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Neue Broschüre Verschwörungsglauben bei älteren Erwachsenen

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Ausschnitt aus dem Titelbild der Broschüre "Entschwörung mit Format. Neue Wege der Erwachsenenbildung".

Die neue Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung aus dem bundesweiten Modellprojekt Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung heißt „Entschwörung mit Format. Neue Wege der Erwachsenenbildung.“ – und versucht, diese Fragen zu beantwoten. Heute ein Auszug aus Teil 1: Warum sind ältere Menschen anfällig für Verschwörungsideologien?

„Eine Verschwörungserzählung ist eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen.“
Katharina Nocun und Pia Lamberty, Expertinnen für Verschwörungsideologie

Ältere Menschen: Besonders anfällig für Verschwörungsglauben?

Laut der von der Friedrich-Ebert-Stiftung publizierten Studie „Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/2021“ (Bonn 2021) hängen 22,9 Prozent der deutschen Bevölkerung verschwörungsideologischen Tendenzenan.  Neben Bildungsniveau, Geschlecht, bundeslandspezifischer Herkunft oder Religionszugehörigkeit hat die Autor:innen der Studie auch die Frage nach dem Zusammenhang von Alter und Verschwörungsaffinität bezüglich der Corona-Pandemie beschäftigt. Das Fazit lautet: „Auch in Bezug auf das Alter gibt es signifikante Unterschiede: Junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahren berichten die niedrigsten Zustimmungswerte (11,0 %). Menschen zwischen 31 und 60 (24,8 %) und über 61 Jahre (24,2 %) unterscheiden sich dagegen kaum in ihrer Wahrnehmung in Bezug auf angebliche Coronaverschwörungen und liegen damit deutlich über den jüngeren Befragten.“ Eine 2021 durchgeführte Befragung des verschwörungsideologischen „Querdenken“-Milieus in Baden-Württemberg ermittelte ein Durchschnittsalter von 47 Jahren, und auch der Thinktank d|part bestätigt diese Tendenz mit seiner Studie: Menschen über 35 Jahre haben eine höhere Affinität zu Corona-Verschwörungserzählungen als jüngere.

Es stellt sich also die Frage, warum gerade die Altersgruppe der (älteren) Erwachsenen besonders anfällig für Verschwörungserzählungen zu sein scheint. In der Regel wird hier auf das Zusammenspiel von Alter und dem Konsum von Fake News in den Social Media verwiesen. Die Studie „Desinformation in Deutschland“ bestätigt das Bild, dass besonders ältere Menschengefährdet sind, an Falschmeldungen zu glauben. Hier ist es aber wichtig, genau hinzuschauen. Denn nicht jede Fake News ist automatisch Teil einer Verschwörungserzählung, und mehr Medienkompetenz ist deshalb auch kein Allheilmittel gegen Verschwörungsideologien, weil das faktenbasierte „Debunking“ (zu Deutsch: Ent-larven) von Verschwörungsideologien zwar wichtig ist, um diese nicht unhinterfragt stehen zu lassen, jedoch Erfahrungswerte aus der Bildungsarbeit wie auch einschlägige Forschungsergebnisse darauf hinweisen, dass Verschwörungsideologien meist nicht durch eine bloße Falsifizierung der behaupteten Tatsachen beizukommen ist. Es reicht nicht, nur zu fragen, wie potenziell verschwörungsideologisches Material ältere Menschen erreicht. Stattdessen muss verstanden werden, warum Verschwörungsideologien überhaupt für ältere Menschen attraktiv werden können, warum sie also altersspezifisch an Verschwörungserzählungen glauben wollen.

Besondere Faktoren für Verschwörungsglauben bei älteren Erwachsenen

(Vermeintlich) Verlorene Geltungsmacht

Der Glaube an Verschwörungsideologien entsteht oft aus Gefühlen der Ohnmacht und Orientierungslosigkeit. Diese können zwar auch durch private Schicksalsschläge ausgelöst werden, die Forschung zeigt aber, dass das Gefühl fehlender gesellschaftlicher Anerkennung und entsprechender Gestaltungsfähigkeit als Bürgerin und Bürger zentralere Faktoren sind. Ein weit verbreiteter Glaube an Verschwörungsideologien ist also oft auch Ausdruck einer geschwächten Demokratie. Eine besondere Herausforderung, denn Verschwörungsideologien tragen wiederum dazu bei, die Demokratie weiter zu destabilisieren: Erfahrungen der Ohnmacht werden durch sie in destruktive Feindschaft gegen Pluralismus und gemeinsam auszuhandelnde Widersprüche verwandelt.

Der Einsatz für eine gerechte, transparente und partizipative Demokratie ist also immer auch der Einsatz gegen Verschwörungsideologien, weil er ihnen tendenziell die Grundlage entzieht. Neben dieser Bedeutung von realer gesellschaftlicher Machtlosigkeit ist es wichtig zu betonen, dass es immer auch um eine gefühlte Ohnmacht geht. Diese kann, muss aber nicht unbedingt mit einem realen Kontrollverlust einhergehen.

Ältere Erwachsene, zum Teil jüngere Erwachsene, entwickeln eine höhere Anspruchserwartung auf gesellschaftliche Geltung als zum Beispiel Kinder und Jugendliche. Sie stehen entweder voll im Leben oder können – im Rentenalter – auf ihre Leistungen zurückblicken. Menschen über 40, solange sie zumindest dem Mittelstand oder der Oberschicht angehören, sind außerdem rein statistisch finanziell und beruflich besser abgesichert als jüngere.

„Je älter eine Person ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jene einer vermögenden Gruppe angehört. Unter den Millionären ist die Altersgruppe über 65 Jahre am stärksten vertreten. Die größte Gruppe bei der unteren Vermögenshälfte bildet die Gruppe der 25- bis 49-Jährigen. Junge Erwachsene bis 25 Jahre besitzen häufig ein geringes Vermögen.
DGB Verteilungsbericht 2021

Das Selbstverständnis als (potenziell) langjährig aktives (und erfolgreiches) Mitglied der Gesellschaft kann deshalb die gefühlte Machtlosigkeit verstärken, weil eine größere Fallhöhe von Selbstverständnis und empfundener Wirklichkeit entsteht. Dies kann eine Erklärung dafür sein, warum zumindest in Südwestdeutschland „Querdenken“ vor allem als Bewegung der qualifizierten Mitte auftritt15 – ein Effekt, der sich angesichts eines schnellen gesellschaftlichen Wandels noch verstärken kann.

Verschwörungsideologische Abwehr von gesellschaftlichem Wandel

Moderne Gesellschaften befinden sich in einem beständigen Wandel – eine Tendenz, die sich gerade in den letzten Jahrzehnten noch einmal enorm beschleunigt hat. Verschwörungsideologien können Teil einer Abwehr und Reaktion der Überforderung von diesem Wandel sein. Die komplexen Modernisierungsprozesse der Gesellschaft werden sich dafür als bedrohlicher und bösartig geplanter Umbau von Politik, Kultur, Wirtschaft et cetera vorgestellt. Diese Dämonisierung von Wandel kann besonders für jene attraktiv sein, denen es (vermeintlich) früher besser ging. Ältere Erwachsene können genau hier sehr anfällig sein. Denn angesichts der Wirtschafts-, Umwelt- und Gesellschaftskrisen der letzten Jahrzehnte glauben viele Menschen nicht mehr daran, dass es jüngere Generationen einmal besser haben werden als man selbst.16 Diese reale und berechtigte Angst um den Verlust des eigenen Lebensstandards kann sich dabei vermischen mit der Ablehnung von gesellschaftlichen Demokratisierungs- und Öffnungsprozessen. Gerade für einstmals privilegierte Gruppen kann sich der Verlust alter Vorteile, der zu mehr Gerechtigkeit für zum Beispiel Frauen und Personen mit Migrationshintergrund führt, anfühlen wie das Einsetzen neuer Nachteile.

„Basierend auf einfachen Erklärungsansätzen, klar definierten Schuldigen und einem Weltbild, in dem es keine Zufälle gibt, bieten Verschwörungstheorien Halt in einer Welt, die dynamisch ist und sich (zu) schnell wandelt. Mit diesem Wandel einher geht für einige Gruppen der Verlust von Privilegien und das Gefühl, marginalisiert zu werden.“
Nele Weiher, Politikwissenschaftlerin

Besonders beim Thema Umweltschutz lässt sich zeigen, wie diese beiden Aspekte gemeinsam auftreten. Einerseits bedroht der Klimawandel real den etablierten Lebensstandard, andererseits basiert dieser Lebensstandard teilweise auf einem Modell des Raubbaus an der Natur, der im Sinne einer globalen und generationsübergreifenden Gerechtigkeit nicht mehr haltbar ist. Ältere Menschen können dazu neigen, sich mit diesem früheren Zustand zu identifizieren, weswegen Kritik und Ansprüche anderer sozusagen persönlich genommen werden können. Der altersspezifische Anspruch auf Gestaltungsfähigkeit kann sich dabei verdrehen in eine Art Trotzhaltung, die sowohl neues Wissen als auch die Notwendigkeit zur Veränderung ablehnt, weil man selbst vermeintlich schon damals das Richtige gedacht und gemacht hat.

Viele Verschwörungserzählungen arbeiten mit der Vorstellung einer positiv überhöhten, jedoch verlorenen Vergangenheit, die einer schädlichen Gegenwart weichen musste. Ein vermeintlich gutes, reines und ehrliches Altes wird in diesem Bild bedroht von einem verdorbenen und betrügerischen Neuen. Diese mythologisierte Vorstellung eines besseren Früher kann bei (älteren) Erwachsenen mit biografischen Erzählungen verknüpft werden. Diese Narrative können zwar zum Teil auf realen Erfahrungen beruhen, weit öfter bestehen sie jedoch aus einer Verklärung, welche den Wandel der Gesellschaft und des eigenen Lebens aggressiv verleugnet.

Soziale Vereinzelung und der Wunsch nach Zugehörigkeit

Einen weiteren Aspekt für die potenzielle Anfälligkeit von (älteren) Erwachsenen für reaktionäres Gedankengut stellt soziale Vereinzelung dar. Wie das Deutsche Zentrum für Altersfragen in einer Befragung im Sommer 2020 herausgefunden hat, sind Personen zwischen 46 und 90 Jahren häufiger von Einsamkeit betroffen als jüngere Menschen – eine Tendenz, die durch die aktuelle Corona-Pandemie noch einmal verstärkt wird. Die sozialen Netze älterer Menschen schrumpfen und Beziehungen zu ehemaligen Arbeitskolleg:innen oder Freunden aus Vereinen verlagern sich zunehmend in den virtuellen Raum. Das kann dazu führen, dass gerade ältere Menschen eine höhere Bereitschaft entwickeln, Fake News und anderen Behauptungen Glauben zu schenken, die Bekanntschaften in den Social Media posten.

Die Haltung lässt sich beschreiben als: „Mein Freundeskreis und meine Familienmitglieder würden doch keine Lügen im Internet posten.“
Nadia M. Brashier und Daniel L. Schacter, Psycholog:innen

Facebook- oder Telegramgruppen von Gleichgesinnten bieten einen vermeintlichen Ausweg aus der Einsamkeit und dienen auch dazu, das Gefühl von Bedeutungslosigkeit zu überwinden. Die Gruppenmitglieder erfahren innerhalb dieser sozialen Medien die Möglichkeit zum Austausch und ein Gefühl von „Aufgehobensein“: Ihre Gefühle und ihre Weltsicht werden bestätigt. Obwohl psychische Probleme wie Depressionen oder Angststörungen altersunabhängig auftreten, ist es bei älteren Menschen viel eher mit einem Stigma behaftet, psychotherapeutische Hilfe aufzusuchen. Deshalb können gerade die Formen von Gemeinschaft und gegenseitiger (Selbst-)-Bestätigung in verschwörungsideologischen Gruppen besonders für ältere Erwachsene attraktiv werden. Ihre Ängste vor dem Verlust von eigener Relevanz, vor gesellschaftlichem Wandel oder vor Vereinzelung werden dann nicht in einem sicheren und professionellen Rahmen besprochen, sondern in dubiosen Social-Media-Echokammern aufgegriffen, die das Gefühl von Bedeutung und Zusammenhalt über Verschwörungsideologien vermitteln. Besonders relevant hierfür sind die (kollektiven) Identitätsangebote, die Verschwörungserzählungen anbieten.

Wieder wer sein: gefährliche Identitätsangebote und regressive Rebellion

Verschwörungsgläubige sehen sich gerne als mutige Kämpfer:innen für Wahrheit und Freiheit. In einer (fast) verlorenen Welt, die von einer bösen Verschwörung manipuliert wird, sind sie angeblich die Letzten, die noch für das Gute kämpfen. Die zugrundeliegenden Gefühle der Ohnmacht werden in aggressive Machtfantasien umgewandelt. Aus der Erzählung, man sei unschuldiges Opfer einer übermächtigen Verschwörung, wird eine heldenhafte Rebellion, in der es an den Verschwörungsgläubigen ist, das Schicksalder Welt zum Guten zu wenden. Dadurch wird ein enormes Gefühl der persönlichen Aufwertung vermittelt, das jedoch stets auf Abwertung und Feindbestimmung beruht. Das Bedürfnis nach Geltung, Bedeutung und Gestaltungsfähigkeit wird auch hier wieder trotzig und potenziell aggressiv: „Ich bin wer und will es weiterhin sein“ wird dann zu „Ich wäre eigentlich wer, wenn nicht die böse Verschwörung und die Ignoranz der Mehrheit wäre“.

Die neu erlangte Selbstgewissheit und moralische Erhöhung grenzt sich nämlich stets ab gegenüber den verdorbenen Verschwörer:innen, gegen die gekämpft werden soll, und allen anderen Menschen, die nicht an die Verschwörung glauben und deshalb als Schlafschafe oder Systemlinge belächelt werden. Besonders hier zeigt sich, wie gefährlich Verschwörungsideologien sind, denn sie fragen nicht danach, wie die Welt funktioniert und wie sie besser gestaltet werden könnte, sondern wer Schuld an allem Schlechten hat und nur beseitigt werden müsse, damit alles wieder gut wird.

Die angebliche Übermacht und Bösartigkeit der Verschwörung rechtfertigt dabei eigene Grenzüberschreitungen bis hin zu Gewalt: Denn wenn das Schicksal der Welt auf dem Spiel steht und die vermeintlichen Verschwörer:innen Recht und Gesetze manipulieren, sieht man sich selbst auch dazu berechtigt, illegal zu handeln. Vor allem dieses Szenario einer Notwehr gegen die vermeintliche Verschwörung legitimiert Rechtsbrüche und Gewalt, die nicht selten in antidemokratischen Umsturzfantasien münden.

Denn das Gut-Böse-Schema von Verschwörungsideologien hat nicht nur keinen Platz für pluralistischen Austausch und demokratische Kompromisse im Angesicht unterschiedlicher Interessen, sondern verleumdet diese Prozesse sogar als Teil der Verschwörung, die es zu zerstören gilt. Die politische Praxis von Verschwörungsgläubigen ist deshalb oft eine trotzige Verweigerungshaltung gegenüber den Institutionen der Demokratie und ihrer Kultur sowie der Hass auf jene, die mit den Widersprüchen umgehen müssen, die in Verschwörungsideologien ausgelagert werden. Der Anspruch auf Gestaltungsfähigkeit in der Gesellschaft wird damit vollends destruktiv, die Suche nach Selbstwirksamkeit, Sinn und Gemeinschaft zu einer regressiven Rebellion.

 

„Regressive Rebellen zeigen ein autoritär-plebiszitäres Verständnis von Demokratie und ihren Institutionen mit stark individualistischen Zügen. Von dem (vermeintlichen) Verlust der Freiheitsrechte (insbesondere Meinungsfreiheit) und den relativen Abwertungen der Eigengruppe bestürzt, setzen sie auf Autonomie und Ungehorsam im Umgang mit staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Konventionen.”
Mauritz Heumann und Oliver Nachtwey, Soziologen

Beispiel für verschwörungsideologische Praxis von älteren Erwachsenen: „Der Veteranen-Pool“

Die bisher beschriebenen Eigenheiten von Verschwörungsglauben bei (älteren) Erwachsenen lassen sich am Beispiel der Telegram-Gruppen „Veteranen-Pool“ und „Soldaten & Reservisten“ gut darstellen. Diese aus mehreren Zehntausend ehemaligen Mitgliedern von Bundeswehr und NVA bestehenden Gruppierungen imaginieren sich als schützende Instanz der „Querdenken“-Demonstrationen. Die Veteranen sollen sich dafür in die erste Reihe von Demonstrationen vor die Polizeikräfte stellen. Die Gruppe „Soldaten & Reservisten“ propagiert einen Notstand des deutschen Volkes, weswegen der soldatische Eid zum Widerstand verpflichten würde. Nachrichten an Mitglieder haben dabei oft einen konspirativen Ton: „Aus internen Kreisen ist zu vernehmen, dass auch ihr in eurem Herzen spürt, dass die Maßnahmen rund um die Plandemie (sic!) nicht dem Volke dienen.“ Die Botschaften dabei lauten: „Ihr seid nicht allein“ und „Schließt euch uns an“. Die regressiv-rebellische Praxis dieser Veteranen zeigte sich während der Flutkatastrophe in Ahrweiler im Juli 2021. Zahlreiche Mitglieder des Veteranenpools organisierten die Anreise in das Katastrophengebiet, um dort erste Hilfe vor Ort zu leisten, jedoch nicht ohne dies verschwörungsideologisch aufzuladen. „Kann es sein, daß dort was ganz anderes vertuscht werden soll?“, fragte ein Veteran, während ein anderer überlegte: „Ich denke es könnten Sachen dort gefunden werden, die unsere Regierung nicht zeigen will.“ Ein pensionierter Kommandeur eines Panzergrenadierbataillons hatte einen Stab aus rund 20 ehemaligen Kameraden in einer Schule in Ahrweiler positioniert, um das deutsche Volk zu beschützen. Im Ort erteilte der Mann schriftliche „Befehle zur Hochwasserhilfe“, mitunterzeichnet von „Querdenker“-Frontfigur Bodo Schiffmann. Wenige Wochen zuvor hatte der Reservist auf der Pfingstdemonstration der „Querdenken“-Bewegung in Berlin den Einmarsch des KSK (Kommando Spezialkräfte) gefordert, um in der Hauptstadt „ordentlich aufzuräumen“. Er hatte die Elitegruppe, die durch zahlreiche rechtsextreme Umtriebe in die Schlagzeilen geriet, mitgegründet.

Die Recherche in den Gruppierungen hat neben Hassfantasien und Umsturzplänen auch einen Einblick in die demografische Zusammensetzung der Gruppe ergeben: Der Großteil der Mitglieder ist über 50 Jahre alt und männlich. Vor allem für Männer, die bereits dem Rentenalter nahe sind, kann der Verlust des Arbeitsplatzes ausgesprochen belastend sein, weil alte Selbstbilder und Rollen, wie die des Ernährers der Familie, erodieren. Die pseudorebellische Praxis verschwörungsideologischer Gruppen scheint diese Lücke füllen zu können, da sie das Gefühl der Leere und Nutzlosigkeit nicht nur kompensiert, sondern mit dem Anreiz ersetzt, Teil einer bedeutsamen und schlagkräftigen Bewegung zu sein. Die Demokratie soll dafür nicht gestärkt, sondern unterlaufen oder gleich gestürzt werden, weil man sich selbst in der Rolle sieht, die wahren Bedürfnisse des Volkes eigenmächtig durchzusetzen. Es ist der Einblick in die Lebenswelt von Menschen, die noch einmal jemand sein wollen und in Verschwörungserzählungen eine Ideologie gefunden haben, die ihre regressive und autoritäre Rebellion gegen die Demokratie und ihre Mitmenschen rechtfertigt.

Wenn (ältere) Erwachsene als radikalisierte Verschwörungsideolog:innen mit gefestigtem Weltbild auftreten, sind sie eine ernst zu nehmende Gefahr für die Gesellschaft und kaum noch zu erreichen. Es handelt sich bei ihnen jedoch nach wie vor um eine Minderheit, selbst innerhalb der Menschen mit einer Affinität zu Verschwörungsglauben. Festzuhalten bleibt: Ältere Erwachsene können und wollen die Gesellschaft gestalten. Sie sind in der Regel lebenserfahrene, aktive Bürger:innen, die sich auch freiwillig für ihre Mitmenschen engagieren (40,6 % der über 50-Jährigen mit starken Zuwachsraten bei den über 65-Jährigen). 26 Verschiedene Faktoren wie Gefühle der Ohnmacht und soziale Isolation sowie ein regressiver Umgang mit dem Verlust von Privilegien und gesellschaftlichen Widersprüchen können jedoch dazu führen, dass sich dieser Anspruch auf Gestaltungsfähigkeit in eine trotzig-aggressive Rebellion verwandelt, die besonders anfällig für Verschwörungsideologien ist. Eine zentrale Aufgabe von politischer Bildung ist es, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Fazit: Ältere Erwachsene, Verschwörungsglauben und Demokratie

Politische Bildung klärt über die gefährlichen Orientierungs- und Identitätsversprechen von Verschwörungsideologien auf und unterstützt alle Bürger:innen darin, sich als aktiver Teil der Demokratie zu sehen und sich für sie einzusetzen. (Ältere) Erwachsene beim Thema Verschwörungsideologien ernst zu nehmen, hat deshalb eine Doppelbedeutung: Einmal müssen ihre realen Gefühle des Leids und ihr begrüßenswerter Anspruch auf Mitbestimmung und Gestaltung aufgegriffen und produktive Wege des Umgangs ermöglicht werden.

Andererseits gilt es, klare Stellung gegen die verschwörungsideologische Wendung dieser Gefühle und dieses Anspruchs in regressive Rebellion zu beziehen. Das bedeutet, eindeutige Grenzen zu ziehen, mit wem noch gearbeitet werden kann: Radikalisierte Verschwörungsgläubige mit gefestigtem Weltbild, wie jene aus dem Beispiel des „Veteranen-Pools“, können meist nur noch über langwierige Ausstiegsberatungen oder Arbeit mit ihrem Umfeld erreicht werden. Andererseits verpflichtet sich politische Bildung damit, alle Möglichkeiten zu nutzen, um Aufklärung, Auseinandersetzung und kritischen Dialog zu fördern. Gerade bei (älteren) Erwachsenen gibt es hier jedoch eine Art Lücke, weil wenige Ansätze existieren, die auf ihre spezifischen Ressourcen und Herausforderungen eingehen. Wenn Erwachsene erreicht werden, dann lediglich als Multiplikator:innen, also zum Beispiel als Lehrkräfte, die das Thema mit Kindern und Jugendlichen bearbeiten sollen. Für sie als eigene Zielgruppe gibt es auch innerhalb und vor allem außerhalb der formalen Bildungsinstitutionen wie Schule oder Universität in der Regel kaum Angebote. (Ältere) Erwachsene geraten somit schnell aus dem Blick als Zielgruppe für Demokratiearbeit und zwar sowohl als (latent) Verschwörungsgläubige, die eine ernst zu nehmende Gefahr für sich und andere werden können, als auch als aktive Bürger:innen, die sich für ein demokratisches Miteinander einsetzen und weiter einsetzen wollen. Politische Bildung unterstützt dabei, eine produktive, demokratische Haltung und Kultur zu stärken. Die Arbeit mit (älteren) Erwachsenen ist dafür unerlässlich.

Das Projekt Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung hat deshalb Formate der politischen Bildung entlang der besonderen Problemlagen und Bedarfe von (älteren) Erwachsenen entwickelt. Im Folgenden stellen wir die Vorgehensweise und Ergebnisse dieser Arbeit vor, um mehr politische Bildung mit Format gegen Verschwörungsideologien zu etablieren.

Die Broschüre zum Download:

Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.):

Entschwörung mit Format – Neue Wege der Erwachsenenbildung.

Berlin/Leipzig 2022

PDF zum Download:

 

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