideologischer Propaganda legitim, solange sie nur im unverbindlichen Gewand der Fiktion daher käme.
Romani Rose Quelle: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
“Nellys Abenteuer” ist kein Film für Kinder
“Es ist im Grunde unvorstellbar, dass in Deutschland ein Film mit einem derart antiziganistischen Inhalt erst mit Steuergeldern subventioniert wird und dann im Kinderprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ausgestrahlt wird“, erklärte Romani Rose. Der Zentralrat der Sinti und Roma fordert daher, dass dieser Film nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wird. Angesichts eines derart rassistischen Films ist dieses Anliegen noch sehr kurz gegriffen.