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Neue Broschüre Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung

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Ausschnitt aus dem Titelbild der Broschüre "Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung". (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

Menschenverachtende Ideologien werden heute vor allem auch online verbreitet, als „Hate Speech“ – ein viel diskutiertes Phänomen. Häufig stehen dabei extrem rechte Szenen im Fokus – und das zu Recht. Doch mit wachsender Vielfalt und Diversität in Deutschland wird auch das Spektrum der unterschiedlichen Formen von Hass und Ungleichwertigkeitsideologien hier breiter, online wie offline. Es bleibt nicht aus, dass Hate Speech ebenfalls in Communities vorkommt, die selbst von Diskriminierung, Rassismus und Ausgrenzung betroffen sind.

Dabei werden nicht nur Konflikte und Ungleichwertigkeitsideologien aus den Herkunftsgesellschaften importiert. Vielfach entstehen zugleich neue Formen von Ausgrenzungsideologien, Antisemitismus und Verschwörungserzählungen, die sich zum Teil auch auf Denkweisen beziehen, die ihren Ursprung beispielsweise im deutschen Kolonialismus oder im Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus haben. In diesen Fällen könnte man von einem Re-Import sprechen. Dass Hate Speech auch von Menschen aus der Einwanderungsgesellschaft verbreitet wird, ist kein neues Phänomen oder eine überraschende Erkenntnis.

Neu ist jedoch die Dynamik, mit der Akteure*innen aus diesen Communities, professionellen Netzwerken und Trollfabriken handeln – sowie staatliche und nicht-staatliche Institutionen aus dem Ausland, die zum Teil gezielt mit Fake News, Desinformation und großen Datenbeständen arbeiten.

Neu sind ebenso die erhebliche Reichweite, die über das Rekrutieren und die Mobilisierung in Message Boards, Foren und sehr gut gemachten Vlogs erzielt wird, die Radikalisierung, die durch den Austausch und die Koordination über Messenger-Dienste, Chats und das Dark Social geschieht, sowie die Normalisierung von demokratiefeindlichen Inhalten über die Sozialen Netzwerke, Bots und Kommentare in Onlineforen.

Neu ist auch die Professionalität, mit der demokratiefeindliche Ideologen arbeiten. Sie reagieren nicht nur sehr schnell auf aktuelle Ereignisse, geben Rahmungen und Deutung vor, arbeiten mit einfachen und klaren Antworten, Feindbildern und Tipps für den Alltag, sondern sie befolgen zugleich Standards Sozialer Arbeit, indem sie an der Lebenssituation der Menschen und den Lebenswelten vor allem von Jugendlichen ansetzen, sich für sie interessie-ren und jederzeit ansprechbar sind. Im schlechtesten Sinne könnte man davon sprechen, dass sie eine Hasspartnerschaft aufbauen wollen. Es fehlt noch an Bewusstsein dafür, wie ausgefeilt diese Techniken sind, um insbesondere Heranwachsende in Deutschland ins Visier politischer Kampagnen zu nehmen.Wie damit umgegangen werden soll, beschäftigt die Gesetzgeber weltweit. Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz etwa, das unmittelbar vor unserer Untersuchung eingeführt wurde, verpflichtet Anbieter von Sozialen Netzwerken dazu, rechtswidrige Inhalte zu löschen – mit bislang mäßigem Erfolg. Die rechtsstaatliche Regulierung der digitalen Öffentlichkeit konnte mit der Entwicklung der Technik nicht Schritt halten. Hinzu kommt, dass es in Zivilgesellschaft, Pädagogik und Wissenschaft bisher zum Teil beschämend wenig Wissen und Praxis zu Online-Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus den verschiedenen Communities der Einwanderungsgesellschaft gibt. Insbesondere junge Menschen aus migrantischen Communities sehen sich einerseits mit vielfältigen, offenen Jugendkulturen und andererseits online wie offline mit viel Hass und Ausgrenzung konfrontiert.

Sie bewegen sich in verschiedensten Szenen, die innerhalb eines gesellschaftlichen Gefüges aus Mainstream, akzeptiertem Lifestyle sowie Rassismus der Mehrheitsgesellschaft auf der einen und streng religiösen oder sogar nationalistisch und islamistisch definierten Communities auf der anderen Seite changieren. Dazu kommen Abwertungen durch andere Communities und Differenzen innerhalb der eigenen Gruppe. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Szenen eine jeweils eigenständige Auseinandersetzung mit ihrer Herkunftsgesellschaft – häufig in Abgrenzung zur Eltern- oder Großelterngeneration, zu alteingesessenen migrantischen Verbänden und zur Mehrheitsgesellschaft der Herkunftsdeutschen. Viele radikale oder provokante Positionen sind nur zu verstehen, wenn gesamtgesellschaftliche Diskurse berücksichtigt werden. Die dahinter stehenden Ungleichwertigkeitsideologien und Verschwörungserzählungen sind zwar eng mit aktuellen politischen Diskursen und Konflikten verknüpft, beziehen sich aber zumeist auch direkt oder indirekt auf die (koloniale) Geschichte und Politik Deutschlands und Europas.

Auf der anderen Seite hat unsere Untersuchung gezeigt, wie auch staatliche Akteure*innen aus dem Ausland soziale Netzwerke wie Facebook nutzten, um Falschmeldungen und Propaganda zu verbreiten und insbesondere junge Menschen beispielsweise im Vorfeld von Wahlen zu beeinflussen. In der Politikwissenschaft werden Regime wie Russland mittlerweile als „digitale Diktaturen“ beschrieben, die in ihren nationalen Medienräumen repressiv gegen freie Medien vorgehen und in der Form eines „expansiven digitalen Autoritarismus“ die Errungenschaften freiheitlicher Demokratien gefährden.

In unserer Untersuchung haben wir uns auf die drei größten Gruppen konzentriert, die in der Diskussion über Hate Speech online bislang nicht ausreichend beleuchtet wurden, zu denen es in unseren Trainer*innen-Fortbildungen regelmäßig viele Anfragen gibt und die auch bei der Konzeption von demokratiefördernden Narrativen bislang vernachlässigt wurden: rechtsextreme Russlanddeutsche, Islamist*innen und deutsch-türkische Nationalist*innen. Der Fokus sollte dabei auf jungen Menschen und pädagogischen Interventionsmöglichkeiten liegen. Interessant war in diesem Kontext, dass die beobachteten demokratiefeindlichen Akteur*innen größtenteils auf Deutsch kommunizieren und das Material einfach öffentlich zugänglich war.

Ohne die Einzelergebnisse vorwegzunehmen, ist der Befund doch eindeutig, dass sich alle drei Gruppen in der Ablehnung und Diskreditierung des Modells einer offenen pluralen und demokratischen Gesellschaft einig sind und den Liberalismus, den „Westen“ und die Menschenrechte mit ihrer Idee der Gleichwertigkeit aller Menschen als gemeinsames Feindbild sehen. Die verzerrten negativen Bilder eines sich „im Niedergang befindlichen und moralisch verkommenen“, von „Juden beherrschten“/“von muslimischen Eroberern überrannten“, aber trotzdem aggressiven und israelverteidigenden Westens ähneln sich in ihrem Charakter und in ihrer Wirkungsabsicht: der Durchsetzung politischer Ziele, der Verunsicherung und der Herrschaftssicherung.

Darin gleichen sie den Bildern, die die extrem Rechten aller Couleur vom gegenwärtigen Zustand in Deutschland und Europa zeichnen. Hinzu kommt, dass die Angehörigen migrantischer Communities ebenso wie Mehrheitsdeutsche anfällig sind für rassistische Hetze, die sich vor allem gegen Flüchtlinge richtet. Ebenfalls anknüpfungsfähig an demokratiefeindliche Ideologien in der Einwanderungsgesellschaft sind sexistische Rollenzuweisungen für Frauen und Männer sowie Homofeindlichkeit.

Die Antwort auf die Breite und Vielfalt von Hate Speech in unserer transkulturellen Gesellschaft kann nur die Verteidigung einer pluralistischen und offenen Demokratie auf der Basis der eigenen Werte, freiheitlicher Pädagogik und Rechtsstaatlichkeit sein. Zugleich geht es vor allem in der Arbeit mit Heranwachsenden um Medienbildung, Informationskompetenz, das Erlernen von digitalem Sozialverhalten, die Stärkung der Handlungsfähigkeit und insbesondere bei jungen Menschen mit einer familiären Zuwanderungsgeschichte um Empowerment, sodass sie sich selbst verantwortlich fühlen und in der Lage sind, auf Hate Speech, Ausgrenzung und Rechtspopulismus zu reagieren.

Aufgabe der Zivilgesellschaft und Ziel der Publikation ist es, diese Erscheinungsformen nicht zu exotisieren, sondern die spezifischen Themen, Kommunikationsformen und Strategien demokratiefeindlicher Akteur*innen zu analysieren und Konzepte für die unterschiedlichen Zielgruppen zu entwickeln. Insbesondere die Bearbeitung verschiedener Erscheinungsformen von Nationalismus könnte dafür ein Beispiel sein. Keinesfalls dürfen diese Formen von Hate Speech jedoch externalisiert oder als „ausländisches Phänomen“ deklariert werden. Sie müssen als Teil der deutschen Gesellschaft verstanden und mit den gleichen Standards bearbeitet werden, wie dies bei Rechtsextremismus oder herkunftsdeutschem Antisemitismus und Rassismus geschehen sollte. Dazu kommen die Anerkennung angemessener Repräsentation von Communities, die Realisierung von Chancengleichheit und Teilhabe sowie die Thematisierung von Rassismuserfahrungen. Insbesondere in den migrantischen Communities müssen die demokratischen Akteur*innen und auch ihre Auseinandersetzungen innerhalb der Communities sichtbarer werden. Es gibt keine Alternative dazu, aufsuchende Soziale Arbeit nicht mehr nur offline zu betreiben, sondern sie auch online als digital streetwork, wie sie das Projekt debate// entwickelt hat, zu verstärken.
Wir danken dem Programm „Demokratie leben!“ des Bundesfamilienministeriums und der Freudenberg Stiftung für die großartige Unterstützung, die diese Pilotstudie ermöglichte.

Die Broschüre „Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung“ auf Belltower.News

(wird fortlaufend veröffentlicht)

  • Vorwort: Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung
  • Antidemokratische Narrative und Hate Speech in Jugendszenen der Einwanderungsgesellschaft
  • Islamismus
  • Türkischer Nationalismus
  • Russischsprachige Diaspora
  • Was daraus folgt + Literatur und weiterführende Materialien
Titelbild der Broschüre „Online-Lebenswelten als Orte der Radikalisierung“.

Die Broschüre zum Download (pdf):

https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2019/11/Online_Lebenswelten_web.pdf

 

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