Ein neuer Forschungsauftrag aus der Politik
Ostdeutschland hat ein größeres Problem mit Neonazis und rassistischen Tendenzen, als die westlichen Länder. Diese Ansicht ist allgemeiner Konsens. Dann kam auch noch die Wirtschaftskrise hinzu, die die Ängste vor sozialem Abstieg und Verlust des Arbeitsplatzes an ?Ausländer? verstärkte. Das Misstrauen in Politik und Demokratie nimmt zu. Das ist jedem mehr oder weniger bekannt.
Doch einer will es noch genauer wissen: Der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wolfgang Tiefensee (SPD) fordert, dass gerade in wirtschaftlich kritischen Zeiten die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus intensiviert werden müsse. Sein Beitrag ist der Auftrag für das Modellprojekt ?Sozialraumanalysen zum Zusammenleben vor Ort?. Dabei werden Einstellungen in der Bevölkerung repräsentativ erfasst. Im Zusammenhang dazu wird der ?unmittelbare Lebensraum? analysiert und welchen Einfluss er auf diese Einstellungen habe. Im Anschluss sollen Wege der praktischen Umsetzung entwickelt werden.
Die bisherigen Ergebnisse wurden in einer Bürgerkonferenz am 08.09.2009 erstmalig der Öffentlichkeit vorgestellt. Tiefensee hatte dazu in das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Berlin geladen.
Das Projekt beginnt in kleinem Rahmen
Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld nahm sich dieser Aufgabe an. Zunächst wurden nur sechs Orte ausgewählt, an denen die Verfahrensweise getestet wird. Auch, wenn Tiefensee den Rechtsextremismus keinesfalls als nur ?typisch ostdeutsches Problem? sieht, liegen die ausgesuchten Orte alle im Osten. Neuhardenberg, Altenburg, Borna, Wernigerode, Anklam und Neubrandenburg wurden gewählt, da von diesen Orten bereits Strukturdaten vorhanden waren und dort jeweils örtliche Institutionen mit Interesse am Projekt vorhanden sind. Alle für die Kontaktaufnahme in den Orten Beauftragten seien ?positiv überrascht über die Offenheit der Bewohner?, freut sich Ralph Gabriel, Mitarbeiter des Zentrums Demokratische Kultur (ZDK).
Telefonbefragungen sollen Klarheit schaffen
Gesammelt wurden die Daten mithilfe von Telefonbefragungen. Die Einstellungen wurden hierbei auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) untersucht. Diese Muster sind es eigentlich, die gemeint sind, wenn von ?Rechtsextremismus? gesprochen wird. Pro Ort wurden um die 500 Personen befragt, damit sei die Studie repräsentativ, erklärt Dierk Borstel, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Bielefeld. Er verweist auf Wahlprognosen, bei denen lediglich um die 1000 Personen aus ganz Deutschland befragt würden und die trotzdem als aussagekräftig gelten.
Die Ergebnisse aus den Befragungen sind das ?Herzstück? des Projekts, so formuliert es das wissenschaftliche Team. Denn darauf basieren alle darauf folgenden Schritte. Umso entscheidender ist die Art der Befragung. Beispielsweise wird viel auf das in den Orten vermutete Potential gesetzt und das allein deshalb, weil stets ein hoher Prozentsatz der Befragten zustimmte, dass sie sich ? eigenes gesellschaftliches Engagement in Zukunft vorstellen könnten?. Dass es sehr leicht ist, aus Scham über die eigene Untätigkeit am Telefon zu versichern, man wolle sich sehr gerne einmal engagieren, irgendwann – das wird scheinbar nicht beachtet. Außerdem kann bei einem hohen gesellschaftlichen Engagement nicht gleich davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um ein demokratisches handelt. Schließlich gibt es auch Nazis, die sich engagieren, eben aber mit anderen Hintergedanken und nur für bestimmte Gruppen.
Der leitende Professor Dr. Wilhelm Heitmeyer sieht das größte Problem in der ?schleichenden Normalitätsgewinn? von rechtsextremen Parteien und Gesinnungen: ?Denn alles, was als ?normal? gilt, kann nicht mehr problematisiert werden.?
Schade war außerdem, dass gerade dieser Teil bei der öffentlichen Präsentation zu kurz kam, wo es doch vom Institut selbst als zentral angesehen wird. Interpretiert wurden die Daten nur teilweise. Es wurde auch zugegeben, dass Frauen und ältere Menschen bei den Befragungen überdurchschnittlich stark vertreten gewesen seien, was die Aussagekraft der Ergebnisse schmälert.
Von der Theorie zur Praxis?
Die Einstellungs- und Lebensraumanalyse ist das erste, das wissenschaftliche Ziel, das das IKG erreichen will. Das zweite ist das ?interventionsnahe Ziel?. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse sollen für jeden einzelnen der untersuchten sozialen Räume spezifische Programme entwickelt werden, die das zivilgesellschaftliche Engagement vor Ort anheizen und dauerhaft etabliert sollen. Das Ziel ist eine reflektierte, demokratische Bürgerschaft.
Dass sich ein Institut mit empirischen Analysen beschäftigt und sich gleichzeitig mit der praktischen Umsetzung auseinandersetzt, gab er vorher so noch nicht.
Zentraler Aspekt ist die ?Übersetzungswerkstatt?. Diese sei so wichtig, da somit der Sprung von empirischen Studien zu tatsächlichen Projekten geschafft werden soll.
Dabei müsse von der Bevölkerung selbst eine Öffentlichkeit für dieses Thema vor Ort entwickelt werden, so Dierk Borstel. Es gehe nicht darum, Orte von außen wissenschaftlich zu begutachten und diese dadurch eventuell zu diffamieren. Es müsse ganz klar spezifisch auf die verschiedenen Gegebenheiten reagiert und mit den Bürgerinnen und Bürgern zusammen etwas Nachhaltiges geschaffen werden.
?und von der Gegenwart in die Zukunft
Die bisherigen Projektergebnisse aus den jeweiligen Orten wurden bei der Bürgerkonferenz ebenfalls der Öffentlichkeit vorgestellt. Problematisch war jedoch, dass sich die Projekte in unterschiedlich weiten Stadien befanden, so dass für die Zuhörerinnen und Zuhörer nicht immer ganz ersichtlich war, warum teilweise Ergebnisse vorgestellt wurden, die auf Arbeit zurückgehen, die vor dem neuen Projekt geleistet wurde.
Es bleibt abzuwarten, welche Erfolge das Projekt in der Langzeitwirkung erzielen kann. Bisher ist es bis Mai 2010 finanziell abgesichert. Um die gewünschten nachhaltigen Effekte zu erhalten, müsste dieser Zeitraum sicherlich aber noch ausgedehnt werden.