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Neuer dehate-report #4 Konflikte rund um die Energiekrise

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Teil des Titelbild des de:hate report #4: "Desinformationen. Von prorussischen Kampagnen zu Narrativen in der Energiekrise." (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

Insbesondere in Krisenzeiten zielen Desinformationen darauf ab, das gesellschaftliche Klima erheblich zu
beeinflussen. Den öffentlichen Diskurs beherrschende Themen werden oft von starken Emotionen begleitet. Desinformationen können diese Emotionen aufgreifen und an Ängste oder bestehende Weltanschauungen andocken. In Deutschland steht im Herbst/Winter 2022 die Energiekrise im Vordergrund politischer Debatten – und wird deshalb begleitet durch zahlreiche Desinformationsnarrative. Diese sollen gesellschaftliche Konflikte verstärken und die Demokratie destabilisieren. Damit werden Desinformationen zur Energiekrise zu einem strategischen Mittel von Akteur*innen des rechtspopulistischen bis rechtsextremen Spektrums und der sogenannten
verschwörungsoffenen „Querfront”, also dem Zusammenschluss von unterschiedlichen politischen Lagern,
die vor allem seit Pandemiebeginn in Deutschland großen Zulauf erhalten haben.

Die Mobilisierungen zum sogenannten „heißen Herbst“ und „Wutwinter“ waren schon im Sommer zu beobachten. Die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) redete bereits ab August 2022 von einer Protestkampagne, mit der man „Volkes Zorn“ ab Oktober auf den Straßen unterstützen wolle. Ganz bewusst richtete der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla den Protestaufruf auch an Mitglieder der Partei „Die Linke“ – um eine Querfront zu bilden, aber ebenso um bereits bestehende Lager in der Linken weiter zu spalten.

Immer wieder fallen auch linke Parteimitglieder durch die Verbreitung russischer Propaganda auf – etwa
Sarah Wagenknecht oder Diether Dehm – und sorgen für parteiinterne Streitereien und Kritik. Zugleich rufen rechtsextreme AfD-Politiker wie Björn Höcke dazu auf, die sogenannten „Spaziergänge“ zu unterstützen, die sich als Sammelbecken für Rechtsextreme und die sogenannte „Querdenken“-Bewegung in den letzten zwei Jahren etabliert haben, und inszenieren sich dabei bewusst als leitende Spitze bei Demonstrationsaufzügen.

Rechtsextreme setzen auf „Querdenken“

Der Publizist und Herausgeber des rechtsextremen Magazins „Compact“, Jürgen Elsässer, rief auf einer von den rechtsextremen „Freien Sachsenorganisierten Demonstration am 5. September 2022 in Leipzig zum Schulterschluss mit dem am gleichen Tag stattfindenden Protest der Partei „Die Linke“ auf. Der Versuch misslang, doch spricht der Publizist mit seinen Umsturzfantasien bewusst eine Querfront an, die sich seit den Protesten gegen die COVID-19-Maßnahmen verstärkt unter dem Begriff der sogenannten
„Querdenker“ gesammelt hat und maßgeblich von rechtsextremen Akteur*innen dominiert wird. Im Interview mit SPIEGEL TV sagt er, sein Magazin sei ebenfalls für „Querdenker, für die wir in den letzten zwei Jahren ein wichtiges Publikationsorgan waren“. Diese Szene ist nicht nur für Verschwörungserzählungen anschlussfähig und eine Zielgruppe extrem rechter Mobilisierungsversuche, sondern sie steuert auch eine mitunter erfahrene Proteststruktur und -basis bei. Viele Proteste gegen die Energiepolitik der Bundesregierung werden von Akteuren aus dem Umfeld der „Querdenken“-Szene organisiert. Dazu gehören die „Freien Sachsen“ ebenso wie beispielsweise die Organisator*innen der Proteste vom 25. September 2022 mit 3.500 Teilnehmenden im vorpommerischen Lubmin zur Öffnung der Gaspipeline „Nordstream 2”, deren Anmelder „Die Basis“-Parteimitglied ist.

Auch der Verfassungsschutz sieht eine Kontinuität der Proteste rund um die Corona-Maßnahmen und gibt gegenüber dem WDR an, dass „Feindbilder, die sich bereits in der Hochphase der Coronapandemie herausgebildet haben, dabei einerseits übernommen, andererseits auf weitere Ziele übertragen werden [könnten]”.

Diese Entwicklung lässt sich neben den mobilisierenden  Akteur*innen auch in den Narrativen deutlich beobachten, die von Kanälen und Medien der verschwörungsideologischen Szene und Rechtsextremen verbreitet werden. Dazu gehören etwa der österreichische Sender „Auf1“ des Rechtsextremen Stefan Magnet, das Compact-Magazin oder Telegram-Kanäle verschwörungsideologischer und rechtsextremer Akteur*innen.

Desinformationsnarrative zur Energiekrise

Von Russland orchestrierte Desinformationen

Wie Desinformationen die öffentliche Debatte beeinflussen können, zeigte ein verkürzter Videoausschnitt der Außenministerin Annalena Baerbock. In dem Kurzvideo gibt Baerbock an, dass sie wie versprochen zur Ukraine stehen werde, egal was ihre Wähler*innen davon hiel ten. Schnell entstand der Vorwurf des Hochverrats, und Rücktrittsforderungen wurden laut. Es zeigte sich jedoch, dass es sich bei dem Ausschnitt um eine erfolgreiche Propaganda-Kampagne von kremltreuen Akteur*innen handelte. Das Kurzvideo war ein Zusammenschnitt von einem Auftritt der Außenministerin bei einer Podiumsdiskussion
in Prag am 31. August 2022, das aus dem Kontext gerissen und dadurch in seinem Sinngehalt verfremdet wurde. Statt ihrer Beteuerung, dass sie zu ihren Versprechen an die Ukraine stehen werde und es gelte, die Konsequenzen der Sanktionen gegen Russland für deutsche Staatsbürger*innen mit sozialen Maßnahmen abzufangen, bleibt der Eindruck hängen, sie stelle die Ukraine an erste Stelle und die Interessen der deutschen Bevölkerung hintan. Ein Ausschnitt also, der bewusst die tatsächlichen Aussagen der Außenministerin verdreht.

Der erste Zusammenschnitt wurde laut Recherchen des SPIEGELs und des „Desinformation Situation Center“ auf einem Telegram-Kanal veröffentlicht, der zum staatsnahen russischen Medium „Sputnik“ gehört. Erst über die einschlägig bekannte prorussische Seite „Russian American Daily“ und dann von anonymen Accounts ins Deutsche übersetzt und geteilt, wurde das Video von der AfD öffentlichkeitswirksam verbreitet. Alice Weidel gehörte zu den ersten, die das Video auf Facebook in Umlauf brachten – mit über 220.000 Aufrufen. Es folgten weitere Kanäle von den rechtsextremen „Freien Sachsen“, die auf Telegram mit dem Video über 250.000 Views hatten, bis hin zur Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und der Tageszeitung WELT, die dazu auch den ersten deutschsprachigen Artikel mit dem falsch wiedergegebenen Zitat „egal, was die [meine i.O.] deutschen Wähler denken“ bewarb.

Falschinformationen mit akutem Konfliktpotenzial

Desinformationen werden nicht nur von Akteur*innen des rechtsextremen Spektrums verbreitet, sondern finden auch in rechtskonservativen Kreisen Anklang. Der CDU-Parteichef Friedrich Merz sprach in einem Interview zur aktuellen politischen Lage mit der BILD am 26. September 2022, das sich größtenteils um energiepolitische Fragen drehte, auch von einem „Sozialtourismus“ durch flüchtende Ukrainer*innen nach Deutschland. Er sorgte damit für eine Verbreitung von Falschinformationen, die bereits zwei Wochen zuvor im Faktencheck von CORRECTIV als unbelegt gekennzeichnet wurde. Die Quelle damals war eine WhatsApp-Sprachnachricht, die seit dem 8. September das Gerücht verbreitete, Ukrainer*innen würden regelmäßig nach Deutschland pendeln, um die ihnen zustehenden Sozialleistungen abzuholen. Als angebliche Beweise dienten ausgebuchte Flixbus-Fahrten zwischen der Ukraine und Deutschland. Flixbus und deutsche Behörden hatten diese Gerüchte bereits dementiert und erklärt, dass ihnen solche „Pendelfahrten“ nicht bekannt seien.

In Anbetracht der höheren Energiepreise, die besonders Auswirkungen auf arme Bevölkerungsschichten  haben werden, können soziale Konflikte durch die Verbreitung solcher Falschinformationen verschärft werden. Vor allem die verschwörungsideologische und rechtsextreme Szene, die in der Vergangenheit oft Falschinformationen über geflohene Ukrainer*innen und den Angriffskrieg verbreitete, fühlt sich durch die Äußerungen von Merz bestätigt.

Auch russische Medien griffen seinen Vorwurf auf. Der Ausdruck „Sozialtourismus“ geht auf rechtsextreme und rechtspopulistische Narrative zurück und wurde wegen seines diskriminierenden Gehalts bereits 2013 zum Unwort des Jahres gewählt.

Der Umsturz als einziges Mittel gegen die Weltverschwörung

Rechtsextreme sehen in jeder politischen und gesellschaftlichen Krise eine Chance und passen ihre Narrative an die gegenwärtigen Debatten an, um sie dadurch in ihrem Sinne zu prägen. Der Rechtsextreme Martin Sellner spricht beispielsweise in einem Livestream über „Krieg in Europa, Illegale stürmen die Grenzen, die Preise explodieren wegen ausbleibender Energie – und das alles nach zwei Jahren Theater-Pandemie“. Die Frage „Bringt die Straße das System zu Fall?” zeigt, dass auch der Systemsturz ein Thema für Sellner ist.

Nicht selten stehen bei diesen Narrativen weniger die Maßnahmen oder politischen Entscheidungen der Bundesregierung im Vordergrund der Kritik, sondern konkrete Umsturzfantasien. Die Energiekrise wird dabei – genau wie der russische Angriffskrieg oder die Pandemie – als Symptom einer Verschwörung verstanden, die bewusst von einer „Elite“ oder „Globalisten“ organisiert wird, um eine „neue Weltordnung“ zu etablieren. Dazu gehören auch verklausulierte Andeutungen einer „Agenda“, die hinter der Energiekrise stecke, um die Bevölkerung in einen „Energie-Suizid“ zu treiben, wie es das österreichische Medium „Report 24“ schreibt, das zu einem Mediennetzwerk gehört, das durch die Verbreitung von Falschnachrichten im deutschen Wahlkampf 2021 bekannt wurde.

Die Grünen und die „Ökodiktatur“ als Feindbild

Als zentrales Feindbild der gegenwärtigen Energiekrise gilt der Bundeswirtschaftsminister der Grünen, Robert Habeck. Aus dem Umfeld rechtsextremer Akteur*innen wurde unter anderem ein inszeniertes Video veröffentlicht, das Habeck als Gefangenen in einem Lieferwagen zeigt, der zu „16 Wochen Pranger auf dem örtlichen Marktplatz“ verurteilt sei – eine unverhohlene Androhung von Gewalt.

Politiker*innen und Regierungsvertreter*innen der Grünen stehen im Fokus von Falschinformationen. Ihnen wird unter anderem die Errichtung einer „Ökodiktatur“ und eine „Ökoideologie“ unterstellt sowie der Plan, durch eine Energiewende einen „Great Reset“ durchsetzen zu wollen. Der Glaube an einen „Great Reset“ ist unter Rechtsextremen und Verschwörungsideolog*innen weit verbreitet. Ihm zufolge würden „geheime Eliten“ und „Globalisten“ eine neue Weltordnung errichten wollen. Die zugehörigen Nar-
rative werden oft von Antisemitismus begleitet.

Auch der rechtsextreme AfD-Politiker Björn Höcke versucht die Angst vor einer drohenden Diktatur aufzugreifen und zu befeuern. Bei einer Veranstaltung des Bundeskanzlers Olaf Scholz in Neuruppin wurde dieser von lautstarken Protesten begleitet und gefragt, ob er auf Demonstrant*innen schießen lassen würde. Scholz entgegnete, dass niemand in diesem Land vorhabe, „dass auf Demonstranten geschossen wird, und wer solche Schauermärchen verbreitet, ist ein schlimmer Propagandist, wenn ich das ein-
mal ganz deutlich sagen darf“. Höcke stellt dieses Zitat bewusst verkürzt dar, um es mit dem Satz „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ von Walter Ulbricht vergleichen zu können. Der Vergleich ist unpassend und aus dem Zusammenhang gerissen, erfüllt aber den Zweck, die vermeintlichen Anzeichen für die Errichtung einer Diktatur zu erkennen.

Narrative, die im „Heißen Herbst” verwendet werden, um die Demokratie zu destabilisieren:

  • Willkürherrschaft
    Stichwörter: Diktatur, Autokratie, totalitär, Unrechtsstaat, Kriegstreiber, Ökoideologie
  • Fremdgelenkte Regierung
    Stichwörter: New World Order (NWO), Globalisten, Marionetten, Okkupation, Besatzung, Deep
    State/Tiefer Staat, BRD GmbH

  • Die Regierung wird abgewertet
    Stichwörter: Regime, „Die da oben”, Elite, Altparteien, Volksfeinde

  • Feindbild Politiker*innen
    Stichwörter: Olaf Scholz, Robert Habeck, Annalena Baerbock, Nancy Faeser, Karl Lauterbach,
    Michael Kretschmer, Ricarda Lang, Cem Özdemir

  • Umsturz, Revolution
    Stichwörter: Tag X, Tag der Vergeltung, Umsturz, Putsch, Systemwechsel, Tribunal, Macht-
    ergreifung, Regimewechsel, Neuordnung, Bürgerkrieg, Aufstand, Widerstand, Wende

  • Vorwurf der Verbrechen gegen die Menschheit (Verstoß gegen Nürnberger Kodex)
    Stichwörter: Nürnberg 2.0, Gewalteskalation, Angst vor dem bewaffneten Militäreinsatz


  • Verschwörungserzählung des „Großen Austauschs”
    Stichwörter: Ersetzungsmigration, Great Replacement, Bevölkerungsaustausch

  • Demozid, Genozid
    Stichwörter: NWO-Demozid (gemeint sind: vorsätzliche Massentötungen von bestimmten
    Menschengruppen durch eine Regierung, hier die New World Order (NWO)), als abgeschwächte
    Version auch „Kollateralschäden”

  • Asylsuchende nutzen „uns” aus, werden (in der Krise) bevorteilt

Der de:hate report auf Belltower.News:

  • Desinformationen – Begriffe und Unterschiede
  • Exkurs: Eine sozialpsychologische Sicht auf Desinformationen
  • Russische Propagandakampagne: Desinformationen im Krieg
  • Verschwörungsgläubige: Anfällig für Desinformationen
  • Desinformationen auf TikTok
  • „Heißer Herbst“ Konflikte rund um die Energiekrise
  • Umgang der Plattformen mit Desinformationen
  • Handlungsempfehlungen zu Desinformationen auf Social Media

Der Report als PDF zum Download:

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