Zum Selbstverständnis Westeuropas gehört der Rückgriff aufs christliche Abendland. Bezüge wie das ?C? im Kürzel der Unionsparteien sind aber nur zu halten, solange es noch Leute gibt, die tatsächlich in die Kirche gehen. Kein Weihnachtsgeschäft ohne Weihnachtsgottesdienste. Ähnlich verhalten sich Rechtsextremismus und Neuheidentum zueinander.
Die Rechtsextremen sind latente oder offene Kritiker des aus dem Judentum hervorgegangenen Christentums und beziehen sich, da ihnen der Atheismus zu aufgeklärt ist, auf vorchristlich-germanische Mythen. Das soll aber mehr sein als kulturelle Rückbesinnung. Die germanischen Mythen fungieren als Teil einer konstruierten sinnstiftenden Vergangenheit, und sie eignen sich bestens, die 12 Jahre Hitlerzeit durch 2000 Jahre germanisch-deutscher Geschichte zu relativieren. Um diesen quasireligiösen Vergangenheitsbezug durchzuhalten, muss es jemanden ge-ben, der tatsächlich an die germanischen Götter glaubt. Diese Gläubigen sind die scheinbar unpolitischen Neuheiden und ? in der politischen Variante ? die Neuen Rechten.
Schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren neuheidnische Zirkel wie die 1951 gegründete Artgemeinschaft ? Germanische Glaubensgemeinschaft wesensmäßiger Lebensgestaltung e.V. und die Gesellschaft für biologische Anthropologie, Eugenik und Verhaltensforschung e.V. entstanden. In beiden Organisationen nimmt der mehrfach vorbestrafte Rechtsanwalt Jürgen Rieger eine führende Stellung ein. Rieger bezichtigt das dem Judentum entstammende Christentum der Schuld an der Umweltzerstörung und der Zerstö-rung alter Rangordnungen. Statt christlicher Moral will er eine biologisch begründete Ethik, in der der Stärkere einen höheren Wert hat als der Schwächere. 1974 wurde der Nordische Ring e.V. gegründet, in dem Rieger ebenfalls eine Rolle spielt.
Im Zuge der New Age-Bewegung und der Ökologiebewegung entstanden eine Reihe weiterer neuheidnischer Gruppen, darunter
? der Armanenorden (gegründet 1976, Sitz in Köln),
? die Arbeitsgemeinschaft naturreligiöser Stammesverbände Europas (ANSE), die euro-päische heidnische Gruppen miteinander in Verbindung bringt,
? der Heidenkreis Hamburg e.V.(gegründet 1995, mit Verbindungen zu rechtsextremen Gruppen),
? die Germanische Glaubens-Gemeinschaft und die Heidnische Gemeinschaft, beide in Berlin,
? die Gylfiliten, die Hitler als Halbgott anbeten,
? der Bund der Goten (1990 gegründet).
Michael Kühnen schrieb 1992 in den Staatsbriefen einen Grundsatzartikel über die ?Grundlagen des Heidentums? und machte damit dies etwas rauschebärtige Thema auch unter der rechtsextremen Jugend aktuell. Kühnen will in diesem Artikel ?das Heidentum bewusst als Religion erneuern?. Heide sei derjenige, der sich in seiner Seele und mit seinem Verstand von einem Mythos angesprochen fühlt, die dazugehörigen Riten praktiziert und als ein tiefer denkender Mensch sich außerdem noch einer Ethik der Arterhaltung und Art-entfaltung von Volk, Rasse und Kultur verpflichtet weiß.?
Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre hatten Heidengruppen Konjunktur, insgesamt aber nur begrenzten Zulauf (es mögen wenige hundert Personen beteiligt gewesen sein). Ihre Anziehungskraft bestand darin, dass sich bei ihnen rassistische Motive mit Ökologie mischten, denn die Naturgottheiten standen für ein heiles Verhältnis von Mensch und Natur. Auch Feministinnen, die die Tradition der vom Christentum unterdrückten ?weisen Frauen? (Hexen) hochhielten, stießen zu den Heidengruppen. Die neuheidnischen Gruppen profitierten also von der Ökologie- und der Frauenbewegung, die damals Kon-junktur hatten.
Heute sind die Neuheiden bedeutungslos. Ihre Botschaft lebt aber in der neonazistischen Szene und vor allem in der Musikszene weiter.
Dieser Auszug des Essays „Mythologie und Okkultismus bei den deutschen Rechtsextremen“ ist aus dem Buch Handbuch Rechtsradikalismus, Thomas Grumke und Bernd Wagner (Hrsg.), Leske + Budrich, 2002