Was heißt es, sich pädagogisch mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auseinanderzusetzen? Wie kann eine solche Arbeit in der in der Praxis aussehen? Und wie kann geschlechterreflektierend pädagogisch mit Abwertungen und Ausgrenzungen umgegangen werden?
Die Publikation stellt Ergebnisse einer gemeinsamen Praxisforschung der Amadeu Antonio Stiftung und der Alice Salomon Hochschule vor. Wir haben unterschiedliche Arbeitsfelder der Jugend- und Bildungsarbeit, in Mädchen*arbeit, Jungen*projekte und koedukative Angebote untersucht. Die Ergebnisse und Erfahrungen unserer Analyse bieten Ansatzpunkte für Strategien und zeigen Handlungsmöglichkeiten auf.
Es geht dabei um Fragen wie: Wo und wie werden Mädchen und Jungen diskriminert, und wo und wie diskriminieren sie selbst? Und wie kann pädagogische Arbeit damit umgehen?
Ein Auszug:
Mädchenarbeit – Ganz normale Mädchen*
Grundsätzlich hatten wir in diesem Teil der Praxisforschung die Wahrnehmung, dass es sich bei den von uns interviewten Mädchen* um ganz »normale Mädchen*« handelte, die auf unterschiedliche Art und Weise sehr viele der vorhandenen, uns umgebenden gesellschaftlichen Diskurse widerspiegeln. So argumentierten alle von uns befragten Mädchen* entlang ökonomisch ausgerichteter Diskurse der »selfmade woman« – z.B.: »dann besorge ich mir einfach eine Wohnung«. Wir haben dabei festgestellt, dass die Mädchen* Erfahrungen von Diskriminierung und Abwertung stark als individuelles Scheitern oder Versagen erleben – und dass sie die Anforderungen »du kannst es schaffen, wenn du dich nur genug anstrengst« auch auf andere übertragen. Zum Ausdruck kommt hier der Wunsch, kein Opfer zu sein, zu bleiben oder zu werden. Strukturelle Bedingungen und Benachteiligungen werden so aber immer wieder ausgeblendet und gesellschaftliche und politische Verantwortung wird individualisiert. Zugleich erscheint es schwer, aber möglich, durch die Thematisierung von gemeinsamen Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit Solidarität zu erzeugen und auf-zuzeigen, dass (auch) gesamtgesellschaftliche, strukturelle Ursachen für Zurücksetzungserfahrungen und Erfahrungen des Scheiterns verantwortlich sind.
Mädchen: Rollenverständnisse und Geschlechterbilder
Nach Einschätzung der Fachkräfte wachsen die Mädchen* der von uns beforschten Einrichtungen und Projekte in Lebenslagen auf, die zweigeschlechtlich konstruiert und sexistisch sind. Diese sexistischen familiären Strukturen werden zum Teil intergenerativ erlebt, geschlechtliche Anforderungen werden fest eingeschrieben und habitualisiert. Das zeigt sich insbesondere in der häuslichen Erziehung und Übernahme von Haushaltstätigkeiten sowie in der Übernahme von Diensten für Männer. In Anforderungen nach Schönheit und Verantwortlichkeit für Haushalt und jüngere Geschwister erleben Mädchen* eine Doppelbelastung, an der sie immer wieder scheitern können. Weiblichkeitserwartungen werden stark an eine Mutterrolle geknüpft, zum Teil sind die Mädchen für die Sorge für jüngere Geschwister bereits allein verantwortlich. Diese Einschätzung entspricht dem Fachdiskurs: Auch wird darauf verwiesen, dass Mädchen* heutzutage in Teilen wiedersprechenden Erwartungen und Anforderungen entsprechen müssen, um als »richtiges Mädchen« wahrgenommen zu werden. Demgegenüber werden Väter häufig als abwesend beschrieben. Erfahrungen von Geborgenheit mit Vätern und allgemeiner Männern werden wenig gemacht. Väter erscheinen oft in hyper-maskulinen Rollen und Inszenierungen. Männer werden als stärkeres Geschlecht wahrgenommen und teilweise als Gefahr erlebt.
In Partnerschaftsvorstellungen wird die Übernahme von Normvorstellungen deutlich. Die von uns befragten Mädchen* haben häufig Abhängigkeitsverhältnisse und Minderwertigkeit verinnerlicht. Es gibt mehr oder weniger klare Erwartungen an (zukünftige heterosexuelle) Partner. Die Mädchen* sehnen sich nach verlässlichen Beziehungen. Daraus ergibt sich eine Attraktivität für bestimmte maskuline Männlichkeiten mit den Attributen »stark«, »verbindlich« und »aufgehoben«. Partnerschaftsvorstellungen werden damit in einer stereotypen und hierarchischen Struktur gedacht. An Jungen*/Männer* knüpft sich zum Beispiel die Erwartung, an männlicher Macht zu partizipieren, um etwas bewirken zu können. Sexualität und Körperlichkeit erscheinen in der Beziehung zu Männern und männlichen Jugendlichen als höchst ambivalente Ressourcen: So sind sie Möglichkeit der Selbstermächtigung und Anerkennung, gleichzeitig lauert immer die Gefahr, von anderen (Jungen* und Mädchen*) als »Schlampe« abgewertet zu werden. Die Hinwendung von einigen Mädchen* zu hypermaskulinen, »gefährlichen« Männern (»Gangsterstyle«) kann für die Suche nach Rollenerweiterungen stehen. Ein Dazugehören wird mit dem Einfügen in sexistische Strukturen erkauft. Das Aushalten sexistischer Abwertungen kann dann wiederum von den Mädchen als »krass« und besondere eigene Stärke empfunden werden. Auch ihre teilweise stark sexualisierte Sprache ist Ausdruck des Anknüpfens an (u.U. milieuspezifische) sexistische und homophobe Ausgrenzungsdiskurse/-praxen in ihrer Lebenswelt und kennzeichnet damit einen Moment des »Dazugehören-wollens« zu einer (sexistischen) Jugend-kultur/Alltagskultur. Ungeachtet dessen nehmen Mädchen* sexistische Strukturen und Benachteiligungen wahr: »Wir dürfen weniger als die Jungen.« Viele der befragten Mädchen* unterliegen Deprivationserfahrun-gen und erzählen – nach den Berichten der Fachkräfte – von fehlender Wertschätzung (in den Familien, in der Schule, von Jungen*).
Sexismus: Mädchen* und Moral
Eine häufig benannte Diskriminierung war die sexistische Abwertung anderer Mädchen* und Frauen*, die nicht den spezifischen Moralvorstellungen entsprechen – der sogenannte »Schlampendiskurs«. Dabei werden Mädchen* und Frauen* an ihrem (ver-meintlichen) sexuellen (»Fehl«-)Verhalten gemessen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Möller et al. (2016): »Auf abweichende bzw. konkurrierende Modelle von Weiblichkeit bezogene Formen der Ablehnung sind bezüglich zweier, sich überschneidender Komplexe zu identifizieren: Zum einen finden sich ablehnende Haltungen gegenüber der gender-›highperformance‹ von ›Tussis‹, bei denen ein extrovertiertes Auftreten und Erscheinungsbild sowie eine damit assoziierte Arroganz und Überheblichkeit im Mittelpunkt stehen; zum anderen erfolgt die Zurückweisung eines in der Figur der ›Schlampe‹ personifizierten freizügigen Lebensstils, der als kategoriale Abweichung von einer normativ angemessenen weiblichen gender-performance gilt« (Möller 2016: 539). Die Unterstellung eines »freizügigen« Lebensstils verdeutlicht, dass nach wie vor Mädchen* und Frauen* entlang der Kategorein »moralisch«/»un-moralisch« be- und abgewertet werden. Das geht einher mit einer Sexualisierung von Mädchen* und Frauen* und gleichzeitig mit einer Verurteilung von Mädchen*, die sich »zu sexy« inszenieren und verhalten. Komplementär ergänzt wird das durch eine männliche Perspektive sexistischer Objektivierung und/oder patriarchaler Kontrolle bzw. durch Kontrollfantasien. Deutlich wird: Es handelt sich um einen sehr schmalen Grat, auf dem sich die Mädchen* bewegen. »Sexy-Sein« ist zwar erstrebenswert für Mädchen*, sie dürfen jedoch keinesfalls »zu sexy« sein. Sonst laufen sie Gefahr, abgestempelt und moralisch abgewertet zu werden und sie werden ausgegrenzt (sowohl von Jungen* als auch von Mädchen*). Daher müssen Mädchen* diese Zuschreibung vermeiden. Es sind Mädchen*, die als Hüterinnen der Moral auftreten und diese teilweise vehement von anderen einfordern. Das ermöglicht ihnen die Aufwertung gegenüber anderen Mädchen*, die sich scheinbar gegen die Moralvorstellungen wehren und damit auch ihren Handlungsspielraum erweitern. Tugendhaftigkeit erscheint als »weibliche« Ressource. Norm- und Moralvorstellungen funktionieren aber auch als Schutz vor eigenen weitergehenden Vorstellungen – also als Selbstdisziplinierung und Orientierungsrahmen.
M2: Aber zum Beispiel wenn sie so richtig bitchig und so ist, dann ist die für mich auch keine Moslem. Es kommt halt auf den Charakter an.
M1: Meinst du diese Facebook-Moslems?
M2: Die zum Beispiel Kopftuch haben, die könnte ich so totschlagen. Sei mal kurz leise! Die trägt Kopftuch und raucht und checkt sich einfach so mit einem Jungen. Und dann denke ich so, was geht mit der ab? Wie sehr hasse ich das.
I: Und was ist daran, was dich nervt, das Kopftuch oder die Kombination?
M2: Dann soll sie kein Kopftuch tragen! Okay, ich bin auch Moslem, aber sie trägt Kopftuch, dann soll die so etwas nicht tragen. Das nützt ja auch nichts.
M4: Ja, das stimmt.I: Also dass sie vorgibt, was zu sein, was sie nicht ist?
M2: Sie kann ja Moslem sein, sie soll aber kein Kopftuch tragen. (M1)
In den Augen des Mädchens wird eine gültige Vereinbarung unterlaufen. Mädchen*, die traditionelle Lebensweisen leben, genießen Achtung. Mädchen*, die das unterlaufen, partizipieren in unterschiedlichen Lebensweisen. Sie streichen gewissermaßen Freiheiten ein, ohne Abwertungen in Kauf zu nehmen. Das Mädchen* führt dafür religiös begründete Moralvorstellungen an. Zuwiderhandlungen gegen die gültige Vereinbarung werden sprachlich sehr gewaltvoll abgelehnt. Zwar sind Mädchen* mit Kopftuch okay und Mädchen* ohne Kopftuch sind auch okay: Beide Rollen sind aber mit klaren Erwartungen verbunden und es wird eine Entscheidung für eine Rolle verlangt. Auch wenn das Mädchen religiöse Motive anführt, liegt der Trennung in »gute« und »schlechte« Frauen auch eine bürgerliche, patriarchale Doppelstruktur zugrunde, die mit der Einführung des Konzeptes der bürgerlichen Familie als zentrales Leitmotiv gesellschaftlich wirkungsmächtig geworden ist.
(…)
Jungenarbeit: Jungen* und Abwertung
In den befragten Angeboten dominiert das Ziel, männliche Sozialisation und ihre Folgen kritisch zu reflektieren und zu begleiten. Jungen* sollen bei Pro-blemen unterstützt werden und insbesondere enge, konflikthafte Männlich-keitsvorstellungen und damit Handlungsspielräume erweitert werden. Die Grenzsetzung gegenüber (hetero-)sexistischem Verhalten, wurde weniger benannt. Vielmehr wird die bewusste Bearbeitung von Sexismen, Homofeindlichkeit und anderen Ungleichwertigkeitsvorstellungen in den Angeboten sehr unterschiedlich vorgenommen.
»Richtiger« Junge* sein: Homofeindlichkeit und Sexismus
Für Jungen* besteht nach wie vor die gesellschaftliche Anforderung, souverän und cool zu sein, um als »richtiger« Junge bzw. Mann anerkannt zu werden. Jungen* müssen sich in der Peergroup am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientieren und diese darstellen, um als Junge* Anerkennung zu erhalten. Dazu gehören häufig Rückgriffe auf stereotype, unflexible Vorstellungen von Männlichkeit, z.B. eine physisch starke bzw. muskulöse, sportliche, selbstbewusste, dominante, coole, heterosexuelle und (beruflich) erfolgreiche Selbstpräsentation. Dafür müssen alle Zeichen, die auf Schwächen hinweisen, verworfen bzw. versteckt werden. Solche Empfindungen und Verhaltensweisen werden Mädchen*, Frauen* und/oder Schwulen (»Nicht-Männern«) zugeschrieben.
Zugleich versagen sich Jungen* Erfahrungen und Begehren, die als unmännlich gelesen werden könnten. Eine solch konstruierte Männlichkeit dient als wichtige Ressource, auf die bei Verunsicherung und Uneindeutigkeiten zurückgegriffen wird. Deutlich wird daran, dass dies neben Homofeindlichkeit auch Trans*Inter*feindliche Abwertungen nahelegt. So sind Darstellungen und Inszenierungen als »männlich« nach den Prinzipien von Leistung, Konkurrenz und Überlegenheit handlungs- und themenleitend für die Jungen* im Prozess der Aneignung von Werten und Normen einer hegemonialen Männlichkeit – und diese sind immer unmittelbar mit Abwertungen anderer verbunden. Jungen*gruppen werden durch konkurrenzhafte Aushandlungen konstruiert und sind von Macht/Hierarchie gekennzeichnet. Die Konkurrenz wird dabei wesentlich über eine Inszenierung von Männlichkeit und Entmännlichung der anderen ausgelebt. Die abwertende Bezeichnung »schwul« funktioniert dabei disziplinierend und initiiert ein »männliches« Verhalten. Diese zum Teil spielerischen Einübungen finden sich auch in unseren Interviews:
J3: Wenn jetzt ein Freund sagt, du Schwanz, Schwuchtel oder irgend so was, dann nehmen wir’s halt nicht so ernst, wie wenn es irgendein äh anderer sagen würde so, einer, den wir eigentlich kennen, aber mit dem wir halt nicht so eng äh befreundet sind wie die anderen.
Das Beispiel deckt sich mit den Beschreibungen von Scholz (2013: 131): »Unter Freunden sei es durchaus üblich, sich auch mal als ›schwul‹ zu bezeichnen (…). Problematischer ist der Ausdruck ›schwul‹, wenn er von Fremden kommt, dann wird er als eine ›Beleidigung‹ wahrgenommen.« In solche Situationen werden Männlichkeitsabsprachen und -anerkennungen über die Abwertung des als »schwul« benannten, aber ansonsten relativ unbestimmten »Unmännlichen« eingeübt. Auf die Abwehr von Homosexualität und damit eine heterosexuelle Selbstpräsentation wird sich auch in dieser befragten Jungen*gruppe verständigt:
J6: Also Schwuchtel- jeder Schwule. Ich bin schwulenfeindlich also. Wenn ich einen sehe, werd ich aggressiv. (Gelächter) (…)
J2: War bei mir- bei- also es gibt manche Schwuchteln, die halt übertreiben, so wie die’s halt MACHEN, es gibt manche Schwuchteln, die übertreiben, finde ich, aber manche so, die NICHT so übertreiben. Die find ich noch so GEHT. (I: Ja) Aber es gibt halt die Leute, die so übertreiben halt so einfach, so Hurensöhne.
J4: Meine Meinung ist: Jeder kann leben, wie er WILL. Und äh ich bin nicht schwulenfeindlich. Aber die sollen mich einfach nicht immer anmachen oder so. (J4)
Auch wenn sich in einem anderen Interview jüngere Jungen unbefangen über die Qualität des Jungenangebots austauschen, wissen sie um das Gebot der Heterosexualität in der Jungengruppe:
J4: Wir können hier zum Beispiel auch nackt rumrennen und buah, ich und (Gekreische »Iiiiih« etc.). Wenn man (ausfällt?). Brennball zum Beispiel, da kann man einfach nackt rumrennen.
J3: Iiiih sag mal, bist du schwul.
Möller et al. (2016: 495) führen aus, dass »die verbalen Attacken (…) offensichtlich die sozial kontrollierende Funktion [erfüllen], das vorherrschende heterosexuelle Selbstverständnis demonstrativ zu verdeutlichen und zu bestätigen«. Die Ablehnung von Homosexualität richtet sich vor allem gegen Schwule. Lesbische Lebensweisen und deren Abwertung spielten auch in unseren Interviews weniger und eine andere Rolle.
I: Wie ist es eigentlich mit- mit lesbischen Mädchen oder Frauen? Spielt das ne Rolle?
J1: Nein, Nutten.
J2: Geil, wallah.
J3: wallah,
J2: Ich finde, das ist genau das Gleiche wie äh Schwule.
I: Aber da gibt’s- gibt’s auch’n Schimpfwort?
J1: Nein, Schlampen-
J2: Lesbige. (J4)
Lesbische Lebensweisen stellen keine Gefahr für männliche Identität dar, sie taugen vielmehr zur Bebilderung objektifizierender und voyeuristischer Fantasien. Es existiert kein Wissen über Diskriminierung solcher Lebensweisen. Einen Grund sehen Möller et al. (2016: 483 ff.) darin, »dass männliche Homosexualität insgesamt stärker als Abweichung von der heteronormativen Matrix wahrgenommen wird und die darin eingelagerten männlichen Geschlechtsidentitäten in besonderem Maße bedroht«. Die Abwertung von Homosexualität ist eng mit einer Weiblichkeitsabwehr verbunden. Die Absprache von Männlichkeit und damit eine Abwertung erfolgt über Verweiblichung – und dafür reichen »lange Haare«.
J3: Er hat so lange Haare. Da verwechseln manchmal die Lehrer so mit’m Mädchen. Man kann ihn auch damit schön ärgern
J1: hatte lange Haare. Und da wurde er auch immer als Mädchen beleidigt
An solchen Passagen wird deutlich, dass ein Vermeiden von Verhalten oder Äußerem, was eine Absprache von Männlichkeit hervorrufen könnte, bzw. ein Wehren dagegen, vermutlich alle Jungen* kennen. »Schwulsein« bzw. »als Mädchen« gelten sind zentrale Abwertungs- und Abgrenzungsmerkmale in Jungen*gruppen. Calmbach und Debus (2013: 79, 101) verweisen darauf, dass die meisten Jungen* den Druck und die Gewalt nicht thematisieren, die mit der Konstruktion von Männlichkeit einhergehen.
Homofeindliche und sexistische Sprüche werden auch dafür genutzt, sich gegenüber Verletzungen und Angriffen zu wehren. Die Abwertung von Homosexualität und Weiblichkeit ist der Männlichkeitsinszenierung immanent und dient zur Abwehr des »Opferwerdens«. Der hohe Stellenwert von Männlichkeit und die Wirksamkeit patriarchaler Geschlechterverhältnisse, die Jungen* erfahren, sich aneignen und die die Grundlage für die (hetero-)sexistischen Abwertungen darstellen, zeigt sich darin, dass gerade diese Abwertungen so alltäglich sind. Gleichzeitig können weitere Facetten von Abwertungen zur eigenen Männlichkeitsdarstellung dienen. Vor dem Hintergrund der Wirkungsweise Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als Syndrom wird hier die Notwendigkeit der Bearbeitung solcher (Alltags-)Einstellungen deutlich. Die Syndromfacetten im Konzept GMF können über den gemeinsamen Kern von Ungleichwertigkeits- und Ungleichbehandlungsvorstellungen untereinander Be- und Verstärkungsfunktion ausüben sowie auf andere Facetten verschoben werden. Zugespitzt formuliert: Abwertungen von/unter Jungen* treffen auf eine »männliche« Logik – und Männlichkeit kann mit der Abwertung anderer inszeniert werden. GMF ist somit stark mit Männlichkeit, Abwertungen, immer mit Inszenierung von Männlichkeit, mit Männlichkeitsbeweisen und -absprachen verbunden. Abwertungen erfolgen auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit männlichen Hierarchien, z.B. älteren, sportlicheren oder vermeintlich »cooleren« Jungen*. Das zeigt den hohen Stellenwert von Ablehnungshaltungen »im Kontext der hegemonialen Geschlechterordnung« und damit die Herausforderungen für die pädagogische Praxis.
»Andere« Jungen*: Rassistische Abwertungen
Ebenso begründet sich Rassismus (bzw. natio-ethnokulturelle Abwertungen) nicht allein auf individuellen Ablehnungen, sondern stellt ein zentrales gesellschaftliches Dominanzverhältnis dar. Rassismus muss als struktureller und institutioneller Rassismus mit »eingeschliffene[n] Gewohnheiten, etablierte[n] Wertvorstellungen und bewährte[n] Handlungsmaximen« begriffen werden. Rassistische »Gewissheiten« in den Lebenswelten bestimmen die Perspektive der Jungen*, entsprechende Stereotype werden alltäglich geäußert. Die häufig rassistisch geführten Debatten um die sogenannte Flüchtlingskrise in den Jahren 2015ff. haben das noch einmal befeuert. Eine Abwertung geflüchteter Menschen zeigt sich sowohl durch die Einforderung von Etabliertenvorrechten, auch durch früher Geflüchtete bzw. Migrationserfahrene, als auch als durch »unverhohlenen Rassismus«. Mehrere Jungen* in den von uns befragten Einrichtungen nahmen an Veranstaltungen von PEGIDA und ähnlichen Gruppierungen teil. Positionierungen folgen dabei einem Schema, das Debus für den Diskurs um genderbezogene Bildungs(miß-)erfolge nachzeichnet: Entlang einer Genderkategorie und einer Herkunfts- und Kulturkategorie werden Täter-Opfer-Verhältnisse sowie Ressourcenverteilungen verkehrt und damit tatsächlich wirksame Hierarchien und Machtverhältnisse verschleiert, um in der Konsequenz weiße männliche Opfer und migrantisch-muslimische Täter zu konstruieren. Diesem folgen auch aktuelle Inszenierungen und Anrufungen männlicher Verteidigungs-bereitschaft – potenziert nach den Ereignissen von Köln. Hier finden sich also vergeschlechtlichte Bezüge und es taucht die Figur des (unter Umständen) »übergriffigen fremden« Mannes auf, zumindest solcher Jungen mit einer »archaischen Männlichkeitsperformance«.
J3: Also wegen Flüchtlinge so, die Flüchtlinge, wenn die halt noch in die Länder sind, dann sind die halt so ANDERS als hier- Wenn die hier sind, dann sind sie so dreckig, so – so sag ich mal. (…)
J4: Die werden – also die verändern sich, wenn die dann äh hierher kommen, weil äh sie sind ja auch Araber. Und sie kennen so was halt nicht, dass eine Frau mit T-Shirt rumläuft oder so- (…)
J4: Die sind sehr frech./
P6: Sehr sehr frech. (…)
J4: Ja, SEHR frech. Ich hatte schon mal einen Kampf- (…) Die ganze Schule ist auf ihn losgegangen. (…) Ganze Schule. Viele hatten ja was gegen Flüchtlinge, dass die auf – dieser Schule sind, weil die respektlos und so sind.
J3: Ich hab auch was gegen Flüchtlinge.(…)
J4: Also die (…) sind sehr unverschämt. Zum Beispiel, die halten sich nicht an den Regeln, wenn man zum Beispiel (Frauen nicht immer (…) anbaggert (…) Die sind respektlos, die benehmen sich so anderen gegenüber sehr respektlos.
J1: Ich kann das aber nicht gut beschreiben. A…, der läuft SO über den Schul-hof, als wäre er’n Macker, ne.
J3: Macht die Mädchen an. (J3)
In den rassistischen Abwertungen in den Interviews finden sich reproduzierte, medial bekannte Narrative über Kriminalität ebenso wie konkrete Erfahrungen aus der Lebenswelt. Von den Fachkräften wahrgenommene oder uns mitgeteilte eigene Benachteiligungserfahrungen (Klassismuserfahrungen) der Jungen*, z.B. mit Hartz IV, sind mit diesen verwoben:
J2: Was ich auch nicht verstehe, äh, die- ich sage jetzt mal Ausländer, die kommen zu uns, kriegen einen Haufen Geld und so, Wohnung und, ne, die haben immer- ich sehe die fast immer mit IPhones rumrennen,
J1: und wenn dann ein Dingelchen fehlt, dann dürfen sie’s zurückgeben und kriegen dafür was Besseres, wenn denen was nicht gefällt.
J2: Und manche Deutsche müssen auf der Straße leben.
J4: Braucht man einfach nur braun anmalen, kann man das gleich empfangen. (Lachen) (J1)
Weitere Themen in der Broschüre:
- Einführung
- Leerstelle Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Geschlecht
- Fragestellung und Perspektive unserer Arbeit
- Das »Konzept« GMF
- Arbeitsfeld Mädchen*arbeit
- Ergebnisse und Praxiseinblicke
- Ganz normale Mädchen*
- Sexismus: Mädchen* und Moral
- Abwertungen und Verhaltenserwartungen
- Antisemitismus
- Sozialpädagogische Schlussfolgerungen für die Arbeit mit Mädchen*
- Arbeitsfeld Jungen*arbeit
- Ergebnisse und Praxiseinblicke
- Jungen* und Abwertungen
- »Richtiger« Junge* sein: Homofeindlichkeit und Sexismus
- »Andere« Jungen*: Rassismus bzw. natio-ethnokulturelle Abwertungen
- Antisemitismus
- Sozialpädagogische Schlussfolgerungen für die Arbeit mit Jungen*
- Arbeitsfeld Koedukative Jugendarbeit
- Ergebnisse und Praxiseinblicke
- Geschlecht in der Koeduaktion und Sexismus
- Sozialpädagogischer Umgang mit Abwertungen
- Fazit: Anhaltspunkte einer geschlechterreflektierenden Arbeit gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Die Broschüre als PDF zum Download:
Mehr zur Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus:
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